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Karriere-Neustart: Wenn die Sinnsuche zur Dauerbelastung wird

Sich neu erfinden, die Karriere auf den Kopf stellen: Kaum ­etwas scheint heute reizvoller zu sein, als den Reset-Knopf zu ­drücken. Auf Instagram feiern wir uns dann dafür. Woher aber kommt die große Sehnsucht nach dem Sinn? Und was macht sie mit uns?

Von Luca Caracciolo
6 Min.
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(Foto: Shutterstock)


Herausfinden, was wir „wirklich, wirklich“ wollen: Das ist der Leitspruch von Frithjof Bergmann, dem geistigen Urvater der New-Work-Bewegung. Er wiederholt ihn gebetsmühlenartig, kein anderer Satz ist stärker mit ihm verbunden als dieser. Was er ­damit meint: Herausfinden, welche Tätigkeit, Arbeit, welcher Beruf wirklich zu einem passt – und sich eben nicht mit vorgefertigten Karrieremustern zufriedengeben.

Mit dieser Haltung hat er bereits in den 1970ern die permanente Sinnsuche unserer Zeit vorweggenommen. Eine Idee ­davon zu entwickeln, was man im Leben wirklich, wirklich will, hängt heute wie ein Damoklesschwert über dem Alltag vieler Menschen. Bin ich eigentlich glücklich? Mit meiner Wohnung, mit meiner Beziehung, mit meinem Job, mit meinem Leben?

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Denn die Optionen sind heute vielfältiger denn je. Wer 20 Jahre als Bauingenieur gearbeitet hat und plötzlich meint, sein Hobby zum Beruf zu machen und selbst genähte Sportbekleidung verkaufen zu wollen: Das Internet macht’s möglich. Ein paar Klicks und schon ist der eigene Shop aufgesetzt. Ein paar Klicks mehr, und die ersten Waren landen im Sortiment. Gestern noch auf der Baustelle herumgelaufen, heute an der Nähmaschine die eigene Sportkollektion realisiert.

Die Sinnsuche beschäftigt uns ja selbst in den Kleinig­keiten des Alltags permanent. Ist es moralisch verwerflich, wenn ich doch die Gurke in der Plastikverpackung kaufe, weil sie im Sonder­angebot ist? Ist es menschlich, zu rechtfertigen, wenn ich eine Verabredung mit einem Freund absage, der mich ­gerade eher nervt? Will ich so einen Freund überhaupt haben? Ist es gesellschaftspolitisch in Ordnung, wenn meine Tochter einfach lieber mit Barbies spielt als mit Spielzeugautos? Obwohl ich sie ­möglichst vorurteilsfrei erziehen will?

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Sinn statt Sicherheit

Dass die fundamentale Frage nach dem Sinn zunehmend ­gestellt wird, ist kein Zufall. Der Soziologe Andreas Reckwitz erklärt ausführlich, wie sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte die ­Subjektkultur, also das Verständnis vom Selbst, verändert hat. In der industriellen Moderne der 1950er- und 1960er-Jahre war das Subjekt vor allem vom Leitbild ­sozialer Anpassung, Sachlichkeit und dem Ideal der Selbst­diszi­plin und Pflichterfüllung geprägt. Heute haben wir es eher mit einem Modell vom Selbst zu tun, dessen „primäres Ziel es ist, sich in seinen Wünschen und Möglichkeiten zu entfalten und das auf hohen sozialen Status und auf eine entsprechend gelungene Selbstdarstellung vor anderen ausgerichtet ist“.

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Diese Veränderung im Selbstverständnis der Menschen lässt sich historisch begründen: In den Nachkriegsjahren stand das Bedürfnis nach ökonomischer Sicherheit und sozialer Stabilität im Vordergrund. Heute, in wirtschaftlich stabileren Zeiten, geht es viel stärker um Entfaltung und Selbstverwirklichung. Eine Kultur der Differenzierung und des Andersseins hat längst den Wunsch nach Einheit und Angepasstsein verdrängt.

Reckwitz spricht von der „Gesellschaft der Singularität“, weil das Selbst, aber auch das Kollektiv, alltäglich auf der Suche nach einzigartigen, sich von anderen abhebenden Erlebnissen ist. Es reicht eben nicht mehr, „schick essen zu gehen“. Das Restaurant muss ein Geschmackserlebnis bieten, wenn möglich, an einem ausgefallenen Ort sein und mit einzigartigem Interieur aufwarten.

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Instagram ist der digitale Kristallisationspunkt dieser spätmodernen Subjektkultur. Fast jede Aktivität muss ein Erlebnis sein: Wir überhöhen selbst banalste Tätigkeiten, um sie vor den Augen unserer Follower zu zelebrieren. Es ist kein Zufall, dass Instagram deutlich weniger anfällig für Hass und Hetze ist. Hier ging es von Anfang an ums Zeigen und Leben. Ein Übermaß an negativen Äußerungen und Interaktionen würde die soziale Funktion von Instagram unterminieren.

Die Sinnsuche in allen Lebensbereichen wird zunehmend anstrengend, denn wer alles ständig auf den Prüfstand stellt, findet nicht zur Ruhe. Der Stresslevel des Lebens steigt exponentiell an. Denn was gibt noch Halt in einer Welt, die kaum noch Gewissheiten zulässt? Permanent herauszufinden, was das persönliche Glück wirklich, wirklich ausmacht, kommt heute im wahrsten Sinne des Wortes einer Sisyphosarbeit gleich: In der griechischen Mythologie ist die ­Figur Sisyphos vor allem dafür bekannt, dass sie für ihren Frevel in die Unterwelt verbannt wurde und zur Strafe einen Felsblock auf ewig einen Berg hinaufrollen muss, der, fast am Gipfel angekommen, jedes Mal wieder ins Tal rollt.

Die immerwährende Sinnsuche als nicht enden wollende Last? Der fortwährende Versuch, für sich den Lebenssinn herauszufinden, hat auch etwas von persönlicher Kontrolle und Herrschaft über das eigene Leben. In unserer modernen Gesellschaft, die ohne eine Vielzahl von Regeln, Routinen und Kontrollmechanismen nicht funktionsfähig wäre, überrascht es jedenfalls nicht, dass auch das eigene Leben einer regelmäßigen Kontrolle unterworfen wird. Wie funktional fügt sich ein Essen, ein Kleidungsstück, eine Wohnung, ein Partner, ein Job in mein Leben ein? Stimmt noch alles oder muss ich aktiv werden?

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Unverfügbarkeit als Lebensphilosophie

Der Soziologe und Philosoph Hartmut Rosa beschreibt die fortwährende Sehnsucht nach individueller Kontrolle in modernen Gesellschaften als „Begehren, die Welt verfügbar zu machen“. Was aber passiert, wenn wir fortlaufend Kontrolle ausüben wollen? „Eine Welt, die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt“, schreibt Rosa. Tot deshalb, weil ­Lebendigkeit und Erfahrung aus dem Wechselspiel von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit entsteht. Neue Jobs und berufliche Herausforderungen mögen in einer hoch vernetzten Welt permanent verfügbar sein. Aber spezielle Dinge wie etwa die ­neuen ­Kollegen, die Arbeitsumgebung, die neue Stadt: Nicht alles ist planbar. Es bleibt immer eine gewisse Unverfügbarkeit von Faktoren, die nicht in unserer Macht stehen. Wenn ich die perfekte Stelle für mich gefunden habe, sich aber herausstellt, dass der Vorgesetzte komplett anders tickt als ich? Was dann?

Wenn sich die Sinnsuche als ständige Beherrschbarmachung unserer unmittelbaren Umwelt vollzieht, und wir fortwährend den Sinn unseres Alltags infrage stellen, permanent unser ­Leben nach bestmöglichen Sinnzusammenhängen optimieren, auf der Suche nach dem perfekten Job von Kündigung zu Kündigung springen –, dann sollten wir uns mal eine kurze Auszeit geben. Denn die schlichte Erkenntnis ist: Nicht alles ist beherrschbar, verfügbar, so sehr wir es vielleicht auch wollen.

Nicht jeder kann es sich leisten, von heute auf morgen um­zusatteln und aus seinem Beruf auszusteigen, zu kündigen und ­alles hinter sich zu lassen: Finanzielle Gründe, familiäre Verpflichtungen, kulturelle Gewohnheiten als Hindernisse können wie unüberwindbare Mauern wirken. Sinnstiftende Lebensentwürfe, wie sie auf Instagram und anderen Plattformen aufgeführt und vorgelebt werden, sind nicht von jedem einfach so realisierbar. Sie entziehen sich immer auch ein Stück unserer Kontrolle und bleiben in gewisser Weise unverfügbar.

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Fast jede Aktivität muss ein ­Erlebnis sein: Wir ­überhöhen selbst banalste ­Tätigkeiten, um sie vor den Augen unserer ­Follower zu zelebrieren.
Das ist auf individueller Ebene vielleicht der Grundwiderspruch unserer Zeit: „Im grellen Licht der Öffentlichkeit tanzt die ­spätmoderne Kultur ums goldene Kalb der positiven Emotionen und bringt zugleich im Verborgenen (…) systematisch negative Emotionen von erheblicher Intensität hervor. Diese gründen in der Enttäuschung angesichts einer wahrgenommenen Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität“, schreibt der Soziologe ­Reckwitz. Aus Enttäuschung erwächst Wut. Und wer wütend ist, überträgt sein Gefühl meist auf andere. Hass und Hetze im Netz sind ein Symptom dieser unbändigen Wut auf ­vorgeführte ­Lebensweisen, die nur einer privilegierten Minderheit offen­stehen.

Sollten wir im Job und Privatleben also doch lieber alles so belassen, wie es ist? Alles nicht so schwarz sehen? Sicher nicht. Es gibt heute einfach zu viele tolle Möglichkeiten, Dinge zu tun und sich auszuprobieren. Allein die Vernetzungs- und Kommunikationsmöglichkeiten übers Netz, die ungeheure Wissens­vermittlung, die damit verbunden ist, lässt uns fortwährend auf Neues stoßen. Wenn ein Topmanager vielleicht doch lieber als Tierpfleger arbeiten will oder eine Erzieherin die Herausforderungen in einem internationalen Konzern sucht: Für alles gibt es als Startpunkt eine Facebook-Gruppe.

Damit die Sinnsuche aber nicht zur psychischen Dauerbelastung wird, kann es helfen, nicht dauernd alles und jeden permanent infrage zu stellen. Phasenweise auch einfach mal ein wenig mehr vor sich hinleben, die Seele baumeln lassen, den Optimierungswahn aussetzen. Ein bisschen mehr unverfügbar sein. Denn ist es nicht das, was wir wirklich, wirklich wollen?

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2 Kommentare
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Dein t3n-Team

Leo

Interessante Denkanstöße. Die ständige Verfügbarkeit ist meiner Meinung nach auch ein Grund, weshalb Schallplatten und Analogfotografie über die letzten Jahre so ein Comeback feiern… Alles kann heutzutage jederzeit und (nahezu) von jedem Punkt dieser Welt gestreamt werden. Einerseits natürlich technologisch absolut faszinierend und in vielerlei Hinsicht auch schön und bequem. Aber auf Dauer auch erfüllend?

Etwas unzufrieden bin ich mit dem Beispiel der in Plastik verpackten Gurke. Die ist nach aktueller Studienlage weniger klimabelastend, als die unverpackte, da die Verluste bei unverpackten Gurken deutlich höher sind. Ansonsten gelungener Artikel, der zum Nachdenken anregt.

Antworten
Victor

Was ist anders an dem, was überall jederzeit verfügbar ist, und dem, was es nicht ist, ausser dieses?
Es ist nur die Exklusivität. Das ist ja im allgemeinen ein positiv besetzter Begriff. Für mich überhaupt nicht. Übersetzt bedeutet es „ausschließend“. Was ist positiv daran ausgeschlossen zu sein bzw. andere auszuschließen? Exklusiv sein, Elite sein, das ist meiner Auffassung nach nur das Armutszeugnis über ungenügend Rechenleistung zu verfügen und sich deshalb asozial verhalten zu müssen. Also wie scheisse ist es für Exklusivität zu bezahlen?
„Seltenheit“ von Luxusgütern, Sammlertrieb…
Im Virtuellen kann das nicht mehr als ein Spiel sein. I love it. Und wie albern ist es, Exklusivität im virtuellen Raum künstlich zu erzeugen, wie manche es tun? 100%

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