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AI for Good: Coden für eine bessere Welt

Es formiert sich eine neue Allianz aus Programmierern, finanzstarken Techkonzernen und NGOs. Gemeinsam wollen sie globale Probleme wie Armut, Hunger und den Klimawandel ­lösen. Ganz so einfach ist es im Alltag aber nicht.

Von Marc Winkelmann
12 Min.
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Markus Matiaschek hat mit dem Child Growth Monitor für die Welthungerhilfe eine App fürs Smartphone entwickelt, um Mangelernährung bei Kindern festzustellen. Helfer müssen die Kinder damit nur noch scannen, den Rest übernimmt eine künstliche Intelligenz. (Abbildung: Zeitz / Welthungerhilfe)

Im besten Fall dauert das Prozedere nur zwei Minuten. Einmal rauf auf die Waage, dann mit dem Holzstab die Körpergröße messen und zum Schluss noch ein Bändchen anlegen, um den ­Armumfang abzulesen. Wenn das Kind während der Unter­suchung stillhält, ist man ganz schnell fertig. Doch das klappt so gut wie nie. Kinder bewegen sich, zappeln, laufen herum, vor allem die Jüngeren. Zehn Minuten und mehr sind deshalb die Regel, um die Daten zu erheben. Und dann gibt es noch die Jungen und Mädchen, die gar nicht stillhalten können. „Bei denen hat man keine Chance“, sagt Markus Matiaschek. „Häufig sind das aber die dringendsten Fälle.“

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47 Millionen Kinder leiden an Auszehrung, was ein Zeichen für akute Unterernährung ist, 144 Millionen Kinder bekommen chronisch zu wenig Proteine, Vitamine, Eisen, Jod oder andere ­Nährstoffe. Diese Zahlen hat die Welthungerhilfe vor Kurzem veröffentlicht und gewarnt: Der Kampf gegen den Hunger gehe zu langsam voran. ­Klimawandel, Dürren und Konflikte behindern die Versorgung mit Lebensmitteln – und Covid-19 verschärft das Drama zusätzlich. Seit Monaten ist es fast unmöglich, Kinder zu messen, weil man ihnen dafür nahekommen müsste.

Matiaschek kennt diese Kinder. Der Programmierer, der für die Welthungerhilfe arbeitet, hat sie bei seinen Reisen nach ­Indien getroffen. Mehrfach war er in Dörfern und Slums unterwegs, jetzt sitzt er in Würzburg im Cube, einem lichtdurchfluteten Hub für Gründer, in das er sich eingemietet hat. Der 37-­Jährige trägt ein dunkles Karohemd, Dreitagebart, die Haare hinters Ohr geklemmt, und erklärt, wie er das Problem lösen will: digital, nämlich mit dem Child Growth Monitor.

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Es handelt sich dabei um eine Smartphone-App, mit der Helfer Kinder nur noch scannen müssen, von vorne und von hinten, den Rest erledigt eine künstliche Intelligenz. Sie ermittelt, wie groß und schwer die Kinder sind und welchen Umfang ihr Oberarm hat – und ob diese Werte auf eine gesunde Entwicklung hindeuten. Oder ob Hilfe nötig ist. In wenigen Wochen wird die App bereit sein, sagt Matiaschek. Nach fast drei Jahren Arbeit.

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Zuletzt hatte man nicht oft den Eindruck, dass die Digitalisierung die Gesellschaft positiv beeinflusst. Hate-Speech, rechte Netzwerke, manipulierte Wahlen, Desinformationskampagnen – überall scheint Tech nur das Schlechteste in Menschen hervorzubringen. Oder vor allem dafür genutzt zu werden, das Online­marketing zu optimieren und den Konsum anzuheizen.

Doch immer mehr Programmierer, Wissenschaftler, ­Politiker und Gründer sehen in künstlicher Intelligenz, Blockchain, Big Data und IoT eine Art Gamechanger für globale Probleme. Das ­Weltwirtschaftsforum erklärte, dass die „Technologien der vierten industriellen Revolution“ einen „großen Impact“ auf zehn der 17  Nachhaltigkeitsziele haben könnten; 70 Prozent der 169 Unterziele ließen sich direkt angehen. UN-Hilfswerke wie Unicef oder UNHCR experimentieren mit KI, in Oxford gehen Forscher der Frage nach, wie „AI for Social Good“-­Projekte konzipiert werden sollte, in Deutschland fördert das Bundes­umweltministerium nachhaltige Tech-Gründer – und Konzerne im Silicon Valley mischen ebenfalls mit. Sie haben Programme gestartet, um Non-Profits und ökosoziale ­Startups voranzubringen.

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Der Child Growth Monitor ermittelt, wie groß und schwer ein Kind ist und welchen Umfang sein Oberarm hat – und ob diese Werte auf eine gesunde Entwicklung hindeuten. Oder ob Hilfe nötig ist. Das Entwicklerteam hat rund drei Jahre Arbeit in die App gesteckt. (Abbildung: Zeitz / Welthungerhilfe)

Was aber passiert, wenn sich Coder und Klimaschützer verbünden? Wenn Hilfsorganisationen maschinelles Lernen auf ­humanitäre Probleme übertragen und Aktivisten mit Tech­konzernen gemeinsame Sache machen? Bis vor Kurzem waren das noch getrennte Welten.

Bei der Welthungerhilfe zeichnete sich 2017 ab, dass es allein mit den bisherigen Mitteln – mit dem Holzmaß und der Waage – nicht machbar ist, den Hunger bis 2030 abzuschaffen, wie es sich die ­Vereinten Nationen vorgenommen haben. Die NGO lud deshalb zu einer sogenannten Innovation Factory nach Delhi. Einer der Teilnehmer: Markus Matiaschek, Programmierer seit seiner Kindheit, IT-Entwickler für EU-Behörden und -Ministerien und zu dem Zeitpunkt eigentlich zufrieden mit seinem Beraterjob in Österreich. Aber die Aufgabe – Mangelernährung kann mit ­bloßem Auge nicht erkannt werden – reizte ihn.

Innerhalb eines Tages entwarf er ein grobes Konzept. Die Kinder sollten mit Infrarotsensor und KI vermessen werden, schneller und stressfreier als bisher. Die Idee überzeugte, er gewann 30.000 Euro, danach aber begann die eigentliche Arbeit: Wie gelingt es, die Kinder in ihrer Bewegung zu erfassen, mit nur ­wenigen Millimetern Abweichung? Nach dem ersten Prototyp, den er neben seinem Job programmierte, stellte die Telekom Geld zur Verfügung, von dem ein KI- und App-Entwickler angeheuert werden konnte. Etwas später fingen Helfer in den Dörfern und Slums an, digitale Scans und analoge Vergleichsdaten für das Trainieren des Algorithmus zu sammeln. Noch ein paar ­Monate später kündigte Matiaschek und stieg Vollzeit bei der Welt­hungerhilfe ein. Eine Spende von Microsoft machte es möglich.

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Microsoft, Google und Amazon Web als Entwicklungshelfer

Nicht allein handeln, sondern Partner einbeziehen: „So funktioniert unsere Denke“, sagt Antje Blohm, Fundraiserin bei der ­Bonner ­Organisation und zuständig für Firmenkooperationen. Wenn die Welthungerhilfe Projekte plant und durchführt – 2019 waren es 499 in 36 Ländern –, agiert sie nie allein, sondern arbeitet mit Ministerien, dem Welternährungsprogramm und anderen Hilfsorganisationen. Markus Matiaschek schätzt diese Kooperationen über Organisationsgrenzen hinweg: „In der Wirtschaft wäre das undenkbar.“

Mitunter prallen aber auch Kulturen aufeinander. Ende 2018 drehte Microsoft ein vierminütiges Werbevideo über den Child Growth Monitor, in dem der Konzern gut wegkam, und der es so aussehen ließ, als sei die App – dank Microsofts Technologie – bereits im Einsatz. Viel mehr als eine Spende hatte das Unternehmen bis dahin aber nicht beigesteuert. Von einem fertigen Produkt konnte ebenfalls nicht die Rede sein.

Die Wogen sind inzwischen längst geglättet. Microsoft hat das Engagement ausgebaut, stellt seine Cloud-Plattform Azure für die KI-Entwicklung und demnächst wahrscheinlich auch Mitarbeiter zur Verfügung. Aber Nils Langemann, Gründer der Hamburger IT-Beratung Phat Consulting, der das Projekt unterstützt, sagt auch: „Zu Beginn mussten sich beide Partner erst aufeinander einstellen, weil der Konzern schneller und offensiver vorgeht und die Hilfsorganisation bedächtiger ist.“ Gelingt das, sieht er in der Kombination „großes Potenzial für alle Seiten“. Astrid Aupperle, die das gesellschaftliche Engagement von Microsoft Deutschland leitet, ergänzt: „Natürlich sind wir an einer schnellen Umsetzung interessiert. Zugleich wissen wir, dass solche Projekte Zeit benötigen.“ Stand jetzt sei, dass der Child Growth ­Monitor Teil des Spendenprogramms und kein Business-Case für das Unternehmen ist – an Bedeutung habe er mit der Zeit aber schon gewonnen. „Die Entwicklung wird im obersten Management in den USA verfolgt.“

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Für Programmierer Matiaschek ist die Kooperation eine „Herausforderung“, die er für notwendig hält. „Wir könnten es auch allein machen. Aber durch Microsofts Rechenpower wird der Prozess beschleunigt. Zudem glaube ich, dass wir eine gesamtgesellschaftliche Bewegung brauchen, um Probleme wie Unterernährung zu lösen.“

Laut aktuellen Zahlen der ­Welthungerhilfe leiden 47 Millionen Kinder an Auszehrung, was ein Zeichen für akute Unterernährung ist. 144 Millionen Kinder bekommen chronisch zu wenig Proteine, Vitamine, Eisen, Jod oder andere Nährstoffe. (Abbildung: Zeitz / Welthungerhilfe)

Dass Microsoft sich einbringt, ist Teil eines größeren Plans. Der Konzern will seine CO2-Emissionen seit der Gründung 1975 rückwirkend kompensieren und künftige vermeiden. Die Konkurrenz zieht nach. Intel arbeitet mit Initiativen, die mit künstlicher Intelligenz illegale Wilderer stoppen und Eisberge klassifizieren wollen. Salesforce bietet Cloud-Angebote für Stiftungen, NGOs und Bildungseinrichtungen an. Bei Amazon Web Services können sich sozial motivierte Startups und Organisationen für Förderungen bewerben und Google schüttete in seiner „AI Impact ­Challenge“ 25 Millionen US-Dollar aus.

Fragt man die Unternehmen nach dem Grund für die Kooperationen, hört man vor allem ein Motiv: Sie wollen ihre Technologie „demokratisieren“. Sie soll nicht nur Kunden aus der Privatwirtschaft zur Verfügung stehen. Anna Felländer, Makroökonomin und Gründerin des ­Stockholmer Think- und Do-Tanks AI Sustainability, befürwortet das. KI kreiere ­„Geschäftsmodelle auf Speed“, senke die Kosten, erhöhe die Effizienz, steigere die Umsätze – und könne auch für gemeinnützige Zwecke ein Gewinn sein: 134 der 169 Unterziele der Sustainable Development Goals (SDG) ließen sich schneller durch KI erreichen, ermittelte Felländer mit Forscherkollegen in einer Literaturstudie. Aber da gebe es eben auch die Kehr­seite, sagt sie – weshalb sichergestellt werden muss, dass Firmen für Eingriffe in die Privatsphäre, Diskriminierung, Manipula­tionen und soziale Ausgrenzung verantwortlich gemacht werden können.

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„NGOs können Technologien nutzen, um besser und präziser zu arbeiten. Aber sie müssen kritisch bleiben.“

Im Hinblick auf die SDG befürchtet Felländer zudem, dass Projekte, die von größerem öffentlichem Interesse sind und mehr Umsätze versprechen, eher gefördert werden als weniger lukrative Ziele. Außerdem fand sie heraus, dass bislang vor allem die Probleme angegangen werden, die für KI-Forscher unmittelbar relevant sind – diese aber überwiegend in westlichen, wohl­habenden Ländern leben. Die Nöte von Menschen in Entwicklungsländern hätten sie weniger im Blick. Und zur Kooperation zwischen Wirtschaft und Gemeinwohlsektor sagt sie: „NGOs können Technologien nutzen, um besser und präziser zu arbeiten. Aber sie müssen kritisch bleiben und fragen, wer die Regeln festlegt und profitiert: das Unternehmen, die NGO oder die Person in Not, um die es geht? Es ist eine Frage des gegenseitigen ­Vertrauens.“

Bei Google wollte man vor zwei Jahren mehr darüber erfahren, wie diese Partnerschaften aussehen könnten. Der Konzern rief nicht nur dazu auf, Bewerbungen für einen KI-Accelerator einzureichen, sondern setzte nach der Deadline auch eine KI ­daran, die 2.602 Einreichungen aus 119 Ländern zu analysieren. „Die Quantität und Qualität der Vorschläge hat uns positiv überrascht“, sagt Brigitte Hoyer ­Gosselink, Head of Product Impact bei Google.org, in ihrem ­Homeoffice in Oakland. „Alle 17 SDG wurden abgedeckt.“ Und das nicht nur von Profis. 55 Prozent der Non-­Profits und 40 Prozent der For-Profits erklärten, noch keine ­Erfahrung mit maschinellem Lernen zu haben.

Um die Sieger auszuwählen, prüften die 37-Jährige und ihr Team zunächst die Machbarkeit: Nicht bei allen bot sich KI tatsächlich als Lösung an; bei einigen fehlten die notwendigen Daten­sätze; wieder andere vergaßen, dass ihr digitales Projekt auch in der analogen Welt Wirkung entfalten muss. Dann wurden interne Kollegen und externe Fachleute hinzugezogen, um den Social Impact zu gewährleisten. Unter den 20 Gewinnern sind jetzt die NGO Ärzte ohne Grenzen, die Medizinern in entlegenen Regionen bei der Verschreibung des jeweils richtigen Antibiotikums hilft, und die Initiative Rainforest Connection, die ausrangierte Smartphones zu Wanzen gegen illegale Baumfäller umprogrammiert. Gosselink: „Die besten Ideen kamen von Teams, die sowohl technologisch fit sind als auch sozialökologisches ­Know-how mitbringen. Aber davon gibt es nicht so viele.“

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Die Initiative Rainforest Connection hat im KI-Accelerator von Google überzeugt: Aus alten Smartphones baut sie Wanzen, die sie gegen illegale Baumfäller einsetzt. (Abbildung: Rainforest Connection)

Auch die Welthungerhilfe tut sich mit dieser hybriden Anforderung noch etwas schwer. Die Organisation ist ein fast 60 Jahre alter Tanker, glaubwürdig und hochgradig zuverlässig, aber mit großem Wendekreis. Software-Sprints und iterative Prozesse sind bisher nicht vorgesehen. Dafür öffentliche Vergaberichtlinien. Das mussten die Programmierer schmerzhaft lernen, sagt Fundraiserin Antje Blohm: Statt schnell mal einen Dienstleister zu wählen, den man am besten findet, mussten sie erst mal drei verschiedene Angebote einholen und vergleichen.

„Für uns ist es fast ein No-Go, etwas ­auszuprobieren und festzustellen, dass es nicht klappt.“

Was es ebenfalls nicht gibt: Experimente. Die Spenden und Steuergelder, aus denen sich die Hilfe finanziert – 2019 fast 250 Millionen Euro –, sind kein Risikokapital. Jeder Euro muss ­seine größtmögliche Wirkung entfalten und den Menschen vor Ort zugutekommen, so die Maßgabe. „Für uns ist es fast ein No-Go, etwas auszuprobieren und festzustellen, dass es nicht klappt.“ Deshalb wirbt Antje Blohm bei den Unterstützern dafür, dass sie in diesem Fall anders denken müssen. „Innovation bedeutet, dass man scheitern kann“, sagt sie – aber nicht jeder Spender und jede Institution würde das verstehen. Für die Programmierer bedeutet der vorsichtigere Umgang, dass sie im Vergleich zu großen Techfirmen Abstriche beim Gehalt hinnehmen müssen. „Dafür hat ihre Arbeit sehr viel mehr Impact, sie sind zufriedener im Job und haben die Chance auf spannendere Dienstreisen.“

Für Lynn Kaack kam es nie infrage, ihre Fähigkeiten dafür einzusetzen, Online-Werbung zu optimieren. Die 32-Jährige, die aus der Nähe von Lübeck stammt, an der KI-Hochburg Carnegie Mellon in Pittsburgh promoviert hat und jetzt in Zürich forscht, will vielmehr den Klimawandel bekämpfen und dafür die ­Machine-Learning-Community gewinnen. Deshalb hat sie die ­Organisation Climate Change AI mitgegründet und vor einem Jahr ein 80-seitiges Papier mitgeschrieben, das darlegt, wie 13 ­Branchen und Sektoren durch maschinelles Lernen klimaschonender werden. Unterstützt wurde die Arbeit von KI-­Koryphäe Andrew Ng.

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So groß das Potenzial ist: Für eine „Silver Bullet“, eine Wunder­waffe, hält sie die Methode nicht. „Technologischer Fortschritt ist natürlich wichtig im Klimaschutz, KI ist aber kein Allheilmittel. Viele von uns arbeiten im Policy-Bereich, wir sind uns bewusst, wo wichtige Stellschrauben liegen.“ Und: Noch sei die Verbindung von KI und Klima ein „Nischenthema“, sagt Kaack. Aber eines, das immer mehr Aufmerksamkeit erhalte.

Was, wenn gute Software Böses tut?

Auf KI-Konferenzen hat sie in den letzten Jahren beobachtet, dass das Interesse an den Workshops von Climate Change AI laufend gewachsen ist. Zudem würden Mitarbeiter kritische Fragen stellen. „Dass einige Konzerne, die sich Klimaschutz auf die Fahne schreiben, ihre Technologien auch an fossile Energieversorger für die effizientere Gewinnung von Erdöl und Erdgas verkaufen, wird inzwischen häufig angesprochen.“

Sollte Software für den einen Zweck eingesetzt werden dürfen, für einen anderen aber nicht? Und falls ja: Wie definiert man, wie diese „richtige“ Anwendung aussieht?

Amazon hat eins dieser umstrittenen Programme entwickelt. ­Rekognition, eine automatische Gesichtserkennung, wird von der Initiative Thorn benutzt, um den Handel und sexuellen Missbrauch von Kindern aufzudecken. Die Software erkennt Fotos und Anzeigen im Internet und deckt Muster auf, die Strafverfolger durch manuelle Arbeit nie aufspüren könnten. Andererseits setzen Polizeibehörden Rekognition fürs Profiling von Demonstranten ein, was in den USA massiv kritisiert wurde. Amazon stoppte den Verkauf der Software an die Polizei daraufhin vorerst. „Wir müssen sicherstellen, dass wir mit den Kunden zusammenarbeiten und ihnen helfen, unsere Technologien richtig einzusetzen“, sagt Sri Elaprolu.

Von einem Verbot hält der Manager des „Machine Learning ­Solution Labs“ von Amazon Web Services (AWS) in Washington D. C. nichts. „Bilderkennung kann helfen, Zehn- oder Hundert­tausende Fotos zu identifizieren, und wir stehen dazu, dass sie viele Vorteile für die Gesellschaft bietet. Aber man darf sich nicht blind darauf verlassen. Die letzte Entscheidung muss immer bei Menschen liegen.“ Bevor AWS sozialen Startups oder Non-Profits Unterstützung gewährt, durchlaufen sie laut Sri Elaprolu eine Runde von Gesprächen. „Man muss bei uns kein Experte sein, um maschinelles Lernen zu nutzen. Trotzdem prüfen wir zunächst, wie viel Know-how die Partner mitbringen und wie die Daten­lage ist.“

Elaprolu betont, dass selbst Ein-Personen-Startups Kunden von AWS werden können und alle gleich behandelt würden. Tatsächlich aber sind soziale Gründer und Non-Profits mehr als andere auf die Starthilfe der großen Techfirmen angewiesen. Nur sie sind derzeit in der Lage, ihr „Platform as a Service“-Modell soweit zu „demokratisieren“, dass auch gemeinnützige Programmierer es nutzen können. Alternativen gibt es kaum. Und was passiert, wenn Microsoft, Amazon, Google und Co. die Lust verlieren – weil eine neue Geschäftsführung andere Schwerpunkte legt? Finanziell lukrativ dürften die philanthropischen Aktivitäten bislang kaum sein.

Clive Thompson, New Yorker Autor des Buchs „Coders“ und Wired-­Kolumnist, hält das Engagement nicht für Greenwashing. „Viele Mitarbeiter machen sich ernsthafte Gedanken, zum Beispiel um den Klimawandel, und sie wollen etwas bewegen.“ Aber weil die Unternehmen in der Vergangenheit immer wieder Projekte beendet und Produkte vom Markt genommen haben, dürfe man sich nie zu sicher sein. „Das Risiko, dass die Förderprogramme wieder gestrichen werden, ist immer da.“

„Das Risiko, dass die Förderprogramme wieder ­gestrichen werden, ist immer da.“

Bedenklich findet Thompson auch etwas anderes. Microsoft hat angekündigt, einen „Planetary Computer“ aufzubauen, auf dem Forschungsinstitute, Unternehmen, Startups und Verwaltungen weltweit Umwelt- und Klimadaten zugänglich machen sollen. Eine sinnvolle Idee, einerseits. Je mehr Informationen zentral gebündelt werden, desto mehr Erkenntnisse lassen sich gewinnen. Andererseits: „Wenn ein privatwirtschaftliches Unternehmen Daten, Zugänge und damit Macht darüber hat, wie gesamtgesellschaftliche Probleme gelöst werden sollen, macht mir das Sorgen.“ Eigentlich sei das Aufgabe staatlicher Stellen, aber weder in Europa noch in den USA habe sich die Politik in den letzten Jahren dafür interessiert, das zu organisieren und zu finanzieren.

Wenn es um die Finanzierung seines Projekts geht, ist Markus ­Matiaschek, der Erfinder des Child Growth Monitors, optimistisch. Andere Hilfsorganisationen, Regierungen und Unternehmen interessieren sich bereits für die App – die Welthungerhilfe ist zuversichtlich, dass sie ihre Investionen wieder reinholen kann. Pläne für die Gründung eines Sozialunternehmens gibt es bereits.

Anfangs programmierte Matiaschek alleine, abends und am Wochen­ende. Inzwischen ist sein Team auf 14 Kollegen angewachsen und insgesamt hätten schon mehr als 150 Experten ihr Machine-­Learning-Wissen beigesteuert. In Zukunft sollen es noch mehr werden. „Ich halte es für einen Teil meines Auftrags, die Tech-Szene näher an die Probleme heranzubringen, die wirklich zählen.“ Wenn das gelingt, so glaubt er, „kann Gutes entstehen“.

 

Die Recherche für diesen Artikel wurde durch das Transatlantic Media Fellowship der Heinrich Böll Stiftung, Washington, D.C., ­ermöglicht.

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