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Interview

China-Experte Raymond Chin: „Seid stolz darauf, wenn ihr kopiert werdet!“

Kopieren fördert Innovationen? Davon ist Raymond Chin, Kreativdirektor bei der Digitalagentur Publicis Sapient China, überzeugt. Er erklärt, was wir von der chinesischen Kopierkultur lernen können – und warum es uns gut tun würde, die Erfindungen anderer mit weniger Ehrfurcht zu behandeln.

6 Min.
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(Foto: Publicis Sapient)

Raymond Chin hat für einen Kreativen eine eher unkonventionelle Einstellung zum geistigen Eigentum. Für ihn wäre es ein Unglück, wenn Innovation sich strikt an die engen Regeln des Urheberrechts halten müsste. Deshalb spricht er sich für eine Reformierung des Urheberrechts aus. Chin ist seit Anfang 2015 Executive Creative Director für den chinesischen Markt beim internationalen Digital-Marketing-Netzwerk Publicis Sapient. Mit seinen Teams entwickelt und verantwortet er kreative Digitalkampagnen für die in China aktiven Sapient-Kunden, darunter Nike, Heineken, Unilever oder Starbucks.

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t3n Magazin: Du sagst, dass beim Kopieren etwas Besseres entstehen kann. Meinst du damit so etwas wie ein Mashup aus alten und neuen Ideen, also die Kombination von Ideen, Funktionen und Produkten?

Raymond Chin: Ja, Kopieren kann in der Tat zu einem besseren, nützlicheren Produkt führen, wenn man es richtig macht. Das ist das, was ich mit „Kopieren 2.0“ meine. Und ein Mashup ist eine Form davon. In China gibt es eine große, mächtige Firewall, weswegen wir dort weder Zugriff auf Facebook noch auf Instagram, Whatsapp oder Twitter haben. Deswegen konnte Wechat all diese Funktionen der westlichen Plattformen quasi ungestraft kopieren und in einer einzigen Anwendung vereinen. Das hat Wechat in kurzer Zeit zu einem wahnsinnigen Stellenwert verholfen. Dass es so problemlos auf Vorhandenes aufbauen konnte, hat das Unternehmen letztlich auch schneller gemacht: Die mobile Bezahlfunktion von Wechat etwa ist drei Jahre vor Apple Pay erschienen. Aus dieser Funktion hat sich wiederum ein Ökosystem anderer Services entwickelt: Taxidienste, Investmentbanking-Services, mobiles Einkaufen und so weiter. Und aktuell beobachten wir, wie die westlichen Anbieter ihrerseits versuchen, bestimmte Funktionen von Wechat zu kopieren – beispielsweise Facebook mit dem Facebook Messenger.

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t3n Magazin: Du findest es also legitim, die Funktionen von zwei Apps oder Diensten zu kombinieren, ohne deren Urheber um Erlaubnis zu fragen? Ist das fair?

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Raymond Chin: Ich glaube, es ist unmoralisch, wenn wir nicht das respektieren und denen die nötige Anerkennung entgegen bringen, die es erschaffen haben. Aber ich denke auch, dass es ein großes Unglück ist, wenn Unternehmen alles zu Tode patentieren, weil daraus kein Fortschritt für die menschliche Gesellschaft ent­stehen kann. Ich wage die These, dass wir vielleicht schon Raumschiff Enterprise mit seinen Holodecks und Replikatoren hätten, wenn es nur erlaubt wäre, Dinge zu kopieren und daraus etwas Neues zu kreieren. Wenn wir kreative Menschen davon abhalten, unsere Ideen zu verbessern und etwas Neues daraus abzu­leiten, dann ist das eine furchtbare Verschwendung, wenn die Idee deswegen nicht ihr gesamtes Potenzial entfalten kann. Es ist unbedingt erforderlich, mit weniger Ehrfurcht an Ideen und Erfindungen heranzugehen – gleichzeitig aber den Respekt nicht zu vergessen. So verdienen Menschen wie Elon Musk Respekt dafür, dass sie beispielsweise Konzepte wie die Technologie elektrischer Fahrzeuge zur Verwendung freigegeben haben.

t3n Magazin: Schön und gut, aber wann ist eine Kopie noch innovativ, wann schon respektlos? Der Tech-Konzern Xiaomi zum Beispiel ist bekannt für hochwertige Produkte, bei denen man aber oft denkt, dass sie bekannten Kon­kurrenzprodukten doch sehr stark ähneln …

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Raymond Chin: Ja, gerade Xiaomi hat es aber in vielen Punkten geschafft, bei der Funktionalität eins drauf zu setzen: Das Autoladegerät, das gleichzeitig ein Transmitter für das Autoradio ist, der Luftreiniger, der um eine Temperaturregelung erweitert wurde, das Smart­phone, das viele gute Features unterschiedlicher Betriebs­systeme in sich vereinigt und gleichzeitig noch als Steuerung für die Haustechnik dient. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie aus guten Produkten noch bessere werden können, wenn man Innovationen zulässt. In der chinesischen Wirtschaft herrscht ein wahnsinniger Verdrängungswettbewerb und dort ist Kopieren eine Kultur des Dazulernens, wenn man beides kombiniert. Ein Schutz für Ideen ist unabdingbar, aber gleichzeitig müssen wir einen passenden Grad an Zusammenarbeit pflegen.

t3n Magazin: Für Publicis Sapient arbeitest du in einem hoch ­kreativen Umfeld. Du entwickelst Markenerlebnisse, digitale Kampagnen und Logos – und willst mir im nächsten Atemzug erklären, dass es dich nicht kratzt, wenn jemand deine kreativen Ideen nutzt?

Raymond Chin: Seid stolz darauf, wenn ihr kopiert werdet! Jemanden zu kopieren ist – gerade im asiatischen Raum – auch eine Form der Ehr­erbietung. Wenn jemand gewillt ist, ein Logo zu kopieren, das ich geschaffen habe, dann ist das Logo wirklich erfolgreich. Aber natürlich ist es wichtig, dass sie mich dafür auch als Quelle ihrer Inspiration angeben. Das ist ähnlich wie bei Jonathan Ive, der offen zugibt, bei seinen Designs für Apple deutlich vom ehemaligen Braun-Chefdesigner Dieter Rams beeinflusst worden zu sein. Rams hat mehrfach gesagt, dass er das als Ehre empfand.

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t3n Magazin: Besonders in Forschung und Entwicklung wird kein Unternehmen mehr zu Investitionen bereit sein, wenn andere grenzenlos an den Ergebnissen partizipieren können. Wäre nicht gerade die Freiheit, alles Wissen als Open Source zu betrachten, es frei und grenzenlos zu kopieren und weiterzuverwenden, gleichzeitig ein Hindernis für Erfindungen und Innovationen?

Raymond Chin: Open Source ist im Softwarebereich weit verbreitet und funktioniert da sehr gut. Ich finde, aus diesen Erfahrungen sollten wir lernen, weil es die Gesellschaft voranbringen könnte. Selbstverständlich müssen wir an die finanziellen Auswirkungen denken, damit jeder das ihm zustehende Geld bekommt. Dazu müssen wir das Urheberrecht gründlich überarbeiten. Vielleicht kann man ja Ideen lizensieren und im Gegenzug dafür sorgen, dass für erfolgreiche Erfindungen, die andere damit machen, ein Anteil an den Urheber der ursprünglichen Idee geht. Ich bin mir sicher, dass wir hierfür vernünftige Workarounds finden und so die Innovationsfähigkeit steigern könnten. Wir sollten von Branchen lernen, in denen das Kopieren bereits üblich ist: Ich denke an die Wissenschaft, in der es ein weitreichendes Zitierrecht unter Angabe der ursprünglichen Quelle gibt.

t3n Magazin: In Deutschland streiten sich sogar Künstler jahrelang vor Gericht, wenn einer ein Sample des anderen in seinem Mix verwendet und daraus ein Mashup macht.

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Raymond Chin: Also eines meiner Lieblingsalben ist das Grey Album von ­Danger Mouse – er hat das weiße Album der Beatles und das Black Album von Jay Z genommen und daraus ein grandioses neues Mashup gemacht. Aber nochmal zurück zur Frage, ob freies Wissen nicht ein Hindernis für Innovationen und Erfindungen sein könnte: Ich glaube, dass der Wertzuwachs für uns als menschliche Gesellschaft das größte Ziel sein sollte. Ich bin ein großer Star-Trek-Fan mit dem Bewusstsein, dass das oberste Ziel der Menschen in unserer Welt nicht ist, möglichst viel Geld zu verdienen oder zu erwirtschaften. Sie sollten sich vielmehr weiterent­wickeln und ihr gesamtes Potenzial ausschöpfen. Wenn jemand ein Heilmittel für Brustkrebs erfunden hat und dieselbe Technologie genutzt werden kann, um ein neues Heilmittel für Hautkrebs daraus zu entwickeln, sollen wir dann wirklich zehn Jahre warten, bevor wir das jemanden probieren lassen?

t3n Magazin: Brauchen wir eine neue Einstellung im Umgang mit Patenten und dem Urheberrecht? Sollte sämtliches geistiges Eigentum frei verwendbar sein?

Raymond Chin: Ja bitte, unbedingt. Die Patent- und Copyright-Gesetze sind nicht mehr zeitgemäß und schützen die dicken Fische, die alles patentieren, was nicht niet- und nagelfest ist. Es wäre keine schlechte Idee, alles unter Open-Source-Lizenz zu stellen, verbunden mit Anerkennung und fairer finanzieller Vergütung für alle, die etwas dazu beigetragen haben. Und wir können Mittel und Wege finden, Erfinder und Urheber dazu zu bewegen, daran mitzuarbeiten.

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t3n Magazin: Du hast schon an den verschiedensten Orten gelebt. Hängt es vom Kulturkreis ab, ob die Menschen akzeptieren, wenn man etwas kopiert oder aus einer bestehenden Idee eine neue entwickelt? 

Raymond Chin: Ich habe lange und ausgiebig in Shanghai, Singapur und Hongkong gearbeitet, außerdem in London, Köln, New York und Portland mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten an Projekten gesessen. Die besten Kollegen sind dabei oft diejenigen, die am entspanntesten mit ihren Ideen umgehen, die bereit sind zu teilen und Leute darauf aufbauen lassen. Die haben keine Angst, dass ihre Ideen kopiert werden. Sie kommen sowieso ständig mit neuen Ideen um die Ecke, die dann oft sogar noch besser sind. In kultureller Hinsicht gibt es diesen Menschenschlag übrigens weltweit – das ist mehr eine geistige Haltung, die auch von der Firmenkultur abhängt. Dieses Kopieren, um daraus neue Innovation zu schaffen, wird nirgends offen zelebriert. Es wäre aber mal interessant zu sehen, wie sowas konstruktiv propagiert werden könnte. 

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