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Putin spinnt sein Netz: Was mit der Netzpolitik in Russland passiert

Mit einem Gesetz will der russische Staat das Internet im Land stärker überwachen als bisher. Das Ziel, so befürchten Kritiker: Die politische Kommunikation kontrollieren. Kann das gelingen?

Von Jan Lindenau
12 Min. Lesezeit
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„Fake“: Ein junger Oppositioneller protestiert im März 2019 in Moskau gegen das Gesetz, mit dem der russische Staat das Internet stärker kontrollieren will. (Foto: picture alliance/ZUMA Press)


Als Zehntausende Moskauer in diesem Sommer auf die Straße gingen, wussten sie, dass es kein Spaziergang werden würde. Sie protestierten für freie Wahlen, da zeigt sich die Staatsmacht schnell von ihrer härtesten Seite. Doch kaum jemand hatte am 27. Juli 2019 ein so massives Einschreiten erwartet: Man rechnete nicht mit der Zahl von 1.373 Menschen, die festgenommen wurden. Man rechnete nicht mit den Schlagstöcken der russischen Nationalgarde, die auf Männer und Frauen, gleich welchen Alters, immer wieder niedergingen. Und man rechnete nicht mit dem, was mit den Geldautomaten in den Innenstädten passierte: Sie funktionierten nicht mehr.

Auch die Handys vieler Demonstranten konnten sich nicht ins Internet einwählen. Die Anbieter erklärten das mit einer Überlastung des Netzes. In den folgenden Wochen trugen einige ­Aktivisten Geräte mit sich, um den Datenstrom exakt zu ­messen. Spätestens am 31. August hatten sie dann den Beweis: Bei ­einigen Providern waren die 3G- und LTE-Frequenzen nicht mehr verfügbar, Telefonieren war jedoch noch möglich. Das Internet war nicht überlastet. Es war abgeschaltet worden.

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Was bei den Protesten in Hongkong Alltag ist, sorgte in Russland für Empörung. Das Netz war schließlich der Ort, an dem russische Bürger jahrzehntelang die Freiheit spüren konnten, die sie in der ­Offline-Welt oft vermissten. Sie sollten es spätestens am 1. November 2019 begreifen – dem Tag, an dem das Gesetz zum „souveränen ­Internet“ in Kraft getreten ist.

Souverän, so sagen die Schreiber des Gesetzes, das bedeutet Sicherheit vor gefährlichen Inhalten, aber auch Unabhängigkeit vom Ausland und seinen schädlichen Einflüssen. Alle Internet­provider müssen eine mächtige Filtertechnologie zwischenschalten, mit der der Staat potenziell jedes Datenpaket überwachen und manipulieren kann. Auf Wunsch könnten Zugriffe auf ­bestimmte Angebote – beispielsweise Facebook oder ­Google – gedrosselt oder geblockt werden. Im Notfall, etwa während ­Protesten oder vor Wahlen, so das Gesetz, könnte man Teile des russischen Internets sogar komplett vom Ausland abkoppeln.

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Souverän, so sagen die Kritiker des Gesetzes, wolle lediglich der Staat im russischen Internet werden. Wenn die Technologie funktio­niert, käme das einer potenziellen Totalüberwachung gleich. Und sollte sie nicht funktionieren – wovon einige Experten ausgehen: ­Allein für die Ausrüstung mit Filtertechnologie werden millionenschwere Staatsaufträge vergeben, an denen sich Beamte und Unternehmer bereichern könnten. Dazu hat das Gesetz eine symbolische Wirkung – als schwerster Angriff auf ein freies Internet, das man in Russland über Jahrzehnte zu schätzen gelernt hat.

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Gesperrt wird heute schon – erfolglos

Ein Freitagabend Mitte Oktober 2019, es ist der 30. Geburtstag von ­Wladislaw Sdolnikow. Dem Blogger ist heute nicht zum ­Feiern ­zumute, er stößt lediglich mit Kaffee im To-go-Becher an, bevor er in einem kleinen Café in der Moskauer Innenstadt über die Zukunft des russischen Internets spricht.

Der Blogger und Aktivist Wladislaw Sdolnikow bespielt einen Telegram-Kanal, auf dem er aktuelle Infor­mationen zur russischen Internetzensur teilt. Nicht zuletzt deshalb ist der Messenger dem Staat ein Dorn im Auge. (Foto: Jan Lindenau)

Der Blogger und Aktivist Wladislaw Sdolnikow bespielt einen Telegram-Kanal, auf dem er aktuelle Infor­mationen zur russischen Internetzensur teilt. Nicht zuletzt deshalb ist der Messenger dem Staat ein Dorn im Auge. (Foto: Jan Lindenau)

Sdolnikow war einer der Menschen, die bei den Protesten im Sommer die Netzabschaltungen untersuchten, dokumentierten, veröffentlichten. Er ist Blogger, Aktivist, IT-Spezialist, einer der profiliertesten Experten zum Thema Internetblockierungen in Russland. Anstrengende Monate liegen hinter ihm: Da waren nicht nur die Moskauer Stadtwahlen im September, bei denen Kandidaten der Opposition nicht zugelassen wurden, ein Sommer voller Proteste, Festnahmen, Schikanen, online wie offline. Da war auch Sdolnikows persönlicher Bruch mit der Anti-Korruptions­initiative des bekanntesten Oppositionspolitikers Russlands, Alexej Nawalny, die er siebeneinhalb Jahre lang ehrenamtlich beraten hat. Mit den internen Intrigen und Machtkämpfen wolle er sich nicht noch zusätzlich belasten, sagt er.

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Denn das wirklich Beunruhigende, das sei das Gesetz vom souveränen Internet, das bis 2021 komplett umgesetzt werden soll. Es gebe eine Videoaufzeichnung der ersten Sitzung des zuständigen Komitees, erzählt Sdolnikow: „Da haben alte, nicht ­unbedingt kluge Menschen anderthalb Stunden lang darüber ­geredet, wie man dem Internet am besten den Hahn abdreht.“

Technisch sei es jetzt schon möglich, Internetprovider dazu zu zwingen, bestimme Angebote zu blocken. Es gibt eine Liste von IP-Adressen, die man im russischen Internet nicht ansteuern kann. Das Jobnetzwerk Linkedin etwa ist nicht abrufbar, weil der US-Anbieter keine Daten auf russischen Servern speichert.

Glaubt man Sdolnikow, so will der russische Staat die volle ­Kontrolle darüber haben, was die Bürger im Internet sehen und schreiben können. „Natürlich träumt die Präsidialverwaltung ­davon, Youtube, Twitter und Facebook abzuschalten. Aber sie versteht auch sehr gut, dass sie das nicht von einem Moment auf den anderen machen kann“, sagt er. Denn das würde zum einen für Proteste in der Bevölkerung sorgen. Zum anderen könnte man die Sperre derzeit noch recht einfach umgehen – beispielsweise, wenn man mithilfe eines VPN-Zugangs vorgibt, gar nicht in Russland zu sein.

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Wie das technisch machbar ist, hat Sdolnikow selbst gezeigt: Als man in Russland im Frühjahr 2018 versuchte, den Messenger-Dienst Telegram zu blockieren, entwickelte er das Angebot TgVPN. Das und ähnliche Anwendungen zeigten dem russischen Staat den Mittelfinger: Ihr wollt Telegram sperren? Seht her, wir umgehen diese ­Sperre einfach. Der Messenger blieb funktions­fähig, wurde sogar immer beliebter, jeder dritte russische Smartphone-Besitzer verwendet ihn mittlerweile.

„Da haben alte, nicht ­unbedingt kluge ­Menschen anderthalb Stunden ­lang darüber geredet, wie man dem ­Internet am ­besten den Hahn abdreht.“

Das liegt vor allem an den Kanälen, die man auf Telegram abonnieren kann: Für jedes Thema, das man sich vorstellen kann, gibt es einen. Auch Sdolnikow führt einen eigenen. Mit rund 50.000 Followern den erfolgreichsten Kanal zum Thema Internetzensur, seine Abonnenten versorgt er hier mit aktuellen Informationen. In Russland gehören Telegram-­Kanäle zum Social-Media-Mix, genauso wie ein Instagram-Profil oder ein Youtube-Kanal: ­Zeitungen haben Kanäle, in denen sie ihre Artikel bewerben, Promis teilen Memes und Urlaubsvideos, Blogger senden authentische Berichte oder verbreiten auch mal Falschmeldungen und Gerüchte. Es gibt politische Diskussionsgruppen, aber auch Kanäle mit radikalen und menschenverachtenden Inhalten. Jeder kann schreiben, was er oder sie will, anonym und verschlüsselt. Genau das rückte Telegram ins Visier des russischen Staatsapparats.

Wenn die Internetpolizei Mist baut

Behörden haben in Russland meist zwei Namen. Einen ­offiziellen, den sich kaum jemand merkt, und eine Abkürzung. So ist es auch bei der Behörde, die das Internet überwacht. Während den „Föderalen Dienst für die Aufsicht im Bereich der Kommunika­tion, Informationstechnologie und ­Massenkommunikation“ kaum jemand kennt, ist das Akronym „Roskomnadsor“ zum Synonym für Internetpolizei geworden.

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Diese Behörde ist relativ jung, 2008 wurde sie gegründet und wird seitdem Jahr für Jahr mächtiger. Seit 2012 überwacht sie die Liste gefährlicher Internetseiten und führt Sperrungen durch – vor allem solche aus dem Bereich Kinderpornografie, Drogen, Extremismus, aber auch Aufrufe zu Massenprotesten. Einige Pannen sorgten im russischen Internet für ordentlich Häme. So schmierten 2016 in Russland für kurze Zeit alle per Amazon Web Services (AWS) gehosteten Angebote ab, von Netflix bis Dropbox. Der Grund: Lediglich eine Online-Poker-Werbung sollte geblockt werden. Die wurde allerdings von AWS gehostet. Das hatte eine fatale Folge: Roskomnadsor blockte unabsichtlich alles, was von AWS gehostet wurde.

Ein anonymer Internetaktivist hat in Ekaterinenburg auf Russisch ­„souveränes Internet“ an eine Hauswand gesprayt. Stellt man die Buchstaben nach der ­darunter ­stehenden IP-­Adresse um, ergibt sich ein neues Wort: „Abergläubisches Internet“. (Foto: Jan Lindenau)

Ein anonymer Internetaktivist hat in Ekaterinenburg auf Russisch ­„souveränes Internet“ an eine Hauswand gesprayt. Stellt man die Buchstaben nach der ­darunter ­stehenden IP-­Adresse um, ergibt sich ein neues Wort: „Abergläubisches Internet“. (Foto: Jan Lindenau)

Der Fall zeigte, was für ein rabiates Mittel solche Voll­sperrungen sein können. Mit dem Gesetz zum souveränen ­Internet soll die russische Internetpolizei nun ein präziseres Instrument an die Hand bekommen: russlandweite DPI-Technologie (Deep­Packet-Inspection). Mit Geräten, die jeder russische Internetprovider laut Gesetz zwischenschalten muss, ließe sich jedes Datenpaket im russischen Internet überprüfen – Absender, Ziel, Inhalt – und notfalls herausfiltern.

Noch ist allerdings nicht klar, wie DPI in einem russlandweiten Maßstab funktionieren wird. Roskomnadsor führte im Herbst erste DPI-Tests im Ural durch. Glaubt man der unabhängigen russischen Journalistin Alexandra Prokopenko, so sind die Tests vorerst gescheitert. Sie beruft sich dabei auf mehrere ­Quellen aus dem Verwaltungsapparat. Dazu sei schon eine Software aufgetaucht, die Nutzern zeigt, ob die eigenen Datenpakete mit DPI-Technologie gefiltert würden. „Es sieht nicht so aus, als würden die Instrumente funktionieren“, sagt Prokopenko.

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Sie sieht in DPI vor allem ein politisches Instrument, ein Tool für Propaganda. Die russische Führung verstehe die Technologie als Versprechen, sagt sie, eine moderne Lösung, um den negativen Gefühlen der russischen Bevölkerung zu begegnen. „Ein Mittel, um für Stabilität zu sorgen und Umfragewerte zu steigern, ist die Beeinflussung von Informationen: Nicht nur das ­Positive betonen, sondern das Negative zu blocken – buchstäblich“, sagt Prokopenko.

Nun hat Roskomnadsor bis Januar 2021 Zeit, um Russlands Internet umzubauen. Zyniker mögen sich wundern, dass das nicht schon früher geschehen ist. Tatsächlich entbehrt es nicht einer gewissen Komik, dass es ausgerechnet einem Mann zu verdanken ist, dass im russischen Internet nicht von Anfang an chinesische Verhältnisse herrschten. Dem Mann, der jetzt an der Spitze Russlands steht.

Es war der 28. Dezember 1999, als der russische Minister­präsident zwanzig führende Vertreter des noch jungen Runets (Kurzform für russisches Netz) ins Weiße Haus einlud. Der Name des damals 47-Jährigen: Wladimir Putin. Nur drei Tage später sollte er befördert werden – und damit den Titel erhalten, den er auch heute noch trägt: Präsident der Russischen Föderation.

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Die Frage, die Russlands Regierung bei diesem Treffen ­interessierte: Sollte die Vergabe von Domains vom Staat kontrolliert werden? Die Internetvertreter ahnten jedoch, so berichteten einige von ihnen im Anschluss, dass sich auch die Frage entscheiden würde, mit welchen Kontrollen im Internet zu rechnen sein sollte. Man war sich einig: je weniger Staat, desto besser fürs Geschäft – und für das Internet. Sie waren erfolgreich. Am Ende gab Putin, der eine Bedrohung seiner Macht seitens des Internets wohl nicht wirklich sah, ein Versprechen, das später oft zitiert werden und über zwölf Jahre gelten sollte: „Wir werden gar nicht erst die Balance zwischen Freiheit und Regulierung suchen. Unsere Wahl wird immer der Freiheit dienen.“

Pawel Durow hatte den Hund als Maskottchen von VK etabliert. Als der russische Staat im April 2018 gegen Telegram vorging, zog er ihm eine Kapuze über. Das Bild gilt seitdem als Zeichen für den digitalen Widerstand in Russland. (Screenshot: VK)

Pawel Durow hatte den Hund als Maskottchen von VK etabliert. Als der russische Staat im April 2018 gegen Telegram vorging, zog er ihm eine Kapuze über. Das Bild gilt seitdem als Zeichen für den digitalen Widerstand in Russland. (Screenshot: VK)

Was folgte, waren die goldenen Jahre der russischen­ IT-­Industrie. Große Unternehmen entstanden, die meisten nach US-amerikanischem Vorbild; Yandex lehnte sein Geschäftsmodell an Google an und ist mittlerweile die führende Suchmaschine in Russland: Beinahe 60 Prozent der Nutzer verwenden Yandex, weniger als 40 Prozent nutzen Google, zeigt der yandex-eigene Statistikdienst.

Das soziale Netzwerk VK wird von russischen Nutzern ­dreimal so häufig aufgerufen wie Facebook, auch das zweit­beliebteste Netzwerk ok.ru schlägt die US-Plattform deutlich. Lediglich Instagram hat kein erfolgreiches russisches Äquivalent. Ozon gilt als russisches Amazon, der US-Konzern hat in Russland nicht einmal ein eigenständiges Angebot.

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Kaum ein anderes Land hat es geschafft, eine solche ­Vielzahl von eigenen Unternehmen und Angeboten hervorzubringen, die auf lange Sicht den US-Anbietern die Stirn geboten und sie sogar überholt haben – abgesehen von der Volksrepublik China, dessen Internet von ­Beginn an restriktiv von ausländischen Angeboten abgeschottet wurde.

„Das russische Internet der Nullerjahre zeigt, wozu die ­russische Bevölkerung in der Lage ist, wenn man sie nicht drangsaliert“, erklärt der Filmemacher und Journalist Andrej Loschak in einem Interview. In sieben Folgen, insgesamt über vier ­Stunden lang, zeichnet er die Geschichten nach, die im Runet geschrieben wurden. Was als ein Klassentreffen beginnt, in dem sich ältere Männer nostalgisch an die aufregenden Jahre erinnern, endet mit der dystopischen Gegenwart. Große Unternehmen wie Yandex oder mail.ru, sie alle sind zwar immer noch höchst profitable Konzerne, immer noch innovativ, aber sie stehen immer mehr unter der Knute des Kremls: Staatskritische Unternehmer verlassen das Land, Oligarchen mit Verbindungen zu Putin sichern sich Anteile an großen Internetkonzernen, soziale Netzwerke kooperieren mit Sicherheitsbehörden.

Es ist bezeichnend, dass Dokumentarfilmer Loschak viele seiner Protagonisten nicht in Moskau oder Sankt Petersburg trifft, sondern in Villen im Silicon Valley. Der russische Investor Juri Millner etwa, der dank des Runets ein Milliardenver­mögen gemacht hat, erklärt vor laufender Kamera, dass er selbst ­keine ­Aktien mehr an russischen Unternehmen halte. Wieso, das ließ sich jüngst, Mitte Oktober 2019, beobachten: Als der Kreml ­einen Gesetzentwurf unterstützte, laut dem ausländische Beteiligungen an russischen Internetfirmen limitiert werden sollten, verlor das Suchmaschinenunternehmen Yandex an einem Tag 18 ­Prozent seines Marktwerts. Der Entwurf wurde rasch wieder geändert, die Aktie erholt sich seitdem wieder.

„Das russische Internet der ­Nullerjahre zeigt, wozu die russische ­Bevölkerung in der Lage ist, wenn man sie nicht drangsaliert.“

Doch nicht nur Investoren wenden sich vom Runet ab, auch ­viele Programmierer verlassen ihre Heimat. Russlands technisch-­mathematische Ausbildung, weltweit gelobt, hat zwar einige der besten Coder der Welt hervorgebracht. Aber die arbeiten jetzt ­lieber in Kalifornien oder Deutschland, in London oder ­Dubai als in Russland. Einige von ihnen führen jedoch den Konflikt mit den russischen Behörden weiter. So auch ein Kontrahent von ­Roskomnadsor, der der Behörde 2018 eine empfindliche Niederlage zufügte: der heute 35-jährige Pawel Durow.

Ein Papierflieger als Zeichen der ­Freiheit

Es war der 10. Oktober 2006, der 22. Geburtstag von Durow, als er von Sankt Petersburg das Fenster zum neuen russischen Internet aufstieß. VK ging an diesem Tag ans Netz, im Westen wird das Angebot häufig abschätzig als Facebook-Klon bezeichnet. Doch Durow entwickelte das soziale Netzwerk schnell zu ­einer ­Plattform, die Facebook in vielerlei Hinsicht überlegen war: ­Musik und Videos konnten hochgeladen und mit Freunden geteilt werden, Urheberrechte und Internetpiraterie kümmerten Durow wenig. VK war der Ort, den junge Russen nicht mehr verlassen wollten.

So war es auch der Ort, an dem sich 2011 VK-Nutzer in ­Gruppen zu Demonstrationen organisierten. Der russische Inlands­geheimdienst FSB forderte Durow mit Blick auf den sogenannten „Arabischen Frühling“ auf, diese Gruppen zu schließen. Durow weigerte sich, legte im Sommer 2013 mit der verschlüsselten Messenger-App Telegram sogar nach, als Logo wählte er einen Papierflieger. Der Druck auf Durow stieg immer weiter, bis die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelte. Er soll einen Verkehrs­polizisten bei einer Kontrolle verletzt haben, so der Vorwurf. Im April 2014 verkaufte Durow seine Geschäftsanteile dann an den Putinfreund und Unternehmer Alischer Usmanow, trat als CEO von VK zurück und verließ mit seinem älteren Bruder ­Nikolai, einem begnadeten Coder und Mathematiker, das Land. Den Messenger ­Telegram hingegen ließ er sich nicht nehmen, der seitdem ein Dorn im Auge der russischen Behörden ist.

Am 17. April 2018 nahm sich Roskomnadsor schließlich das Blockieren von Telegram vor. Russische Provider wurden dazu aufgefordert, die Anfragen zu blocken, die die IP-Adressen der Telegram-Server als Ziel hatten. Der Messenger sollte in Russland nicht mehr nutzbar werden. Kurz darauf versuchten sowohl Telegram als auch verschiedene Nutzer über Proxy-Server dennoch eine Verbindung herzustellen, die wiederum ins Visier von Roskomnadsor gerieten. Es passierte das, was schon 2016 mit der von AWS gehosteten Online-Poker-Werbung passierte – nur in einem viel größeren Ausmaß, sodass die russische Internet-NGO Roskomsvoboda vom „IP-Genozid“ sprach: Der Zugang zu mehr als 15 Millionen IP-Adressen wurde gesperrt, die meisten Internetseitenbetreiber waren unbeteiligt. Nicht nur die Websites von kleinen und mittelständischen Unternehmen gingen vom Netz. Auch Geräte in Krankenhäusern, die mit dem Internet verbunden waren, funktionierten nicht mehr.

(Grafik: t3n)

Gerade solche Fälle seien auch mit Blick auf das aktuelle Gesetz vom souveränen Internet höchst problematisch, erklärt Analystin ­Alexandra Prokopenko. Denn wer bei Schadensfällen haftet, die auf staatliche Eingriffe ins Internet zurückzuführen sind, sei fraglich, sagt sie: „Das russische Rechtssystem ist in meinen Augen auf solche Fälle nicht vorbereitet.“

Zwar steht Telegram nach wie vor im Visier von ­Roskomnadsor. Immer noch versucht die Behörde gelegentlich, Zugriffe auf die ­Messenger-Server zu unterbinden, allerdings mit kleinen, vorsichtigen Schritten, um einen IP-Totalausfall wie 2018 zu verhindern. Nutzern fällt es allerdings nicht schwer, diese Sperre zu umgehen – auch dank VPN-Diensten wie dem von Wladislaw Sdolnikow.

Dieses Beispiel gibt dem IT-Blogger Hoffnung, dass das neue Internetgesetz und die damit verbundene DPI-Technologie nicht effektiv eingesetzt werden können – und das russische Internet noch mal eine Blüte erfährt, wie es schon in den Nullerjahren der Fall war. „Sobald die Macht nicht mehr in den Händen von ­Banditen ist, wird Russland eines der fortschrittlichsten Länder im Bereich der ­IT-Angebote sein“, da ist er sich sicher. Schließlich habe Russland einen Vorteil gegenüber China: Der Markt sei schlichtweg zu klein. US-Anbieter wie Google könnten es sich hier leisten, auf westliche Prinzipien zu den Themen ­Zensur und Meinungsfreiheit zu pochen. Ein staatlicher Akteur wie ­Roskomnadsor werde bei einem Katz-und-Maus-Spiel im Internet den Kürzeren ziehen.

Schließlich herrscht bei vielen Nutzern im russischen ­Internet ein Mindset, das schon während den Repressionen in der ­Sowjetunion entwickelt worden sein soll: Immer, wenn eine neue Regel verabschiedet wird, denke zunächst darüber nach, wie du sie umgehen kannst.

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Dein t3n-Team

Bennet Jäger

Putin ist ein großartiger Politiker, der vor allem das Wohl aller Russen im Auge hat. Solche Politiker gibt es im Westen leider wenige, auch wenn sie nach den letzten Wahlen in den USA und GB wieder mehr geworden sind.

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KimJungUnFanboy

Man gut das die NSA und Transatlantiker und EU Zensoren keine Netz spinnen? Wie dumm ist der Artikel eigentlich? Das was Russland, China macht fängt doch bei uns genauso an…..natürlich alles bisschen geschickter eingefädelt. Netzwerkdurchsetzungsgesetz und andere Instrumente sind auch nichts weiter als Zensur.

Es ist überall das gleiche eine korupte Dreckselite fürchtet um die Deutungshoheit. Ich kann solche Artikel die schwarzweissdenken….erzeugen sollen nicht ernst nehmen.

Wir sind längt auch auf dem Pfad die Meinungsfreiheit einzuschränken und das Internet zu zensieren….wir verkaufen das aber natürlich genau wie die Russen unseren Bürgern als Sicherheitsmaßnahme und gegen Hass im Netz etc.

Besser wir machen alle wieder Offline und Intranet……die besten jahre des Internets gehen eh zu Ende.
Was macht eigentlich Julian Assange? Und Edward Snowden….kein Thema für t3n?

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