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Ratgeber

Wie Nichtstun die Kreativität fördert: Spielt mehr Minesweeper!

Wer prokrastiniert, hat keinen guten Ruf – Effizienz und Produktivität sind angesagt. Dabei brauchen gute Ideen Zeit, nur unter Druck entstehen Diamanten. Oder etwa nicht? Eine Spurensuche.

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(Screenshot: Minesweeper / Microsoft)

Der Mann, der seiner Zeit vielleicht weiter voraus war als jeder vor und nach ihm, hing mit Terminen permanent hinterher. Leonardo da Vinci, der Schöpfer der „Mona Lisa“, Forscher, Gelehrter, Genie, galt zu seinen Lebzeiten als Tagträumer, der sich leicht ablenken ließ und nichts rechtzeitig fertigbekam. Er beschäftigte sich mit immer neuen Projekten, kritzelte herum und hielt darüber praktisch nie eine Vereinbarung ein. Überliefert ist, dass er sein berühmtes Gemälde „Das Abendmahl“ erst fertigstellte, als sein Mäzen drohte, ihm endgültig den Geldhahn abzudrehen – 15 Jahre nach der Deadline.

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Man würde Leonardo heute als Prokrastinierer bezeichnen. Er könnte seine Zeit gemeinsam mit Kreativen, Digitalarbeitern, Freiberuflern und anderen Menschen verplempern, die lieber ausschlafen als aufzustehen, Katzenvideos bingewatchen statt E-Mails zu beantworten oder über neue Ideen quatschen statt an aktuellen Projekten zu arbeiten. Die darüber Aufgaben bis zuletzt vor sich herschieben, um sie dann irgendwann hektisch fertigzustellen, gerade noch rechtzeitig – oder knapp zu spät. Und die sich damit, genau wie Leonardo, bei Kollegen und Auftraggebern unbeliebt machen. Im Renaissance-Atelier wie im Coworking-Space gilt der Müßiggang eher als Makel.

Dabei hat Leonardo bekanntlich trotz intensiver Aufschieberitis Großes vollbracht. Er ist damit nicht alleine: Der ehemalige US-Präsident Bill Clinton wurde vom Time Magazine als „chronischer Prokrastinator“ portraitiert. Der Architekt Frank Lloyd Wright und der Autor Douglas Adams mussten regelrecht zur Arbeit gezwungen werden. Und der Oscar-prämierte Drehbuchautor Aaron Sorkin („The Social Network“) sagte in einem Interview, angesprochen auf seine Angewohnheit, Aufgaben bis zum letzten Drücker aufzuschieben: „Sie nennen es Prokrastinieren, ich nenne es Denken.“

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Ideen müssen reifen wie guter Wein, nur unter Druck entstehen Diamanten und überhaupt: Genies sind eben so. Oder? Ist das vielleicht doch nur die Schönrednerei von Menschen, die ihr Leben nicht im Griff haben? Kann Prokrastination wirklich etwas Gutes haben? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Sie hat mit Langzeitstudenten und Studienberatern zu tun, mit Leid, Psychologie, Heinrich von Kleist und der Frage, was wir eigentlich unter Kreativität verstehen. Und ein bisschen mit Minesweeper.

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Chill Mal

Die bis einschließlich Windows 7 betriebssysteminternen Minispiele waren vor Kurzem Teil eines Experiments an der Universität Wisconsin. Menschen entwickelten dabei neue Geschäftsideen. Eine Gruppe sollte sofort mit der Arbeit loslegen, eine andere spielte fünf Minuten lang Minesweeper oder Solitär. Im Anschluss wurden die Ideen von einer Jury auf ihre Originalität hin bewertet. Die Ideen der Probanden, die erst spielten und dann arbeiteten, wurden als 28 Prozent kreativer wahrgenommen.

„Es stellte sich heraus, dass Prokrastination das Denken in unterschiedliche Richtungen anregte“, folgert Adam Grant, Professor an der renommierten Wharton School der University of Pennsylvania, in seiner Kolumne in der New York Times aus dem Experiment seiner ehemaligen Studentin. Prokrastination sei eine Tugend, schreibt er, wenn es um Kreativität geht. Die Überschrift seines Textes: „Why I taught myself to procrastinate“.

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Also alles geklärt? Naja. Bei dem Experiment spielten die Teilnehmer nur ein paar Minuten, und das war auch noch vorgeschrieben. Kann man das überhaupt Prokrastination nennen?

Julia Haferkamp würde sagen: Nein. Ihr Beruf ist genau das Gegenteil davon, Menschen zum Prokrastinieren zu bewegen. Sie forscht an der Universität Münster zum Thema Prokrastination und arbeitet in der Prokrastinationsambulanz des Fachbereichs Psychologie mit Studenten, die chronisch aufschieben. Sie hilft ihnen, ihr Verhalten zu ändern. Etwa durch Pläne und Strukturen, selbstgesetzte Belohnungen oder Sanktionen, Aufteilen der Arbeit in einzelne Schritte. „Erinnerungen können sehr hilfreich sein, zum Beispiel durch einen Kommilitonen, der anruft und sagt: Jetzt musst du loslegen“, erklärt sie.

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Sie beobachtet in ihrer Arbeit, welche Probleme durch Prokrastination entstehen. „Die Betroffenen bleiben hinter ihren möglichen Leistungen zurück, können Fristen oft nicht einhalten, ziehen dadurch ihr Studium in die Länge oder schaffen es gar nicht.“ Oft noch wichtiger aber ist, dass es den Betroffenen schlecht geht. Sie berichtet von Studenten, bei denen das Aufschiebeverhalten mit psychischen und physischen Belastungen wie zum Beispiel Schlafstörungen, Verdauungsproblemen oder Angstzuständen einhergeht und das Wohlbefinden erheblich einschränkt.

Für Haferkamp ergibt deshalb schon die Frage, ob Prokrasti­nation etwas Gutes haben kann, nur wenig Sinn. „Prokrastination ist eine Störung der Selbstregulation“, sagt sie. „Und sie ist im Grunde per Definition etwas Negatives.“ Was Psychologen als Prokrastination bezeichnen, ist enger definiert als das eher harmlose Aufschieben und Herumtrödeln, das im Alltag oft damit gemeint ist. „Wir grenzen das klar ab“, sagt Haferkamp. „Wir sprechen erst von Prokrastination, wenn durch das Aufschieben Probleme entstehen.“

Cliffhanger für die eigene Arbeit

Das heißt aber im Umkehrschluss: Aufschieben ist kein Problem, solange es keine Probleme gibt. Tatsächlich sagt ­Haferkamp: „Wenn es keine negativen Auswirkungen hat und sich nicht schlecht anfühlt, muss man auch nichts ändern.“ Wie sehr jemand dazu neigt, aufzuschieben, sei sehr individuell. „Bis zu einem gewissen Ausmaß kennen das ja die meisten.“ Bei einer Untersuchung unter Studenten gaben gerade mal 1,5 Prozent an, gar nicht aufzuschieben.

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Klar ist also: Für manche wird Aufschieben zur Qual, für andere ist es unproblematisch. Das beantwortet allerdings noch nicht die Frage: Macht es kreativer?

Ein erstes Indiz dafür, dass es so ist, liefert eine Untersuchung der russischen Psychologin Bljuma Wulfowna Zeigarnik aus dem Jahr 1927. Der nach ihr benannte Zeigarnik-Effekt besagt, dass wir uns besser an unterbrochene, unerledigte Aufgaben erinnern als an abgeschlossene. Quasi durch einen Cliffhanger in der eigenen Arbeit.

Den beschreibt auch Adam Grant in seinem New-York-Times-Text. Er nahm sich vor, seine Arbeit häufiger zu unterbrechen und ließ einen ersten Entwurf wochenlang liegen. „What kind of idiot wrote this garbage?”, fragte er sich, als er sich schließlich wieder an seinen Text setzte, und schrieb große Teile neu. Zu seiner eigenen Überraschung sei der Text dadurch besser geworden.

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Für den Hirnforscher und Psychologen Ernst Pöppel kommt diese Erkenntnis weniger überraschend. „Man muss es in sich denken lassen“, sagt er. „Das geht nicht, wenn man Dinge immer sofort erledigt.“ Pöppel war jahrzehntelang Professor für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und beschäftigt sich in seiner Forschung intensiv mit Kreativität. Prokrastination sieht er nicht ausschließlich negativ.

Denn Dinge zu verschieben, bedeute auch, sich Freiräume zu schaffen. Und die erst führen zu guten Ideen. „Damit man Kreativität wirklich erleben kann, darf man sich nicht zu sehr antreiben“, sagt Pöppel. „Es braucht die Freiheit, auch mal einen Spaziergang zu machen, Gedanken reifen zu lassen.“ Dann komme die Erkenntnis irgendwann plötzlich – unter der Dusche, direkt nach dem Aufwachen, auf dem Fahrrad.

Das, was dabei im Gehirn passiert, nennen Psychologen „­Random Episodic Silent Thinking“ (REST). Man assoziiert, schweift ab, kommt auf neue Ideen. Solche REST-Momente gelten vielen Forschern als wichtiges Element des kreativen Prozesses.

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Pausen, Freiräume, Nachdenken, Nichtstun. Klingt, als habe Drehbuchautor Sorkin doch Recht, wenn er sagt „You call it ­procrastinating, I call it thinking“. Also möglichst viel Nichtstun, um möglichst viel zu schaffen?

Der gute Ruf des Prokrastinierens

Ganz so einfach ist es leider nicht. So sehr geistige Freiräume Kreativität fördern können, so klar ist andererseits: Nur rumsitzen und nachdenken ist nicht genug. „Es gehört ein bisschen zur Romantik des deutschen Geniekultes, zu glauben, man müsse auf den Kuss der Muse warten“, sagt Hans-Werner Rückert, Psychoanalytiker und Leiter der Psychologischen Beratung der FU Berlin.

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Auch Rückert beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Prokrastination. Er unterscheidet zwischen zwei Motiven fürs Aufschieben, dem Vermeiden und der Erregung. Die Vermeider flüchten tatsächlich vor der Aufgabe, die Erreger suchen nach dem Kick: Sie warten absichtlich bis zum Schluss, es geht ihnen um das -Adrenalin, wenn etwas erst kurz vor der Deadline fertig wird. Nur unter Druck entstehen Diamanten, sagen sie.

Das ist häufig das Motiv der Lifestyle-Prokrastinierer. „Es gibt ja durchaus Kreise, in denen es zum guten Ruf beiträgt, wenn man von sich sagt, man prokrastiniert“, sagt Rückert. „Früher gehörte das zum typisch akademischen Habitus, heute kennen wir es aus der digitalen Bohème.“ Die bekanntesten Vertreter dürften Sascha Lobo und Kathrin Passig sein. Sie haben ein ganzes Buch über den Lifestyle of Bad Organisation (LOBO) geschrieben und sich passend dazu die Domain prokrastination.com gesichert. Dieser Lifestyle, sagt Rückert, muss nicht schädlich sein. „Wenn jemand sagt: Ich brauche den Druck, um fertig zu werden, kann das durchaus funktionieren.“

Dass unter diesem Druck dann Diamanten entstehen, stimmt meist nicht. Darauf deutet auch das Minesweeper-Experiment aus Wisconsin hin. Die US-Forscherin teilte noch einer dritten Gruppe die Aufgabe zu, kreative Geschäftsmodelle zu entwickeln. Diese Probanden sollten mit der Arbeit bis kurz vor Abgabe warten – und schnitten mit ihren Ergebnissen schlechter ab.

Bis zuletzt zu warten, passt auch nicht wirklich ins Konzept des Aufschiebens als Denkpause. Denn um über etwas schlafen zu können, müssen wir ja schon etwas gemacht haben. „Auch wenn die entscheidende Inspiration in dem Moment kommt, in dem man aus dem Fenster starrt“, sagt Psychologe Rückert, „ist es doch meistens so, dass man vorher bereits mehrere Entwürfe und viel Energie in eine Sache gesteckt hat.“ Vor der Eingebung steht harte Arbeit, und danach genauso.

Selbst Leonardo malte – wenn er denn arbeitete – wohl geradezu manisch am „Abendmahl“. Mit großer Sorgfalt entwarf er immer neue Skizzen für die einzelnen Apostel, und vom Gemälde selbst konnte er sich manchmal kaum losreißen. Ein Zeitgenosse schreibt: „Eilends stieg er auf das Gerüst, arbeitete fleißig, bis ihn die Schatten des Abends zum Aufhören zwangen, und dachte nie daran, Nahrung zu sich zu nehmen, so sehr war er in seine Arbeit vertieft.“

Kreativität ist Denken plus Arbeit

Es läuft also auf die einfache Formel hinaus: Kreativität ist Denken plus Arbeit. Wie so oft liegt die Schwierigkeit darin, das richtige Maß zu finden – und die Freiräume, die man sich durch Aufschieben schafft, auch wirklich zum Denken zu nutzen. Dafür kommt es darauf an, was in diesen Freiräumen passiert. Mancher erlebt seinen REST-Moment beim Sport oder Spaziergehen, andere beim Bügeln oder wenn der Blick schweift. Fenster im Büro können hilfreich sein, Bilder an der Wand.

Sich ständig willenlos von Facebook ablenken lassen, hilft eher nicht dabei, einen klaren Gedanken zu fassen, da sind sich viele Kreativitäsforscher einig. Sie beklagen Originalitätsverlust, wenn man jede Zwischenzeit mit dem Smartphone füllt. Es mag zwar zur Inspiration auch mal nützlich sein. Aber zur Kontem-plation taugen Katzenvideos, Netflix und Smartphone nur bedingt. Und sie sind laut Forscher Pöppel für ausgeruhtes Nachdenken sogar schädlich. „Multitasking ist die Vernichtung von Kreativität“, sagt er. „Dass Leute sich nicht länger als zehn Minuten konzentrieren können, ist eine Katastrophe.“ Stattdessen empfiehlt Pöppel zum Beispiel, gezielt Phasen der Ruhe zu schaffen. „Wenn wir alle eine Stunde am Tag nicht kommunizieren würden, gäbe es eine regelrechte Kreativitätsexplosion in der Gesellschaft“, so Pöppel.

Außerhalb dieser Stunde aber ist Kommunikation durchaus eine der besten Pausenbeschäftigungen, um mit einem Problem weiterzukommen. Reden hilft beim Denken, das wusste schon der Schriftsteller Heinrich von Kleist. In seinem Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, ursprünglich ein Brief an einen Freund, empfiehlt Kleist, Probleme zu lösen, indem man mit anderen darüber spricht. „Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: Nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen“, schreibt er.

Kleist hätten heutige Coworking-Spaces und moderne Bürostrukturen bestimmt gefallen. Begegnungsinseln, Kaffeeküchen und Bürosofas laden schließlich zum Reden ein – und auch zum Kickern braucht es einen Bekannten, scharfdenkend muss er ja nicht sein. Vielleicht hinge dort ja auch gerade ein moderner ­Leonardo Da Vinci rum. Der hat immer Zeit, über neue Projekte zu quatschen.

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