Anzeige
Anzeige
UX & Design
Artikel merken

Kopien verändern die Welt: Die Befreiung der Information

Die rasante Entwicklung der Computertechnik in den vergangenen Jahrzehnten, vor allem aber die Einführung des Internets wird Veränderungen in der Gesellschaft bewirken, die vermutlich nur mit den Auswirkungen des Buchdrucks vor fünfhundert Jahren zu vergleichen sein werden. Manche dürften überraschend sein, wie sich schon jetzt an vielen Projekten, Subkulturen und Bewegungen ablesen lässt, die das Netz in der verhältnismäßig kurzen Zeit seines Bestehens hervorgebracht hat.

8 Min. Lesezeit
Anzeige
Anzeige

Freie Software und Open Source, die Online-Enzyklopädie Wikipedia, Peer-to-peer-Netzwerke und Internet-Tauschbörsen oder die Ansätze zum „Bürgerjournalismus“ in der Blogger-Szene: All die Phänomene haben Gemeinsamkeiten. Es scheint, als sei in ihnen gewissermaßen dieselbe Handschrift zu erkennen, die letztlich auf die schnelle Entwicklung der Computertechnik zurückgehen. Drei Faktoren lassen sich dabei ausmachen.

Erster Faktor: Das kinderleichte Kopieren

Anzeige
Anzeige

In der digitalen Welt ist es extrem einfach geworden, Information zu kopieren und zu vertreiben. Es geschieht ständig während des normalen Betriebs eines Computers, es ist geradezu seine Grundoperation: Um ein Programm auszuführen, muss es von der Festplatte in den Arbeitsspeicher kopiert werden. Um ein Musikstück anzuhören, müssen die Bits von der CD ebenfalls in den Arbeitsspeicher und von dort in die Soundkarte kopiert werden. Zur Einfachheit des Kopierens tritt die Tatsache, dass es für Daten, gleich welcher Art, inzwischen ein planetares Informationsnetz gibt, dessen Kosten gesamtgesellschaftlich amortisiert und nicht auf die einzelnen Datentransfers umgelegt werden. In der Folge ist eine Situation entstanden, die es historisch so noch nie gegeben hat: Eine Situation, in der prinzipiell jede Information jedem Erdenbürger augenblicklich zur Verfügung stehen kann, ohne dass direkte Kosten entstehen. So neu und ohne Beispiel die Situation auch sein mag, gehen die Menschen doch äußerst gelassen und selbstverständlich mit ihr um. Da praktisch keine Kosten damit verbunden sind, gehört es heute zum guten Ton, einander an den Bits, über die man verfügt, teilhaben zu lassen. Wer die Bitte „Machst du mir mal eine Kopie davon?“ mit dem Hinweis auf die Rechtslage ablehnt, dürfte wenigstens für ziemlich wunderlich gehalten werden. Den Zugriff auf eine Ressource zu verweigern, mit dem keine erkennbaren Kosten verbunden sind, scheint sehr grundlegenden menschlichen Instinkten zu widersprechen.

Die Industrie hat das durchaus erkannt und versucht nach Kräften, die Menschen umzuerziehen. In Kinospots werden unbescholtene Familienväter in Handschellen abgeführt, um die Ansicht „Raubkopierer sind Verbrecher“ durchzusetzen. „Gedankendiebe“ war das Thema eines bizarren Filmwettbewerbs, zu dem die Firma Microsoft Teenager in Großbritannien einlud. Ob es den Konzernen gelingen wird, sich auf diese Weise neue Menschen, das heißt gefügige Kunden zu schaffen, ist allerdings fraglich.

Anzeige
Anzeige

Dabei sind mit den Bits durchaus Kosten verbunden, nämlich die ihrer Erschaffung durch Künstler, Programmierer, Journalisten, Wissenschaftler und so weiter. Da die Herstellung und das Aneignen einer Kopie jedoch derart einfach geworden sind, werden die vertrauten Vorgänge bald nicht mehr die Basis für die Entlohnung der Bitschaffenden sein können – es sei denn, die Kopiervorgänge und Datenwege würden derart stark reglementiert und die Re- glementierung derart drakonisch überwacht, dass es die technische Entwicklung ad absurdum führen würde.

Anzeige
Anzeige

Richard Stallman, der Begründer des GNU-Projekts und der Idee der Freien Software, verglich die Situation mit einer Raumstation, in der für die Bewohner Sauerstoff produziert werden muss. Eine Möglichkeit, die Sauerstoffproduktion gerecht zu finanzieren, bestünde darin, den Bewohnern Gasmasken mit Volumenzählern aufzusetzen und jeden nach der Menge Sauerstoff, die er einatmet, bezahlen zu lassen. Das wäre freilich eine bizarre Gesellschaft und sie würde zudem auch nur funktionieren können, wenn es eine Geheimpolizei gäbe, die überwacht, dass niemand etwa die Gasmaske abnimmt und „einfach so“ atmet. Sinnvoller und fast genauso gerecht wäre Stallman zufolge zum Beispiel eine Sauerstoffsteuer, mit der die Kosten auf die Bewohner umgelegt werden und damit die Gasmasken erspart.

Zweiter Faktor: Kommunikation und Kooperation

Der zweite gemeinsame Faktor der jüngsten Entwicklungen ist, dass sie alle auf hochgradig dezentraler, selbstorganisierter Kommunikation zwischen Individuen beruhen. Es ist die stetige und durch die Gegebenheiten im Internet praktisch kostenlose Kommunikation in Mailinglisten, Chaträumen und Diskussionsforen, die die Kooperation erst ermöglicht, ohne die Projekte wie GNU/Linux oder Wikipedia nicht denkbar wären.

Anzeige
Anzeige

Das Internet hat nicht nur die Kommunikationsinfrastruktur des Planeten auf eine neue Grundlage gestellt, es verändert auch die Wege der Kommunikation. Am Ende des 20. Jahrhunderts bestanden die Wege vor allem aus 1-zu-1-Beziehungen (individuelle Kommunikation per Brief oder Telefon), oder aus 1-zu-n-Beziehungen (den klassischen Massenmedien, bei denen wenige, staatlich zugelassene „Sender“, also Fernsehstationen, Zeitungen oder Radiosender, die „Vielen“, d. h. die Bevölkerung, mit Informationen versorgen). Das Internet bringt demgegenüber zunehmend n-zu-n-Beziehungen hervor, bei denen prinzipiell jeder zum Informationslieferanten für viele werden kann. Beispiele dafür sind Nachrichtendienste wie Slashdot, Kuro5hin oder Digg. Hier reichen die Leser selbst Beiträge ein, die dann von einer Redaktion gesichtet und ausgewählt werden, beziehungsweise über deren Publikation wiederum die Leser selbst in einer Abstimmung entscheiden. Auch das Projekt WikiNews, eine Wikipedia-Schwestersite, versucht, das Wiki-Prinzip auf klassische Nachrichten anzuwenden. Rapide an Bedeutung gewinnt auch die Szene der Weblogs beziehungsweise der Blogger. In der Zukunft wird ein Nutzer Informationen über ein Ereignis vielleicht vor allem dadurch einholen können, dass er sich anschaut, was die Augenzeugen vor Ort in ihren Weblogs zu sagen haben.

Im Umfeld der Free Software Foundation (FSF) wird noch weiter gedacht: Schon heute ist der Preis, den der Einzelne für die Anbindung an das weltweite Kommunikationsnetz bezahlen muss, zumindest in den westlichen Gesellschaften sehr stark gesunken. Er könnte aber buchstäblich bei Null liegen, wenn die Technik der drahtlosen Vernetzung, heute bekannt unter den Namen WiFi beziehungsweise WLAN, konsequent ausgenutzt würde. Das Netz könnte dann weitgehend ohne physische Infrastruktur, das heißt ohne Kupfer- und Glasfaserkabel im Boden, aufgebaut werden. Es würde sich, entsprechende Software vorausgesetzt, vollkommen selbst regulieren können. Schon heute gibt es in den meisten Metropolen der Welt Bürgerinitiativen, deren Mitglieder ihre ohnehin vorhandenen Internet-Zugänge per Funk frei für die Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Die Stadt San Francisco plant, in Kürze allen ihren Bürgern einen kostenlosen, drahtlosen Internet-Zugang anzubieten. Die Gebühren, die anderswo für die Erlaubnis, einen Hotspot zu benutzen, aufzubringen sind, wirken vor diesem Hintergrund anachronistisch – sie werden mittelfristig keiner realen Ressource, die „knapp“ und somit verhandelbar wäre, mehr entsprechen.

Dritter Faktor: Ökonomische Umwälzungen

Der dritte gemeinsame Faktor der beschriebenen Entwicklungen ist schließlich, dass Dinge, die bisher Geld gekostet haben, der Allgemeinheit plötzlich umsonst oder für sehr viel weniger Geld zur Verfügung stehen. Wie ist das möglich? Wie kann das wirtschaftlich und gesellschaftlich funktionieren?

Anzeige
Anzeige

Es kann nicht genug betont werden, dass keine der erwähnten Bewegungen ihrem Wesen nach anti-kommerziell ist. Die Free Software Foundation tritt nicht dafür ein, dass Software kostenlos sein sollte. Sie weist vielmehr darauf hin, dass die Geheimhaltung des Quelltextes und die Einschränkung der Benutzung zur Deckung der Kosten der Gesellschaft mehr schadet als nützt. Die Menschen wiederum, die sich per Filesharing mit Musik und Filmen versorgen, dürften zum großen Teil zustimmen, dass die Künstler für ihre Arbeit bezahlt werden sollten. Sie sehen aber gleichzeitig, dass das Herstellen und Vertreiben von Kopien, das zu einem einfachen Vorgang geworden ist, kein gutes Kriterium mehr dafür ist, wer wann und wofür bezahlen muss.

Das Ziel muss darum sein, andere Mechanismen zu finden, die mit den technischen Realitäten besser in Einklang stehen. Dabei wird es Verlierer geben. Reine Vertriebsindustrien können sich beispielsweise als technisch überflüssig erweisen. Der Versuch, sie um ihrer selbst willen zu erhalten, würde an die „Heizer“ erinnern, die auf Druck der Eisenbahnergewerkschaften auf den ersten Diesellokomotiven mitfahren mussten, obwohl es für sie dort nichts zu tun gab. Auch eine Redaktion für ein Lexikon zu unterhalten dürfte in Kürze kein praktikables Geschäftsmodell mehr sein, weil sich zeigt, dass die Menschen bereitwillig ihr Wissen selber zusammentragen und sich das Ganze so organisieren lässt, dass die Qualität dabei nicht auf der Strecke bleibt.

Die Tatsache, dass es sich viele Menschen offenbar leisten können und auch leisten wollen, bei freien, das heißt gemeinnützigen Projekten wie GNU/Linux oder Wikipedia mitzuarbeiten, ohne dabei unmittelbar an Bezahlung zu denken, ist vielleicht der erstaunlichste Aspekt der Bewegungen. Es handelt sich bei ihnen keineswegs nur um reiche Philantropen oder um Studenten, die von den Eltern finanziert werden – die meisten von ihnen sind eher in den mittleren Einkommensklassen zu finden und würden mitnichten behaupten, ihre finanzielle Situation sei in irgendeiner Weise „entspannt“. Ihr Engagement dürfte eher unbewusst motiviert sein und nur indirekt darauf hinweisen, dass sie offenbar über die nötigen Ressourcen vor allem an Lebenszeit verfügen. Was das Engagement für sie so attraktiv macht, ist wahrscheinlich, dass sie der kapitalistischen Gesellschaft mit ihrer Erwerbsfixierung, ihrer abhängigen Beschäftigung und ihrer entfremdeten Arbeit zumindest punktuell entgehen können. Es macht ihnen großen Spaß, ein Problem zu sehen und es zu lösen, ohne es zu müssen.

Anzeige
Anzeige

Folgt man der Argumentation, die zum Beispiel Eric S. Raymond vorgeschlagen hat, dann ist die Entwicklung wahrscheinlich mit dem allgemeinen Zuwachs an Wohlstand zu erklären. Es ist gewissermaßen die Dividende der technischen Weiterentwicklung, die sich im 20. Jahrhundert in bislang beispielloser Weise beschleunigt hat. Kulturkritiker fragen, wo eigentlich die ganze Zeit geblieben ist, die durch Erfindungen wie die Waschmaschine und das Interkontinentalflugzeug eingespart wurde. Eine Antwort ist möglicherweise, dass sie heute in Projekten wie GNU/Linux oder Wikipedia steckt – Arbeiten, die nicht mehr der direkten wirtschaftlichen Existenzsicherung dienen.

Fazit

Kurzfristig wird das alles bedeuten, dass manche, die bisher mit der Herstellung von Information, bisweilen auch mit deren künstlicher Verknappung, ihr Geld verdient haben, sich nach neuen Erwerbsmöglichkeiten umsehen müssen. Mittelfristig wird sich die Ökonomie um die veränderten Bedingungen des Informationszeitalters herum neu organisieren, so wie sie sich vorher um das Industriezeitalter mit seiner „Rationalisierung“ der manuellen Arbeit herum neu organisiert hat. Die Folge der Rationalisierung war, dass heute die meisten Menschen auf der Welt – ungerechterweise nicht alle – weniger Erwerbsarbeit leisten müssen als noch vor hundert oder zweihundert Jahren, und das bei einem enorm gestiegenen Lebensstandard. Die Befreiung der Information ist die Fortsetzung des Prozesses im 21. Jahrhundert. Sie wird die Reibungsverluste aufheben, die heute durch proprietäre, zurückgehaltene Information entstehen, und sie wird dafür sorgen, dass die von der Menschheit hervorgebrachte Information schneller, genauer und unterschiedsloser der gesamten Menschheit zugute kommt. Es wird in der Zukunft immer weniger Gelegenheiten für reine Erwerbsarbeit und immer mehr für wirkliche Arbeit geben. Die Menschen werden Probleme nicht mehr deshalb lösen, weil sie damit ihren Lebensunterhalt verdienen, sondern weil die Probleme wichtig sind, drängend oder auch faszinierend.

Mehr zu diesem Thema
Fast fertig!

Bitte klicke auf den Link in der Bestätigungsmail, um deine Anmeldung abzuschließen.

Du willst noch weitere Infos zum Newsletter? Jetzt mehr erfahren

Anzeige
Anzeige
Schreib den ersten Kommentar!
Bitte beachte unsere Community-Richtlinien

Wir freuen uns über kontroverse Diskussionen, die gerne auch mal hitzig geführt werden dürfen. Beleidigende, grob anstößige, rassistische und strafrechtlich relevante Äußerungen und Beiträge tolerieren wir nicht. Bitte achte darauf, dass du keine Texte veröffentlichst, für die du keine ausdrückliche Erlaubnis des Urhebers hast. Ebenfalls nicht erlaubt ist der Missbrauch der Webangebote unter t3n.de als Werbeplattform. Die Nennung von Produktnamen, Herstellern, Dienstleistern und Websites ist nur dann zulässig, wenn damit nicht vorrangig der Zweck der Werbung verfolgt wird. Wir behalten uns vor, Beiträge, die diese Regeln verletzen, zu löschen und Accounts zeitweilig oder auf Dauer zu sperren.

Trotz all dieser notwendigen Regeln: Diskutiere kontrovers, sage anderen deine Meinung, trage mit weiterführenden Informationen zum Wissensaustausch bei, aber bleibe dabei fair und respektiere die Meinung anderer. Wir wünschen Dir viel Spaß mit den Webangeboten von t3n und freuen uns auf spannende Beiträge.

Dein t3n-Team

Melde dich mit deinem t3n Account an oder fülle die unteren Felder aus.

Bitte schalte deinen Adblocker für t3n.de aus!
Hallo und herzlich willkommen bei t3n!

Bitte schalte deinen Adblocker für t3n.de aus, um diesen Artikel zu lesen.

Wir sind ein unabhängiger Publisher mit einem Team von mehr als 75 fantastischen Menschen, aber ohne riesigen Konzern im Rücken. Banner und ähnliche Werbemittel sind für unsere Finanzierung sehr wichtig.

Schon jetzt und im Namen der gesamten t3n-Crew: vielen Dank für deine Unterstützung! 🙌

Deine t3n-Crew

Anleitung zur Deaktivierung
Artikel merken

Bitte melde dich an, um diesen Artikel in deiner persönlichen Merkliste auf t3n zu speichern.

Jetzt registrieren und merken

Du hast schon einen t3n-Account? Hier anmelden

oder
Auf Mastodon teilen

Gib die URL deiner Mastodon-Instanz ein, um den Artikel zu teilen.

Anzeige
Anzeige