Bots für den Briefträger: So geht Digitalisierung bei der Deutschen Post

Neue Ideen für die Zustellung müssen her: In geographisch schwierig erreichbaren Gegenden beispielsweise per Drohne oder an Knotenpunkten wie Bahnhöfen über dort aufgestellte Packstationen.
Mehr als zehn Millionen Mal Amazon, Otto, Zalando, Media Markt, Tchibo, Apple, Doc Morris, Esprit, Ikea, Douglas: Eine unvorstellbare Menge an Paketen bringt die Deutsche Post DHL in der Weihnachtszeit jeden Tag an die Haustür, zum Nachbarn, zum Kiosk nebenan. Selbst an einem gewöhnlichen Wochentag sind es immer noch vier Millionen. Und ein Ende des Booms ist nicht in Sicht. Um fast 16 Prozent ist der Umsatz mit den Paketen allein für DHL gewachsen, vergleicht man die ersten neun Monate 2016 und 2017. In Summe sind das sechs Milliarden Euro.
Der E-Commerce hat sich für die Deutsche Post DHL zu einem echten Luxusproblem entwickelt. Anders als andere Unternehmen leidet der Konzern nicht unter der Digitalisierung, er zählt zu ihren Gewinnern: Weil die Menschen weltweit immer mehr online bestellen, liefert der Konzern mehr und mehr Pakete aus und verdient damit mehr und mehr Geld. Allerdings steht dadurch ein ganzes System aus altbewährten Prozessen plötzlich auf dem Prüfstand. Die Standardroute funktioniert nicht mehr, ein optimal getimter Weg vom Logistikzentrum am Stadtrand bis zur Haustür des Kunden ist gefragt. Und ausgerechnet einer der größten Kunden könnte schon bald einer der größten Konkurrenten werden. Um die Herausforderungen zu meistern, schnürt die Post an einem ordentlichen Paket Innovationen.

Paketkopter in Reit im Winkel. (Foto: Andreas Heddergott)
Bisher lief bei der Deutschen Post alles über die Menge. Als weltgrößter Logistiker mit einem Jahresumsatz von zuletzt 57 Milliarden Euro sowie einem Vorsteuerergebnis von 3,5 Milliarden Euro ist das Unternehmen auf Masse programmiert. Die Prozesse sind hochstandardisiert, funktionieren auch unter Spitzenlast fast reibungslos. In 90 Prozent der Fälle gelingt es dem Konzern nach eigener Aussage, ein Paket im ersten Versuch erfolgreich abzuliefern. Dazu zählt nicht nur die Abgabe an der Haustür, sondern auch die beim Nachbarn. „Ein hoher Grad an Standardisierung ermöglicht uns überhaupt erst, die Masse an Paketen zu bewegen“, sagt Marc Hitschfeld. Der Manager mit dem Titel „Geschäftsbereichsleiter Consumers DHL Paket“ ist dafür verantwortlich, die Prozesse auf der letzten Meile auf die digitale Zukunft einzustellen.
Doch hinter den Kulissen geht es längst nicht mehr um die Masse, sondern um Individualisierung – die Post muss die letzte Meile bewältigen. Denn die Digitalisierung eröffnet eine Welt der Sonderwünsche. Per Knopfdruck ist nicht nur eine Bestellung bezahlt, sondern auch direkt festgelegt, wann und wo das Paket ankommen soll. „Die Aufgabe ist jetzt, dieses System mit dem Wunsch nach mehr Transparenz und Flexibilität zu verbinden“, sagt Hitschfeld. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Logistikgeschäft kaum von anderen Branchen: In der Digitalisierung gewinnt die einfachste und bequemste Lösung, ob die des Großkonzerns oder die des Startups.
Für einen Großkonzern wie Deutsche Post DHL ist es allerdings ein langer Weg von der bewährten Routine zur moderneren Auf-Abruf-Lieferung. Dass der Wandel gelingt, bewertet zumindest die Wissenschaft skeptisch. Denn insbesondere im Paketmarkt sei die Logistik stark industrialisiert, sagt Wolfgang Stölzle, Professor für Logistikmanagement und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Supply-Chain-Management an der Universität Sankt Gallen. Das Problem: „Diese hochstandardisierten und hochautomatisierten Prozesse beißen sich mit dem Trend zur zunehmenden Individualisierung. Denn spezifische Kundenbedürfnisse im Hinblick auf Zustellort und -zeitfenster sind mit industrialisierter Logistik schwer zu vereinen.“ Die Firma muss sich also entscheiden – soll alles möglichst schnell und kostengünstig nach einem festgelegten Plan funktionieren oder ist ein flexibler Ablauf wichtiger?
Tourenplanung per Algorithmus
Wie schwierig eine Antwort auf diese Frage ist, zeigt die Herausforderung der Haustürzustellung. Für die kommenden Jahre geht Hitschfeld davon aus, dass die meisten Kunden ihre Pakete bevorzugt nach Hause liefern lassen werden – das sei einfach am bequemsten. In den Ballungsgebieten können bereits jetzt zehn Millionen registrierte DHL-Kunden praktisch jederzeit ihre Pakete stoppen oder umlenken – bis kurz vor der Ankunft. Wer genau weiß, dass er nicht da ist, wenn das Päckchen kommt, leitet es in den Schuppen im Garten um, zum Beispiel per Klick in der Smartphone-App. Wer kurzfristig die Wohnung verlassen muss, verschiebt den Zeitpunkt der Lieferung einfach um ein paar Stunden. Und wer überhaupt nicht planen will, lässt den Zusteller einfach testweise klingeln. Wenn niemand die Tür öffnet, bringt er das Paket an einen vereinbarten Ort. „Rerouting“ heißt das in DHL-Fachsprache. Unkalkulierbares Risiko könnte man auch sagen. Schließlich kann jeder einzelne Kunde ständig in den Weg der Pakete eingreifen.
In der Theorie profitieren beide Seiten von der neuen Spontaneität: Je enger und regelmäßiger der Kontakt zum Empfänger ist, desto höher sind die Chancen für den Logistiker, Sendungen im ersten Anlauf loszuwerden. Alles andere verursacht nur zusätzliche Kosten – auch wenn der Konzern über die genaue Höhe lieber schweigt. Für den Endkunden liegt der Vorteil ebenfalls auf der Hand: Er erhält sein Paket direkt am gewünschten Ort und muss der Sendung nicht bis in die nächste Postfiliale hinterherlaufen. In der Praxis bedeutet das für die Post ein Umdenken.

Neue Ideen für die Zustellung müssen her: In geographisch schwierig erreichbaren Gegenden beispielsweise per Drohne oder an Knotenpunkten wie Bahnhöfen über dort aufgestellte Packstationen. (Foto: DHL)
17 Kilometer entfernt vom Innovation Center wird an einer Lösung getüftelt. In der Nähe des Post-Towers in Bonn-Gronau liegt das Büro von Clemens Beckmann, Geschäftsbereichsleiter
Innovationen für die Division „Post – E-Commerce – Parcel“ (PeP). Mit seinem Team versucht er, den optimalen Tourenplan der Zukunft zu berechnen. Wobei eigentlich kaum mehr die Rede von einem Plan sein kann. Denn auf der digitalisierten letzten Meile fährt der Zusteller zwar mit einem ersten Ziel vor Augen los, muss aber ständig mit einer spontanen Änderung rechnen. „Wenn der Empfänger in Zukunft jederzeit in den Zustellprozess eingreifen kann, muss die Tourenplanung fast in Echtzeit aktualisiert werden“, sagt Beckmann. Bereits am Vortag ausgerechnete Routen-
pläne haben ausgedient – erst recht, wenn sich Kunden dafür entscheiden können, dass sie ein Paket noch am selben Tag erhalten wollen. Dann lädt der Zusteller nicht mehr nur einfach ab, sondern sammelt auf dem Weg auch noch gleichzeitig ein paar Kisten ein.
So startet eine Fahrt mit unendlich vielen unbekannten Wendungen. „Mit Same-Day-Delivery und der Zustellung im Wunschzeitraum müssen wir unser Wissen deutlich erweitern, da extrem viele neue Planungsparameter hinzukommen“, sagt Beckmann. In den Postalltag übersetzt heißt das: Der Fahrer weiß morgens nicht, wo er während des Tages überall hinfahren wird. „Wir entwickeln dazu neue Algorithmen.“ Um die mathematischen Probleme zu lösen, holt sich das Team Hilfe beim Bonner Forschungsinstitut für Diskrete Mathematik, das unter anderem für Chip-Design bekannt ist und sich mit Kombinatorischer Optimierung beschäftigt – einem Teilgebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Man könnte von einem Zufallsexperiment sprechen: Trotz all der unbeeinflussbaren Faktoren will der Konzern vorhersagen können, wann ein Paket ankommt. DHL verschickt inzwischen standardmäßig eine Vorwarnung per Mail, wenn sich die Sendung im Anflug befindet. Bei dieser sogenannten Paketavise sieht der Leiter des Privatkundengeschäfts Luft nach oben: „Wir wollen künftig noch besser verstehen, wie verschiedene Faktoren, zum Beispiel das Verkehrsaufkommen oder auch das Wetter, unsere Fahrten beeinflussen“, sagt Hitschfeld. „Ziel ist, den Zeitpunkt der Zustellung noch genauer vorhersagen zu können.“ Briefe lassen sich auf ihrem Weg bislang noch nicht so genau verfolgen – ein Thema, das PeP-Innovationschef Beckmann künftig angehen will.
Die Post muss die letzte Meile bewältigen, denn die Digitalisierung eröffnet eine Welt der Sonderwünsche.
Doch selbst wenn die Wege absolut flexibel und optimal berechnet sind, ist die Digitalisierung der letzten Meile noch nicht perfekt. Vor Ort tauchen für Zusteller weitere Fragen auf: Wo ist der nächste Parkplatz? Wo befindet sich der Eingang zum Hinterhaus? Und welcher Weg ist der kürzeste dorthin? Bislang ist dieses Wissen in den Köpfen einzelner Mitarbeiter gespeichert – was Probleme verursacht, wenn sich das Personal ändert. Deshalb sei ein Ziel, Daten im Konzern besser verfügbar zu machen, so Beckmann.
Über sogenannte „Heatmaps“ lasse sich zum Beispiel erkennen, wo Fahrzeuge häufig parkten – eine Information, die schließlich an andere Zusteller weitergegeben werden könne. Derzeit testet die Innovationsabteilung, wie sich Daten als Augmented Reality ausspielen lassen. Statt einfacher Adresse könnten per Brille oder Smartphone auch Zusatzinformationen wie der genaue Weg zur Haustür angezeigt werden. Es ist auch denkbar, dass der Zusteller darüber informiert wird, dass das Kleinkind in einem Haushalt von 12 Uhr bis 15 Uhr schläft, und er statt Klingel den Ersatzschlüssel unter der Fußmatte verwenden soll. Genauere Angaben zum Erfolg der Tests mit Augmented Reality will der Konzern derzeit aber noch nicht machen. Immerhin zu einem Thema gibt die Post ein klares Statement ab: Anders als die Konkurrenten DPD und Hermes hegt sie aktuell keine Pläne, eine Gebühr für die Haustürzustellung einzuführen. Die soll vorerst kostenlos bleiben.
Aber den Weg zur Haustür meistern zu wollen, das ist noch das alte Denken. Dass die letzte Meile auch ganz anders aussehen könnte, zeigt sich in Troisdorf. Dort demonstriert DHL in einer Halle zwischen Büro- und Seminargebäuden die Schmuckstücke der hausinternen Entwicklungsarbeit. Auf dem überdimensionalen Bildschirm im Innovation Center schwirrt eine Drohne über die verschneite Bergkulisse. Der sogenannte „Paketkopter“ landet auf einer umgebauten Packstation, die sich nach oben öffnen lässt. Eine Szene aus dem bayerischen Ort Reit im Winkl. Fast zwei Jahre ist die Aufnahme alt, aber auch heute noch wird sie Gästen bei Führungen prominent präsentiert. Es soll der Eindruck entstehen: Hier wird an Innovationen getüftelt. Abgesehen von Klassikern wie den Packstationen und Paketkästen, die als eine Art übergroßer Briefkasten an Hauseingängen stehen, werden auch Neuheiten wie die Zustellung im Kofferraum präsentiert – ein Vorzeigeprojekt der Deutschen Post.
Seit 2015 arbeitet der Konzern daran, Autos zur mobilen Paketablage zu entwickeln – zunächst als Pilotprojekt im Raum München mit Amazon Prime und Audi. Inzwischen sind auch Smart und Volkswagen mit an Bord für Praxistests in Berlin, Stuttgart, Köln und Bonn. Das Prinzip ist einfach: Der Zusteller erhält die GPS-Koordinaten des Fahrzeugs, fährt in die Nähe und kann es mit einem Transponder anpingen. Am Auto gibt er die im Onlineshop generierte TAN-Nummer ein – und zur Sicherheit auch das Kennzeichen. Dann öffnet sich der Kofferraum und das Paket wird hinterlegt. In Zukunft soll die Freigabe ohne Code laufen, einfach, indem die Backends der Systeme direkt miteinander kommunizieren.
Für die Kofferraumlösung will das Unternehmen speziell junge Leute in deutschen Großstädten begeistern. Das nötige Vokabular haben sich seine Vertreter schon bei der hippen Konkurrenz abgeschaut: Mit „Unattended Delivery“ will DHL die „Customer Convenience“ erhöhen. Im Klartext: Man muss nicht immer zu Hause auf das warten, was man will. „Die Kofferraumzustellung wird es voraussichtlich innerhalb der kommenden zwei Jahre in die breite Anwendung schaffen, weil immer mehr Autos – vor allem Neuwagen – mit Connected-Car-Anwendungen ausgestattet werden“, sagt Privatkunden-Manager Hitschfeld. Auf der digitalisierten letzten Meile sind dann bald nicht mehr nur die Versandhändler, deren Logistiker und die Paketempfänger online, sondern eben auch Autos, Briefkästen und Packstationen.
Ein Bot für den Briefträger
Während die Post mit Paketen ordentlich Geld verdient, schwächelt allerdings ihr Kerngeschäft: die Zustellung von Briefen. In Deutschland werden jedes Jahr weniger Briefe verschickt, so schrumpft der Markt mit zwei bis drei Prozent pro Jahr. Der E-Postbrief sollte wieder für Aufwind sorgen, erwies sich aber zumindest bei Privatkunden als großer Flop und Millionengrab – auch wenn das Unternehmen offiziell noch immer an das Konzept glaubt. Es gibt aber noch andere Wege, mit denen die Post das traditionelle Briefgeschäft digitalisieren will.
Das jüngste Vorzeigeprojekt aus der Welt der Briefe rollt von Zeit zu Zeit durch das hessische Bad Hersfeld. Dort heftet sich der sogenannte „Postbot“, ein Roboter in Kastenform, an die Versen der Zusteller und folgt ihnen auf ihrer Tour entlang der Briefkästen der Stadt. Der Bot soll die Briefträger körperlich entlasten. In Zukunft könnte er aber noch höhere Dienste erfüllen. Der Bot könnte beispielsweise selbstständig Nachschub an Briefen holen, sobald er leer ist. So würden sich die menschlichen Kollegen ein paar Wege sparen. Noch sind aber einige rechtliche Fragen zu klären – vorerst darf der kleine Roboter deshalb nur teilautonom durch die Stadt fahren. Er muss also im Sichtfeld eines Zustellers bleiben. Der flächendeckende Einsatz dürfte daher noch in weiter Ferne liegen.
Dass die Deutsche Post auf so viele unterschiedliche Methoden setzt, hängt mit ihrer jetzigen Situation zusammen. „Der Konzern profitiert natürlich von enormen Netzwerkvorteilen sowie seiner Rolle als Marktführer“, sagt Christian Cohrs. Er verfolgt die Geschäftsentwicklung der Post für die Hamburger Privatbank M.M. Warburg seit Jahren. Das Unternehmen könne es sich durch diese Position gut leisten, viele Testballons in der Luft zu halten. Trotzdem sieht er die Innovationspläne nicht als reinen Aktionismus, sondern lobt die Strategie des Konzerns: Die Post habe schon einige richtige Entscheidungen getroffen. „Mit Innovationen wie Packstation oder Postbot hat die Deutsche Post DHL sehr früh die richtigen Schritte gemacht“, so Cohrs.
„Mit Innovationen wie Packstation oder Postbot hat die Deutsche Post DHL sehr früh die richtigen Schritte gemacht.“
Bei allem Lob für den Innovationsgeist – die Post muss sich auch digitalisieren, schließlich sitzt ihr ein großer Konkurrent im Nacken. „Seit Jahren hält sich in der Branche das Gerücht, dass Amazon auch die komplette Distributionslogistik in Eigenregie übernehmen will“, sagt Logistikprofessor Stölzle. „Das steigert den Druck auf die etablierten Logistikdienstleister.“
Eine eigene Flugzeugflotte hat sich der Internetgigant von Jeff Bezos bereits zugelegt. Die geleasten Frachtmaschinen der „Prime Air“ steuern künftig den US-Flughafen Cincinnati im Norden Kentuckys als Drehkreuz an. Auch Paketkästen und Lieferung per Drohne treibt der Onlinehändler voran. Außerdem will Amazon einen Eigenentwurf der Packstation in Deutschland etablieren: Die sogenannten Locker sind bereits an vielen Standorten im Einsatz, darunter Berlin und München. Mit The Hub bastelt Amazon in den USA auch an einer Art Paketstation für zu Hause.
Doch wie ausgefeilt sind die Pläne aus Seattle wirklich? Analyst Cohrs vermutet, dass Amazon zumindest für den Augenblick keine große Gefahr für DHL darstellt – auch weil der Konzern zunächst schwächere Logistikanbieter abstoßen würde. Dauerhaft könnten die Seattler jedoch zum Problem werden. Es wäre beispielsweise denkbar, dass sie auch Logistikleistungen für andere Unternehmen anbieten. Dann wären sie nicht mehr nur ein Kunde weniger für die Deutsche Post, sondern auch ein direkter Konkurrent.
Konzernchef Frank Appel hat es einmal so formuliert: Amazon sei ein herausfordernder Kunde und wecke den „sportlichen Ehrgeiz“. Bleibt die Frage, wie lange reiner Ehrgeiz noch ausreicht und ob sich der Konzern nicht irgendwann dem Konkurrenten aus Seattle geschlagen geben muss.
Vielen Dank für den interessanten Artikel!