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Einblicke in den Alltag erfolgreicher Teams: Alle Macht den Kollegen!

Manche arbeiten ohne Chef, andere ohne festen Arbeitsplatz, wieder andere autark vom restlichen Unternehmen: Die ­Zusammenarbeit in Teams sieht in der Praxis überall ­anders aus – das verdeutlicht eine Spurensuche bei Startups, Mittelständlern und Konzernen. Das eine Erfolgsrezept für die Teamarbeit gibt es nicht. Eine Zutat aber steht bei allen ­Firmen weit oben: Regeln.

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(Grafik: t3n)

Es gibt Wassermelone und alkoholfreies Bier – in Solingen bricht der Freitagnachmittag an. Markus Bonsch, René Mjartan und Lars Schmidt stehen mit Obst und Getränk an der Theke und prosten sich zu. Sie sprechen erst über Wochenendpläne, dann diskutieren sie doch wieder über das gemeinsame Projekt. Zusammen mit sieben Kollegen anderer Standorte tüfteln sie beim Softwareberatungsunternehmen Codecentric an einem neuen Programm für einen Handelskonzern.

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Ihre Zusammenarbeit ist vor allem durch ein in deutschen Firmen noch eher ungewöhnliches Merkmal geprägt: Sie haben keinen Vorgesetzten. „Keiner von uns ist den anderen gegenüber weisungsbefugt“, sagt Mjartan. Abteilungsleiter, die Vorgaben machen, gibt es nicht. Einzige Führungskräfte neben den Vorständen sind die Standortleiter. Und die begreifen sich als Vermittler, nicht als Bosse. Die Devise: Alle Macht liegt beim Team – egal, ob es um das technische Vorgehen oder um die Arbeitszeiten geht. 

„Entsprechend wichtig ist es, dass wir uns untereinander abstimmen“, erklärt Mjartan. Vieles ergebe sich aus den Methoden der agilen Software-Entwicklung: In allen Projekten gibt es einen Product Owner, der in Abstimmung mit dem Kunden Anforderungen formuliert und priorisiert. Ein Scrum-Master bildet die Brücke zu den Entwicklern, die unterschiedliches Fachwissen mitbringen. „Die meisten Aufgaben sind schon klar verteilt“, sagt Bonsch. „Für den Rest braucht es vor allem gesunden Menschenverstand.“ Ein Chef, so ist sich das Entwickler-Trio einig, würde das Team nur ausbremsen.

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(Fotos: Codecentric)

Maximale Flexibilität, minimale Hierarchien: Mit dem Modell ist Codecentric extrem erfolgreich. Ohne dass es eine Vertriebsabteilung gäbe, wachsen Jahr für Jahr die Umsätze, mittlerweile gibt es 15 Standorte in Europa, an denen insgesamt 370 Mitarbeiter arbeiten. Ungewöhnlich niedrig ist die Fluktuation – selbst die Top-Leute widerstehen Abwerbeversuchen. Viele Coder schätzen besonders die „vier plus eins“-Zeit, die im Unternehmen gilt: Für jeweils vier Tage Projektarbeit bekommen Mitarbeiter einen Tag, den sie frei für Weiterbildungszwecke verwenden dürfen. Vorgaben gibt es auch dazu nicht: Konferenzbesuche auf Firmenkosten sind genauso möglich wie das Verfassen eines Textes für das Unternehmensblog oder das Programmieren einer neuen Anwendung.

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Mitarbeiter, Chefs und Personaler von Kundenunternehmen reiben sich regelmäßig verwundert die Augen, wenn sie bei Codecentric zu Gast sind. Ist das Glück der Coder real? Hat das Solinger Unternehmen womöglich so etwas wie eine Formel für das perfekte Team gefunden?

Vom kleinen Startup bis zum großen Konzern: Die Frage, wie Menschen am besten zusammenarbeiten, beschäftigt Unternehmen mehr denn je. Produkte und Dienstleistungen werden komplexer, die Internationalisierung schreitet voran und händeringend werden neue Geschäftsmodelle für das digitale Zeitalter gesucht. Mit Eigenbrötlern ist angesichts der steigenden Anforderungen wenig zu schaffen – erst im Team sind viele Aufgaben zu stemmen. Hinzu kommt: Die meisten Menschen sehnen sich im Beruf nach Gemeinschaft. So sagen Wissensarbeiter in Deutschland mit großer Mehrheit, dass die Zusammenarbeit mit Kollegen wichtig für ihr Wohlbefinden ist. 80 Prozent, so ergab kürzlich eine Studie der Softwarefirma Adobe, sind der Meinung, dass Teamfähigkeit in Zukunft noch wichtiger wird.

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Doch wie gelingt es Unternehmen, schlagfertige Teams zu formen? Reichen luxuriös ausgestattete Büros, gemeinsame Grill­abende und unbegrenzte Freiheiten bei der Wahl von Arbeitszeit und -ort? Keine Chance. Wer einfach nur talentierte Mitarbeiter gemeinsam an ein Projekt setzt, wird lange auf Meister­werke warten. Ob groß oder klein, ob agil oder traditionell: In allen Unternehmen gibt es eine Zutat, die nicht fehlen darf, damit unterschiedliche Charaktere gemeinsam produktiv sind. Es ist ein Regelwerk – so dröge das klingt.

Eine Stippvisite bei Startups, digitalen Mittelständlern und Großkonzernen quer durch die Republik zeigt: In welcher Dosis Regeln das Miteinander bestimmen, ist alles andere als einheitlich. Mal gibt es einen strengen, schriftlichen Verhaltenskatalog, mal unausgesprochene Prinzipien. Mal sind es maximale Freiräume, die Energien freisetzen, mal die Enge einer hierarchischen Organisation. Gemeinsam ist den erfolgreichen Unternehmen: Es findet immer wieder eine Auseinandersetzung mit den Spielregeln statt – und bei Bedarf werden diese neu geschrieben.

Bei Codecentric hat sich seit der Gründung 2005 gleich mehrfach das Organigramm verändert – und damit auch das Regelwerk. Eine Weile gab es Teamleiter mit Personalverantwortung, dann separate Abteilungen für Entwickler und Berater. „Beides hat nicht so recht gepasst, wir haben uns zu sehr mit uns selbst beschäftigt“, sagt Lars Rückemann, der als Standortleiter bei dem Unternehmen arbeitet und seit acht Jahren dabei ist. Jetzt läuft es so: Bei neuen Aufträgen suchen die Standortleiter erfahrene Kollegen, die den Bedarf des Kunden ermitteln. Gemeinsam stellen sie ein Team zusammen – dort sind formal aber alle gleichberechtigt. „Dass sich Teammitglieder gegenseitig blockieren, passiert in der Praxis selten“, so Rückemann. Konflikte drehten sich meist um die Frage, wie eine Software aufgebaut werden soll. Kommt das Team nicht voran, wird ein technischer Experte – etwa der CTO – als Ratgeber hinzugeholt.

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Friede, Freude, Eierkuchen also? Die drei Entwickler aus der Küche müssen schmunzeln. Sie berichten von einem Kollegen, der für das Projekt neu ins Unternehmen geholt worden war – und mit dem bald alle über Kreuz lagen. Der Streit eskalierte, der Standortleiter musste eingreifen. „Es hat menschlich einfach nicht gepasst“, erinnert sich Lars Schmidt. „Glücklicherweise ist das die Ausnahme.“ Um ständige Auseinandersetzungen zu vermeiden, hat das Team sich schon zu Beginn auf bestimmte Prinzipien geeinigt – und diese sogar in einer Art Codex schriftlich fixiert. Darin steht etwa, dass die Entwickler in Zweiergespannen an jedem Codeschnipsel arbeiten. Dass sie Wert auf ordentliche Dokumentationen legen. Und dass sie absolut ehrlich miteinander umgehen wollen. „Jedes Team stellt für sich in irgendeiner Form Regeln auf“, sagt René Mjartan. Es klingt nach einer Selbstverständlichkeit.

Sicherheit killt Konflikte – aber auch die Kreativität

Ein Blick in die hierarchische Konzernwelt verdeutlicht allerdings schnell, dass es das nicht überall ist. Regeln entstehen dort nicht an der Basis, sondern weit oben in der Entscheidungspyramide. Für die Zusammenarbeit bedeutet das: „Es herrscht eine Erwartungssicherheit“, sagt Stefan Kühl, Soziologe an der Universität Bielefeld. „Mitarbeiter müssen ihre Position nicht ständig neu aushandeln.“ Ob es um die Arbeitszeiten oder um die Aufgabenverteilung geht – die Rahmenbedingungen, in denen sich Teams bewegen, sind klar vorgegeben. Nach Meinung des Organisationsberaters hat das einen großen Vorteil: Konflikte drohen nicht das ganze Unternehmen lahmzulegen. „Jedes Problem kann im Prinzip mit einem Verweis auf die Zuständigkeit einer Abteilung oder einer Delegation zum nächsthöheren Chef gelöst werden.“

Für Oliver Eske war das lange gelebte Praxis. Der „Leiter Workplace and Infrastructure“ hatte stets sein festes Büro und festes Team in der Konzernzentrale von Axa in Deutschland. In Köln belegt die Versicherung einen eigenen Campus mit elf Gebäuden und drei Bushaltestellen. 5.000 Menschen arbeiten alleine dort, Gäste müssen sich mit ihrem Personalausweis anmelden, um durch die Eingangskontrolle zu kommen. Dahinter: Wegweiser, Kantine, Cafeteria und viele Anzugträger, die sich an diesem Sommermittag gegenseitig „Mahlzeit“ wünschen.

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Im ersten Stock des Eingangsgebäudes tut sich jedoch etwas. Dort hat Eske mit seinem Team vor einigen Monaten eine Art internes Labor bezogen, dass deutlich mehr nach Codecentric aussieht als nach Konzernwelt: Es gibt keine festen Arbeitsplätze, stattdessen offene Schreibtische, dazu Besprechungsräume mit und ohne Videokonferenzsystem. Klar vermisse er manchmal, die Tür hinter sich zuziehen zu können, räumt Führungskraft Eske ein. Aber: „Ich brauche viel weniger Besprechungen, die Kommunikation im Team ist eine ganz andere geworden – man wird echt schneller.“

(Fotos: Axa)

Seine Abteilung testet, was bis 2019 an allen 16 deutschen Standorten der Axa Realität werden soll. „New Way of Work“ (NWow) heißt das Programm, das der Konzern im Juli offiziell gestartet hat. Das Ziel: Die Zusammenarbeit in den Teams so zu verändern, dass man agiler wird. Der Anlass: Durch die Digitalisierung gerät das tradierte Geschäftsmodell unter Druck, junge Angreifer versuchen sich Marktanteile am lukrativen Versicherungsmarkt zu sichern. „Damit wir dieses Tempo mitgehen können, brauchen wir schnellere Abstimmungen und schnellere Entscheidungen“, sagt Jutta Solga, Leiterin Organisationsentwicklung und mit Eske Teil des NWow-Projektteams.

Nicht ohne Neid blicken die Axa-Lenker auf die wendigen Startups. Dort werden Entscheidungen in Teams einfach auf Zuruf getroffen – und die Mitarbeiter identifizieren sich ungewöhnlich stark mit dem Unternehmen. In der eigenen Konzernwelt scheinen Hierarchie und Bürokratie den Raum für Kreativität einzuschränken: Alleine motiviert von materiellen Dingen wie Geld und Dienstwagen leisten Mitarbeiter häufig buchstäblich Dienst nach Vorschrift.

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Noch spürt auch Eske, wie tief alte Traditionen verwurzelt sind: Als die neuen Arbeitsflächen vorgestellt wurden, kamen etwa Fragen auf, wo man den Motorradhelm oder die Winterschuhe abstellen kann. „Auf einer konzeptionellen Ebene ist das völlig egal, für die Menschen im Büro ist das total wichtig – und da müssen wir Antworten liefern“, sagt Eske. Noch immer kommen einige Kollegen aus seinem Team früh und belegen jeden Morgen denselben Arbeitsplatz im Büro. Auf der anderen Seite sieht er, wie auch ältere Kollegen die neuen Freiheiten entdecken. Wie selbstverständlich ziehen sich manche mit anderen Teammitgliedern und ihren Laptops nun in einen der bunt gestalteten „Bubbles“ – so hat die Axa die Konferenzräume getauft – zurück, um an ihren Projekten zu arbeiten.

Den Strategen im Konzern ist klar: Es wird Zeit brauchen, bis die 11.000 Mitarbeiter in Deutschland ihre Arbeitsweisen geändert haben. Die Versicherung setzt deswegen nicht allein auf den mühsamen Wandel in der bestehenden Organisation, sondern hat kurzerhand auch eine neue Einheit gegründet, die frei von alten Zwängen ist: In einem ehemaligen Industriegebiet vier Kilometer von der Hauptverwaltung entfernt liegt das „TRX“-Büro – die Abkürzung steht für „Transactional Business“. Zwischen einem Fotostudio und einer Digitalagentur proben dort zehn Axa-Mitarbeiter Teamarbeit in schönster Startup-Atmosphäre: Betonwände und Glasscheiben sind mit bunten Post-its beklebt, in den Besprechungsräumen stehen farbenfrohe Ikea-Möbel und rustikale Holztische.

Auf der zentralen Arbeitsfläche stecken gerade drei Kollegen die Köpfe an einem Rechner zusammen – eine neue Benutzeroberfläche für eine der Apps, die das „TRX“-Team entwickelt hat, wird gerade getestet. „Wir brauchen ein ganz anderes Mindset“, sagt Albert Dahmen, der das Team leitet. Mit den neuen Kollegen ging er zu Beginn des Projekts auf die Straße, um dort Interviews zu führen. „Wir lernen, wieder vieles aus Kundensicht zu betrachten und auch ungefilterte Meinungen zu hören.“ Die meisten seiner Mitarbeiter stammen aus der Axa-Welt und bringen bis zu 30 Jahre Konzernzugehörigkeit mit. Vorher dachten und arbeiteten sie in klar abgegrenzten Bereichen. Einer war für Krankenversicherungen zuständig, der nächste für Autoversicherungen, der übernächste im Personalmanagement tätig. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit im kleinen Team ist auch für Dahmen ungewohnt: Vorher war er Chef von 200 Mitarbeitern in der Unternehmens-IT, hatte ein Einzelbüro und eine Sekretärin.

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Das Miteinander muss gelernt sein

In der neuen Einheit gelten die Hierarchien aus dem Konzern wenig. „Das Miteinander steht viel stärker im Mittelpunkt“, sagt Dahmen. Wenn sich das Team vom roten Ikea-Sofa aus zu konzernweiten Videokonferenzen dazuschaltet, provoziert das neugierige Nachfragen – und weckt Interesse. Mehr als 300 Kollegen aus der Zentrale, schätzt Dahmen, schauten bereits für kürzere oder längere Besuche vorbei. Das „TRX“-Büro soll auch als neue Führungsakademie etabliert werden: Wer sich dort im kleinen Team bewährt, soll später auch den Wandel im Konzern vorantreiben. Künftig sollen im ganzen Unternehmen die neuen Prinzipien der Zusammenarbeit Flexibilität und Eigenverantwortung fördern – auch wenn die Regeln aus Sicht der meisten Mitarbeiter weiterhin von oben diktiert werden.

Startups ist die Axa zumindest in einer Hinsicht voraus: Es findet eine bewusste Auseinandersetzung mit Regeln statt. Dieser Schritt bleibt in jungen Unternehmen mitunter einfach aus, hat Nicola Breugst beobachtet. Die Psychologin ist Professorin für Entrepreneurial Behavior an der Technischen Universität München. Für mehrere Studien hat sie Gründerteams und Teambesprechungen in Startups beobachtet und ausgewertet. Eine Erkenntnis: Über verbindliche Vorgaben machten sich Gründer in den seltensten Fällen intensive Gedanken, sagt Breugst: „Man startet mit der rosaroten Brille und denkt nicht daran, ein Regelwerk aufzustellen.“

Für die ersten Wochen und Monate ist das meist kein Problem. Die Forscher stellten fest, dass in jungen Teams Entscheidungen viel eher über Empathie als über Dominanz durchgesetzt wurden – die Teammitglieder hörten ihren Kollegen intensiv zu, warben dann um Verständnis für ihre Idee und legten sich so fest. „Es war gewissermaßen das sozial erwünschte Verhalten zu beobachten“, sagt Breugst. „Im Startup-Kontext setzten viele auf ein fast familiäres Miteinander.“ Eher beiläufig kristallisierten sich dann im Laufe der Zeit bei einigen Teams bestimmte Regeln heraus – oft mit einem spielerischen Ansatz. Wer zu oft zu spät kommt, bringt ein Sixpack Bier mit ins Büro, wer seine Wochenziele verfehlt, backt einen Kuchen. Umgekehrt macht das Team gemeinsam einen drauf, wenn die Zahlen stimmen.

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Immer wieder aber bleiben in dieser Phase die vermeintlich unangenehmen Gespräche auf der Strecke. Was macht man, wenn einer wirklich immer zu spät kommt? Wer aus dem Team hat welchen Anteil, wenn Meilensteine erreicht werden? „Es ist eine riesige Herausforderung, sich durch diese Fragen zu navigieren“, sagt Breugst, „und noch viel schwieriger, die Konsequenzen dann tatsächlich durchzusetzen.“ Ohne Regeln, so hat die Wissenschaftlerin beobachtet, droht schnell die Eskalation: „Wenn man sich wirklich nicht mehr versteht, dann backt auch keiner mehr einen Kuchen.“

So widersprüchlich es klingt: Zu viel Nähe kann dem Start in die perfekte Zusammenarbeit schaden. „Nur weil man miteinander befreundet ist, arbeitet man nicht automatisch gut als Gründer zusammen“, so Breugst. Wenn sich dagegen Menschen für eine Gründung zusammenfinden, die vorher wenig Berührungspunkte hatten, wird vieles – bewusst oder unbewusst – direkt am Anfang verhandelt. „Fremde nehmen sich mehr Zeit, sich kennenzulernen, und bauen dabei schon ein Regelwerk für die Zusammenarbeit auf“, sagt Breugst. Dieses frühe Feilen an einer gemeinsamen Verbindlichkeit kann dabei helfen, spätere Konflikte zu vermeiden.

(Fotos: Adjust)

Vertrauen auf den Nächsten

Der Glaube an eine gute Idee und eine 160 Quadratmeter große Altbauwohnung in Pankow: Mit diesen Rahmenbedingen starteten vor fünf Jahren das Gründerteam um Christian Henschel, Paul Müller und Manuel Kniep. Kennengelernt hatte sich das Trio über vorherige Jobs, gemeinsam wollten sie Müllers Idee zum Erfolg führen – eine Software, mit der sich Nutzerbewegungen in einer App verfolgen lassen. „Wir haben permanent aufeinandergehangen und quasi alle Entscheidungen zu dritt getroffen“, erinnert sich Henschel an die Anfänge von Adjust zurück. Inzwischen arbeiten 160 Mitarbeiter bei dem Tech-Unternehmen, neben dem Berliner Hauptquartier gibt es nun zwölf Standorte im Ausland. Aus der Wohnung in Pankow sind inzwischen zwei Etagen der „Backfabrik“ in Prenzlauer Berg geworden. Adjust hat auf einer Etage der einstigen Großbäckerei ein von Besprechungsboxen gesäumtes Großraumbüro, die Etage drüber wird gerade eingerichtet – der Fitnessraum ist schon in Betrieb.

Die Zusammenarbeit im Gründerteam habe sich stark ver­ändert, sagt Henschel. „Wir können nicht mehr jeden Schritt miteinander absprechen, sondern vertrauen darauf, dass jeder in seinem Bereich das Richtige tut.“ Die Aufgabenverteilung ergibt sich aus den unterschiedlichen Fähigkeiten der Drei: Henschel ist der Mann für Vertrieb und Marketing, Müller und Kniep führen die technische Entwicklung an. „Gründerteams haben Parallelen zu einer Band“, meint Henschel. „Man nutzt unterschiedliche ­Instrumente, hat aber ein gemeinsames Verständnis davon, wie es im Zusammenspiel klingen soll.“ Das Trio begreift sich selbst als Gegenmodell zu zusammengecasteten Teams mancher Startup­-Schmieden. Nicht die Backstreet Boys, sondern die Rolling Stones sind ihr Vorbild. „Uns hat immer das Mantra geeint, langfristig etwas Großes aufzubauen – und keinen schnellen Exit anzustreben.“ Tatsächlich geht es bei Adjust schnell und steil bergauf. Noch bis Jahresende sollen weitere 30 Mitarbeiter hinzukommen.

Die Zusammenarbeit auf Zuruf funktioniert ab einer gewissen Größe nicht mehr, mahnt Organisationsberater Kühl. „Schon bei dem Versuch, alle Mitarbeiter über alles informiert zu halten, drohen Face-to-Face-Organisationen an Komplexität zu ersticken.“ Gründer müssen plötzlich von Büro zu Büro ziehen – und sehen sich dort Menschen gegenüber, deren Namen sie nicht kennen. Gibt es weder mittlere Manager noch verbindliche Regeln, werden Entscheidungen der Unternehmenslenker ständig in Frage gestellt. Solange die Geschäftsentwicklung nach oben zeigt, ist das vor allem nervig. Doch in Krisensituationen – wie dem Ausbleiben von Investorengeldern – drohen Grabenkämpfe. „Jeder mischt sich ein, jeder setzt sein Fachwissen und sein Netzwerk als Trumpf in einem nerven- und zeitraubenden Machtspiel ein“, sagt Kühl.

Die Frage, welche Strukturen für die Zusammenarbeit im Unternehmen am förderlichsten sind, treibt auch die Adjust-Gründer stark um. „Ein Unternehmen mit 160 Leuten funktioniert komplett anders als eines mit 20“, sagt Henschel. Das Trio setzt zwar noch immer darauf, den Mitarbeitern wenig Vorgaben zu machen – schriftliche Richtlinien etwa zu Geschäftsreisen, Urlauben oder Betriebsausgaben existieren nicht oder erst seit Kurzem. Auch die Tradition, alle Mitarbeiter einmal jährlich zu einer gemeinsamen Reise einzuladen, halten Henschel und seine Mitstreiter aufrecht. Deutlich verändert hat sich aber die Organisationsstruktur: In Berlin gibt es nun ein achtköpfiges Managementteam mit Abteilungen wie Finanzen, Vertrieb oder Tech. Je nach Größe beherbergen sie mehrere Unterteams. Hinzu kommen Regionsverantwortliche an den zwölf Standorten im Ausland. „Die Teams sollen sich als eigene Mini-Startups begreifen“, sagt Henschel.

Doch wie gestaltet sich Zusammenarbeit innerhalb dieser Einheiten konkret? Lisa Clément sitzt mit ihrem Macbook an einem Vierer-Schreibtisch auf der rechten Seite des Großraumbüros. Die Key-Account-Managerin sagt, sie könne ihre Zeit frei einteilen. „Ich bin sehr viel eigenständiger als in meinen vorherigen Jobs bei großen Unternehmen.“ Für 25 Kunden ist Clément zuständig, ähnlich wie ihre Sitznachbarn. Gesprochen wird an dem Vierertisch erstaunlich wenig – und doch gibt es einen permanenten Austausch im insgesamt zwölfköpfigen Vertriebsteam für Europa. „Wir bleiben über Slack in Kontakt, so sind auch die Kollegen anderer Standorte einbezogen“, erklärt die Französin. In zehn Kanälen des Messengers ist sie vertreten, darin geht es oft um technische Details zu den Produkten. „Hier kann niemand alleine vor sich hinarbeiten. Als Nichtinformatiker stößt man schnell auf Fragen, bei denen man nicht weiterweiß.“ Gibt es bei den Vertrieb­lern keine Antworten, sucht Clément – ob per Messenger oder persönlich – den Kontakt zur linken Seite des Großraumbüros. Dort sitzen die Entwickler.

Wie sich das Zusammenspiel der Abteilungen verbessern lässt, ist eine Frage, der Louie Moore nachgeht. Die Britin startete bei Adjust als Key-Account-Managerin, jetzt ist sie offiziell Senior Product Specialist im Tech-Team. Ihr aktuelles Projekt: Sie koordiniert im Unternehmen drei „Feature-Gruppen“, die sich jeweils aus Kollegen der unterschiedlichen Abteilungen zusammensetzen. Diese treffen sich seit ein paar Monaten jeden Tag für 15 Minuten und diskutieren über die Weiterentwicklung des Produkts. Ausgangspunkt für Moores Initiative war die Beobachtung, dass Entwickler mitunter Funktionen eingebaut hatten, die von Kunden gar nicht nachgefragt worden waren. „Umgekehrt haben Key-Account-Manager zwar von Kunden erfahren, welche Features diese wünschten – das kam aber bei den Entwicklern nicht an“, erklärt Moore. „Es drohten, sich klassische Abteilungssilos zu bilden.“ Den Wissensaustausch treibt sie nun auch digital voran: Sie erstellt Online-Trainings, die sich vor allem an neue Mitarbeiter richten.

Google-Hangout versus gemeinsames Abhängen

Wissensdatenbanken, Messenger, Videokonferenzen: Technische Helfer erhalten in Unternehmen aller Größe Einzug. Sie erleichtern die Zusammenarbeit über Standort- und Landesgrenzen. Mit den neuen Möglichkeiten sind viele Teams aber oft erst einmal überfordert, hat Alexandra Altmann beobachtet: „Die Firmen haben die Tools, aber viele Mitarbeiter wissen noch gar nicht, wie man damit sinnvoll umgeht.“ Die langjährige Accenture-Beraterin hat sich mit ihrer Agentur Virtuu darauf spezialisiert, Unternehmen zu unterstützen, in denen virtuelle Teams zusammenarbeiten.

(Foto: Alexandra Altmann)

Ihr eigenes Unternehmen arbeitet genauso: Die zehn Kollegen – einige davon freiberuflich – organisieren sich überwiegend online. Sie haben sich dafür klare Spielregeln gegeben. So sind bei den regelmäßigen Skype-Konferenzen immer alle Kameras angeschaltet. „Wenn wir eine normale Gesprächsatmosphäre haben wollen, gehört das Visuelle einfach dazu“, sagt Altmann. Für den wöchentlichen Jour Fixe tragen zudem alle Mitarbeiter ihre Gedanken in ein virtuelles Notizbuch ein – so soll vermieden werden, dass nur der Zuständige einen Monolog herunterbetet. Abseits der verabredeten Meetings setzt Altmanns Team auf den schriftlichen Austausch. Wie auch bei Adjust läuft ein Groß­teil der alltäglichen Kommunikation in Slack-Channels ab.
„In ­dringenden Fällen rufen wir uns auch einmal an“, sagt ­Altmann.

Das funktioniert gut – weil alle Mitarbeiter gemeinsam an den Spielregeln arbeiten. Raum für Veränderungen ist in der Virtualität reichlich: Vor Kurzem erst hat eine Kollegin das Virtuu-Team von Onenote überzeugt. Jeder könne seine Vorlieben einbringen, dann einige man sich gemeinsam auf ein passendes Tool für eine Aufgabe. „Die Freiheit ist dadurch gegeben, dass man unabhängig vom Ort arbeiten kann“, sagt Altmann, „aber wenn das im Chaos endet, weil es keinerlei Strukturen gibt, dann ist keinem geholfen.“

Trotz all der digitalen Präsenz, trotz angeschalteter Webcam: Altmann, die seit 30 Jahren zum Thema Change-Management berät, kennt sehr wohl die Grenzen des virtuellen Teams. „Zahlen und Fakten durchsprechen – das geht super online. Aber für wichtige Strategie-Sessions treffen wir uns auch gerne persönlich.“ Bei Virtuu laufen sich die Kollegen zudem immer wieder bei Kundenterminen oder Marketingveranstaltungen über den Weg. Beziehungen pflegen geht immer noch am besten, wenn man die Tasse Kaffee des Kollegen nicht nur auf dem Monitor sieht, sondern auch den Geruch in der Nase hat.

Andere Größe, gleiche Spielregeln: Auch bei Codecentric legt man Wert auf die richtige Mischung zwischen Google-Hangout und gemeinsamem Abhängen. Remote-Work ist im Alltag weitverbreitet: Ein Teil der Berater muss oft direkt vor Ort beim Kunden sitzen, und nicht für jede Technologie oder Programmiersprache gibt es an jedem der zwölf Standorte eigene Experten. Alle Meeting-Räume sind deswegen mit einem großen Flachbildschirm, einer Kamera und einer Telefonspinne ausgestattet. Davon Gebrauch machen auch die Entwickler Mjartan, Bonsch und Schmidt regelmäßig: Zwei ihrer Kollegen sitzen in München, fünf in Düsseldorf. „Technisch funktioniert die Zusammenarbeit einwandfrei“, sagt Mjartan. „Oft heißt es aber trotzdem ‚wir hier’ und ‚die dort’.“

Die Standortleiter ermuntern die Coder deswegen, sich regelmäßig auch persönlich zu treffen. Einen Antrag schreiben muss dafür niemand – das Budget für Geschäftsreisen ist nicht limitiert. Wer will, kann mit seinen Kollegen auch nach Mallorca düsen: Codecentric hat dort dauerhaft eine Finca angemietet. Die Flüge, argumentiert Rückemann, seien oft günstiger als eine ICE-Fahrt innerhalb Deutschlands. Und das Arbeiten unter der spanischen Sonne kann das Teamgefühl nur fördern.

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