Ottos Innovationsschmiede Collins: Zu Besuch im E-Commerce-Labor
Während draußen der Wind pfeift und die Alster Wellen schlägt, treffen sich 2012 in der Konzernzentrale in Hamburg-Barmbek hochrangige Vertreter der Otto-Gruppe mit externen Beratern. Die Runde könnte unterschiedlicher nicht sein: Neben dem Inhaber Michael Otto, dem Vorstand und den Managern der Otto-Unternehmensstrategie – in feinem Zwirn und tadellos gekleidet – sitzen hier auch Otto-Senior-Berater Alexander Graf und Tarek Müller – ein „E-Commerce-Freak mit Rastalocken“, wie der Spiegel schrieb, der mit 15 Jahren sein erstes Unternehmen gründete und seitdem zum Seriengründer avancierte.
Was bisher geschah
Tarek Müller sitzt lässig auf seinem Stuhl in der Startup-Schaltzentrale in der Domstraße, während er von diesem ersten Meeting erzählt: „Wir sollten den E-Commerce neu erfinden“, erinnert er sich. Man kann davon ausgehen, dass die Dringlichkeit der Mission allen bewusst war: Zwar erwirtschaftete Otto zu diesem Zeitpunkt mit rund 60 E-Commerce-Sites bereits etwas mehr als 5 Milliarden Euro Umsatz. Die Wachstumsraten blieben jedoch weit hinter denen des Markts zurück. 2011 meldete der Bundesverband Versandhandel 18,5 Prozent Wachstum für den E-Commerce – Otto kam gerade mal auf 9,2 Prozent.
Der Konzern stand damit also vor einer langen Umbruchzeit, die bis heute anhält. Große Innovationen – das stand fest – sollten nicht im behäbigen Konzernschlachtschiff entstehen, sondern in einem kleinen und wendigen Unternehmen. „Es hieß: Make or buy – entweder kaufen wir ein Unternehmen, oder wir gründen ein neues“, erzählt Tarek Müller. „Da nichts Passendes am Markt zu finden war, haben wir gegründet“.
Mitte 2013 war dann die Geburtsstunde von Collins. Wirtschaftsmagazine nahmen damals kaum Notiz. Das Manager Magazin führte Collins im großen Otto-Report seiner Aprilausgabe etwa nur als bessere Randnotiz auf. Und doch entsteht hier seitdem die Blaupause für Ottos Zukunft.
Ein Ökosystem entsteht
Draußen wurde es kälter, das Jahr 2013 neigte sich dem Ende zu – und das Collins-Team um den Enkel des Otto-Gründers Benjamin Otto, Tarek Müller, CTO Sebastian Betz und Senior-Consultant Hannes Wiese ging in die heiße Gründungsphase. „Es war von Anfang an klar, dass wir nicht einfach Amazon oder eBay nachbauen wollten“, erklärt Tarek Müller, wieso Collins nicht einfach nur ein Onlineshop, sondern ein Ökosystem geworden ist.
Drei wesentliche Punkte will Collins erreichen: Es soll eine Marke mit Wiedererkennungswert und klarem Markenprofil für die größtenteils weibliche Zielgruppe zwischen 20 und 40 Jahren sein, eine möglichst hohe Relevanz für den Kunden durch Personalisierung erreichen – wie es etwa Facebook mit seinem Feed tut – und Inspiration durch bedarfsweckenden Content schaffen. Dabei orientiert sich Collins in der Umsetzung an der Idee zu Apples Ökosystem: Es öffnet seine Plattform ebenfalls für exklusiven Content.
Nach vier bis fünf Monaten Entwicklungszeit ist die Idee startklar: Collins ist nun die Management- und Finanzdachgesellschaft, unter der die Kernmarken – der Online-Fashion-Shop „About You“ sowie einige eigenständige Marken, sogenannte Verticals – agieren. Aktuell sind das der Dessous- und Bademoden-Shop „Sister Surprise“ sowie „Edited“, ein Fashion-Onlineshop und Label in einem. Kernstück des Ökosystems ist die Open-Commerce-Plattform von Collins.
Die Innovationsmaschine: Open-Commerce plus Inkubator
Bei Collins können neben der herkömmlichen Marktplatz-Logik, die Herstellern und Händlern ermöglicht, ihr Sortiment mit einzubringen, auch Entwickler am Ökosystem teilhaben – ganz ohne eigenes Warenlager. Ein Entwickler oder Marketer hat eine tolle Idee für personalisierten E-Commerce, wie man kreativen Fashion-Content erzeugen und mit Shopping verbinden kann? Dann steht dem Entwickler nicht nur die Plattform zur Entwicklung einer eigenen App, sondern auch das Warensortiment von Collins zur Verfügung. Auch eigenständige Auftritte zu entwickeln ist möglich, der Händler silberäffchen.de hat seinen Onlineshop auf der Plattform von Collins entwickelt – und auf About You integriert.
An den Umsätzen, die eine App in Collins Ökosystem erzeugt, ist der Entwickler direkt beteiligt: Zwischen 25 und 30 Prozent spülen verkaufte Produkte in seine Kasse. Das Provisionsmodell ist ungewöhnlich, denn Collins ermittelt nicht nur den direkten Lead über eine Partner-App. Noch bis zu sieben Tage später – und ohne den Umweg über die App – weiß die Plattform per Tracking, ob ein Kunde das Produkt erstmals in einer Partner-App entdeckt hat und schreibt die Provision gut.
Doch der Open-Commerce-Gedanke endet keineswegs bei dem Betrieb der Plattform. Das Hamburger E-Commerce-Startup bietet potentiellen Partnern seine Unterstützung auch bei der Entwicklung von Projekten im hauseigenen Inkubator an. Das reicht vom Coaching über bereitgestellte Büroflächen und Marketing-Budgets bis hin zu der Dienstleistung von Designern und Programmierern – falls ein Partner zwar selbst nicht genug Ressourcen für die Umsetzung mitbringt, dafür aber eine gute Idee.
So sichert sich Collins den Innovationszuwachs auf seiner Plattform. Ein Beispiel ist die App „You and Idol“, die Outfits von Stars und Sternchen zum Kaufen präsentiert: Das dazugehörige Startup sitzt bei Collins im Hauptquartier am Dom und ist im Inkubator groß geworden.
Wie Collins tickt: Culture and Comfort
Wer bei Collins zur Tür hereinfällt, wundert sich erst einmal über die kleine Retourenwand – bei so einem großen Onlineshop. Doch dann wird einem klar, dass es sich dabei nur um die Rücksendungen für die etwa 230 Mitarbeiter handelt: Etwa 190 Festangestellte sowie 40 Praktikanten und Werkstudenten arbeiten im Unternehmen. Der Altersschnitt liegt bei 29 Jahren, der Frauenanteil bei 45 Prozent – übrigens auch in der Führungsebene.
In dem frisch bezogenen, nach der Open-Space-Methode organisierten Hauptquartier liegt Kreativität in der Luft. Über drei Etagen erstrecken sich Wände, die von den Mitarbeitern mit witzigen Zeichnungen bemalt sind. Es gibt eine begrünte Wand mit Schaukeln sowie kleine Besprechungsräume, die im Stil einer Sauna eingerichtet sind. Mehrere Kaffeeküchen mit verschiedenen kalten und heißen Getränken sowie Obst versüßen den Mitarbeitern den Alltag.
Collins hat nur drei Hierachieebenen: Mitarbeiter, Führungskräfte und Geschäftsführung. Rund siebzig Programmierer arbeiten im IT-Bereich, insgesamt fünfzig Prozent der Mitarbeiter sind IT-nah. Selbst der Modebereich arbeitet eng mit den IT-Teams zusammen, um technisches Denken zu trainieren. Vierzig bis fünfzig Mitarbeiter gibt es hier, davon dreißig bis vierzig im Bereich Marketing und Content sowie rund zehn Mitarbeiter im kaufmännischen Bereich.
Bevor wir ins Gespräch einsteigen, passt Tarek Müller noch schnell die Biddings für die Facebook-Anzeigen an: „Uns ist Effizienz und ein möglichst kleiner Wasserkopf besonders wichtig. Bei uns packt jeder Mitarbeiter operativ mit an – auch die Führungsebene. Hier sitzt niemand herum und delegiert nur“, kommentiert er.
Die beiden Kernmarken: Edited und About You
Bei Collins erledigen die Mitarbeiter alles Inhouse: Der Einkauf, die Veredelung der Artikeldaten aller lagernden Produkte und auch die Produktshootings – mal mit Model, mal nur mit Artikel. Die Eigenmarken- und Kreativ-Teams kümmern sich um das Design. In Berlin sitzt dazu noch das Team von Chefdesignerin Clarissa Labin, die früher für Dior, Swarovski und H&M entworfen hat.
Denn neben dem tragenden Onlineshop unter der Marke „About You“ betreibt Collins mit „Edited – The Label“ noch ein eigenes Label mit aktuell etwa 250 selbst entworfenen und produzierten Produkten. Die Kollektion wird sowohl bei „About You“ als auch im Edited-Onlineshop vertrieben. Letzterer führt jedoch nicht nur die eigenen, sondern auch fremde Marken.
Nach einer Experimentierphase mit verschiedenen eigenständigen Shops und Marken konzentriert sich Collins aktuell auf diese beiden Kernmarken. „Auf Eigenmarken kann man nicht verzichten, wenn man in interessante Margenbereiche kommen will“, erklärt Tarek Müller, wieso das eigene Label für Collins so wichtig ist.
Der Erfolg gibt ihm Recht: Der Verkauf der Edited-Mode über die Website edited.de macht aktuell rund zehn Prozent des Umsatzes aus. Und auch im About-You-Shop landen die Produkte des Labels unter den Top Ten.
Personalisierung: „Auf Knopfdruck Einfluss nehmen“
Der Hauptpfeiler Personalisierung will mehr Bedarfsweckung als -deckung erreichen. „Eigentlich kann man das mit dem Visual Merchandising im stationären Handel vergleichen, wenn Schaufenster und Eingangsbereich beim Kunden die Lust aufs Einkaufen wecken sollen“, meint Tarek Müller. Collins will dabei durch Personalisierung und Kuration von attraktivem Content eine möglichst hohe Relevanz für den Kunden erreichen.
Das Flaggschiff „About You“ setzt dazu auf einen Inspirationsbereich: Einen an Facebook angelehnten, personalisierten Feed mit Produktinformationen aus allen Kategorien, kombiniert mit kuratierten Produkten und Inhalten von Open-Commerce-Partnern.
Der Algorithmus verfolgt unter anderem Klickstrecken und aufgerufene Produkte, zusätzlich kann der Kunde selbst Informationen wie seine Konfektionsgröße, bevorzugte Stilrichtungen, Farben und Marken hinterlegen – aber nur, wenn der es Kunde möchte. Der persönliche Feed zeigt dann nur Produkte, die auch tatsächlich gefallen könnten – also etwa keine Hoodies in XS, wenn XL nötig ist.
Die Kuration der Inhalte basiert auf vielfältigen Kriterien. Es kann sich beispielsweise um Outfit-Themen von Bloggern handeln, um Farbthemen oder ähnliches. Sind dann komplette Outfits zu sehen, können die Kunden diese im selben Fenster Stück-für-Stück erwerben.
Künftig soll es dem Kunden auch möglich sein, die Personalisierung noch weiter zu beeinflussen: Falls der Kunde für seine Frau einkaufen möchte, lässt sich die Personalisierung mit einem Knopfdruck deaktivieren. Missliebige Produkte können User dauerhaft und mit Lerneffekt wegklicken: Wer öfter die Produkte einer Marke entfernt, wird gefragt, ob der Shop die Marke ganz ausblenden soll.
Die Synergien
Dass sich Collins mittlerweile als Blaupause für Ottos Zukunft betrachten lässt, ruft keinen Widerspruch bei Tarek Müller hervor. Allerdings ergänzt er: „Aber das Ganze folgt keinem ultimativen Masterplan der Otto-Group. Es gibt auf der Management-Ebene keine wilden Folienschlachten. Alles findet eher auf operativer Ebene statt“.
Das bedeutet zum einen, dass der Betrieb der Open-Commerce-Plattform die Otto-eigenen Infrastrukturen auslastet. Besonders nutzt Collins hier die Bereiche Sourcing – also Einkauf und Produktion – sowie Payment und Logistik mit den Otto-Töchtern Hermes und Ratepay. Auf das Sortiment des Mutterkonzerns greift Collins jedoch nicht mehr so stark zurück. Oft sind die Artikel nicht so jung und frisch, wie sich das die Zielgruppe von „About You“ wünscht.
Zum anderen sind immer wieder Mitarbeiter verschiedener Otto-Unternehmen aus den operativen Bereichen Business Intelligence, IT und selbst der alten Otto-Kernkompetenz Einkauf im Hamburger Startup unterwegs und nehmen Know-how bei Collins auf. Da die Mitarbeiter des Startups vieles wesentlich IT-affiner betrachten, geht Collins so manches anders an, als es ein eingesessener Konzern tun würde.
Der Konzern, der noch immer in seiner Transformation steckt, kann sich im Vergleich dazu nicht immer so schnell bewegen, wie er möchte. Das weiß auch Tarek Müller: „Bei radikalen Änderungen gibt es oft viel Gegenwind durch die Besitzstandswahrer in solchen Konzernen. Da hat Otto mit uns einen Vorteil, denn wir können als ,Proof of Concept‘ die Transformation mit unterstützen“, schildert Müller seine Erfahrungen.
IT, Systeme und Technik
Collins setzt vor allem auf selbst entwickelte Systeme, sowohl für Unternehmensanwendungen, als auch bei seiner E-Commerce-Plattform, der eigenständigen Mobile-Technologie und der nativen iOS-App. Zum Einsatz kommen bei der Entwicklung PHP und Python, auch das Hosting und Caching wickelt Collins mit Varnish Inhouse ab.
Dabei setzt das Startup auf agiles Projekt-Management mit Scrum – für ein IT-Startup nicht ungewöhnlich, für den deutschen Handel und einen Konzern hingegen schon. Die sieben bis acht IT-Teams sind dabei jeweils einem Unternehmensbereich als Stakeholder zugeordnet.
Damit, wie bereits betont, auch jeder Einblicke in die technischen Hintergründe und die Entwicklung des About-You-Shops bekommt, packt der Head of Shop-Management Stefan Tobel einmal im Monat seine geliebten Kartoffelchips auf den Besprechungstisch. Unter dem Motto „Shop & Chips“ veranstaltet er eine offene Inforunde für alle: Je nach Lust und Laune versammeln sich dann zwischen drei und zwanzig Mitarbeiter, um die Knabbereien und Neuerungen von „About You“ zu genießen.
Fazit
Um sich zu verjüngen und sich frische E-Commerce-DNS einzuverleiben, hat die Otto-Gruppe mit Collins und dem Team rund um Benjamin Otto, Tarek Müller, Hannes Wiese und Sebastian Betz ein agiles und schlankes Unternehmen geschaffen, das schnell wächst und mehr als nur erste Achtungserfolge vorweisen kann: In knapp zehn Monaten hat „About You“ rund 500.000 Kunden gewonnen und einen zweistelligen Millionen-Umsatz erreicht – bei Anlaufkosten in einem niedrigen zweistelligen Millionen-Euro-Bereich.
Der Rubel rollt also – und der Know-How-Transfer in die Otto-Gruppe fließt ebenfalls wie gewünscht: Benjamin Otto wechselt zum ersten Juni als Digital Stratege in die Otto Group. Er hinterlässt ein ambitioniertes Ziel für die nächsten fünf Jahre: Der Millionenumsatz soll dann dreistellig sein.
An Tarek Müller soll’s nicht liegen, der hat sich bereits mit Haut und Rastalocke an Collins verschrieben. Jedenfalls wirkt er beim Abschied vollauf zufrieden und enthusiastisch: „Nach dem Start in Österreich gehen wir dieses Jahr noch in die Schweiz. Der Rest der EU folgt dann langfristig“.
Jochen G. Fuchs ist Ressortleiter E-Commerce bei t3n. Zuvor war der gelernte Mediengestalter als Projektleiter E-Commerce für verschiedene mittelständische Handelsunternehmen tätig. Aktuell studiert er Cross-Media-Journalismus auf Master. Auf Twitter ist er erreichbar unter @jochengfuchs.