Die Second-Screen-Profis: Das Startup wywy im Portrait
Bei wywy herrscht kreatives Chaos. Das Münchener Startup ist gerade in ein neues Office gezogen, die Regale sind noch leer, die Umzugskartons voll. IKEA-Möbel warten darauf, von fleißigen Händen zusammengebaut zu werden. Nur die Wand mit den Mitarbeiterportraits ist schon fertig. Der Hauptsitz von wywy befindet sich jetzt unmittelbar neben der Theresienwiese: „Je näher am Oktoberfest, desto besser“, lachen die Gründer Andreas Schroeter und Tobias Schmidt. Aber das war nicht der einzige Grund für den Umzug. Das alte Büro ist schlicht zu klein geworden. Denn bei wywy stehen die Zeichen auf Wachstum: Allein in den nächsten Wochen fangen vier neue Kollegen an, in München sind es dann 23, weltweit 34. Der Second Screen, wywy’s Tätigkeitsfeld, ist eines der vielversprechendsten Werbethemen 2014. Ein guter Zeitpunkt, um hinter die Kulissen zu schnuppern.
Second Screen: nicht nur Social TV
Wywy – den Namen kennt man vor allem im Zusammenhang mit der gleichnamigen App: Sie erkennt über das Audiosignal, welches Programm gerade geschaut wird, und bietet passende Hintergrundinformationen und Chats zur Sendung an. Für jedes Check-in bei einer Sendung erhalten die App-Nutzer Punkte, die sie ab einem gewissen Kontostand in Gutscheinprämien umwandeln können. Seit November 2012 ist die Applikation in den App-Stores, die Nutzerzahl soll vorerst geheim bleiben. Doch wie genau erklärt sich das starke Wachstum von wywy, wo doch Social TV hier in Deutschland eher schleppend adaptiert wird? „Das Missverständnis liegt in der Frage“, klärt Andreas Schroeter auf. „Social TV ist nicht gleich Second Screen, auch wenn die Worte momentan oft synonym gebraucht werden“.
In der Tat sei Social TV selbst noch nicht der große Umsatzbringer. Beispiel Tatort, das Lieblingskind der deutschen Fernseh-Twitterati: „Wenn dazu insgesamt ein paar hundert oder tausend Leute twittern, ist das viel. In Sachen Monetarisierung kannst du damit aber noch keinen Staat machen“, so Schroeter. Der Ausdruck Second Screen dagegen umfasse alles, was Nutzer beim Fernsehschauen auf ihren Mobilgeräten erledigten, auch das, was keinen unmittelbaren Bezug zum laufenden Programm auf dem First Screen habe. Und das ist eine ganze Menge: Laut Informationsdienst Nielsen nutzten Anfang 2013 circa 70 Prozent der Second-Screen-Nutzer ihr Smartphone oder Tablet für allgemeine Suchanfragen und zum Surfen, mehr als die Hälfte checkten zudem ihre sozialen Netzwerke. Nur 13 Prozent gaben an, sich aktiv im Social Web zur laufenden Sendung zu äußern oder mit anderen Zuschauern zu interagieren.
Die Schäfchen zurück in den Einflussradius holen
Problematisch für TV-Werbetreibende ist vor allem die sinkende Aufmerksamkeit der Zuschauer während der Werbepausen. Hier setzt das Kerngeschäft von wywy an: Eine Technologie, die es erlaubt, Online-Werbung mit dem TV-Spot auf dem First Screen zu synchronisieren. Dazu spielt wywy den Werbespot des Kunden in sein „Automated Content Recognition System“ ein und legt die dazugehörigen Online-Werbemittel des Kunden, etwa Banner oder Videos, auf einer Demand-Side-Plattform für den Echtzeit-Einkauf von Werbeplätzen an. Das System erkennt, wenn ein Werbespot anläuft, und bucht genau für dessen Dauer parallele Werbeplätze für die Online-Kampagne. Über einen Targeting-Algorithmus erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass der hinter dem Werbeplatz steckende Nutzer tatsächlich gerade fernsieht. In Zukunft, wenn mehr Zuschauer Social-TV-Apps nutzen, kann dieses Wahrscheinlichkeitsmodell um die verifizierten Zuschauer aus den App-Statistiken ergänzt werden.
Kommen lineare und mobile Werbung gleichzeitig bei den Second-Screen-Nutzern an, erhöht sich deren Aufmerksamkeit für die jeweilige Marke deutlich – das hat wywy im Oktober zusammen mit TNS Infratest überprüft. „Mit unserer Idee haben wir bei den Werbern und Mediaagenturen von Anfang an offene Türen eingerannt“, sagt Tobias Schmidt. Werbekunden können ihre Budgets direkt bei wywy platzieren, das Startup arbeitet aber auch mit Agenturen zusammen und wird an deren Einnahmen beteiligt. Nach ersten erfolgreichen Test-Cases, etwa mit Vodafone, hat wywy schon mehrere wiederkehrende Kunden, über zehn, um genau zu sein, mit sehr ordentlichen Budgets.
Die Ad-Technologie stammt von Idioma, einer israelischen Firma, die wywy kurz nach seiner Gründung übernommen hat. Eine Übernahme als erste Amtshandlung eines Startups? Klingt ambitioniert. Doch der Deal war sozusagen der offizielle Startschuss für wywy: Im Zuge der ersten Finanzierungsrunde, die wywy 2,5 Millionen Euro einbrachte, übernahm das Startup auch die Mehrheitsanteile, die sein Investor Cipio Partners an Idioma hielt.
Serial Entrepreneurs: Die Sehnsucht nach der Achterbahn
Als die Pläne für wywy und Idioma 2012 Gestalt annahmen, waren Schroeter und Schmidt in Sachen Firmengründung längst keine unbeschriebenen Blätter mehr. Business Angel Schmidt wollte sein Unternehmen Minewolf, das er zu einem der führenden Anbieter im Bereich der mechanischen Minenräumung aufgebaut hatte, zum Jahresende verlassen und suchte eine neue Herausforderung. Über sein Netzwerk kam der Kontakt mit Idioma zustande. Sein Studienfreund und Trauzeuge Schroeter war zu dieser Zeit noch bei seinem Startup bab.la, einer Art globalem Online-Wörterbuch mit integrierter Wikipedia. Das Portal lief gut – quasi zu gut für Schroeter: „Mir fällt es extrem schwer, Nine-to-Five nur Prozesse zu optimieren. Ich will innovativ sein. Etwas aufzubauen, von Null an, diese Achterbahnfahrt – das fasziniert mich. Wir sind beide Serial Entrepreneurs.“
Schmidts Vorschlag der Idioma-Übernahme gefiel Schroeter auf Anhieb. Das israelische Technologieunternehmen war zu dieser Zeit komplett auf die Markt- und Medienforschung ausgerichtet, der Anstoß, sich dem Second Screen zuzuwenden, kam aus München. „Anfangs waren wir noch viel stärker auf dem Social-TV-Trip unterwegs“, sagt Schroeter. Immerhin hatten die beiden Freunde schon früher gemeinsam ferngesehen und das Programm kommentiert – damals noch per Telefon. Irgendwann synchronisierten sie sogar die Tasten auf ihrer Fernbedienung, um besser gemeinsam Zappen zu können. Die Idee des sozialen Austausches beim gemeinsamen Fernsehen fühlte sich daher von Anfang an richtig an. Erst mit der Erkenntnis, dass die Interaktion mit dem Fernsehprogramm nur einen Bruchteil der Second-Screen-Nutzung darstellt, kam der Shift in Richtung „Ad Technology“.
USA: TV-Werbemarkt zum Dahinschmelzen
Wywy gehört nicht nur in Deutschland zu den Ersten, die eine Technologie für die Synchronisierung von TV- und Webinhalten anbieten. Auch in den USA, wo das Prinzip Second Screen sowohl den TV-Machern als auch den Zuschauern bereits viel geläufiger ist, tut man sich mit der Monetarisierung noch schwer: „Die tüfteln auch noch“, kommentiert Schroeter. Diese Chance hat wywy genutzt, als es im Dezember 2013 das US-Unternehmen SecondScreen Networks übernommen hat. Warum gerade die USA? Das Hauptargument ist für Schmidt klar: „Der TV-Werbemarkt. Der ist dort etwa 20 Mal so groß wie hier“. Die technologische Marktlücke müsse das Startup jetzt schnell nutzen, wobei die Übernahme für die richtigen Startvoraussetzungen sorge: „Der amerikanische TV-Markt ist in unglaublich viele Lokal- und Regionalsender zersplittert“, erklärt Schmidt, „ganz anders als in Deutschland. Wenn du bei uns Schnittstellen zu drei oder vier großen Sendern hast, deckst du schon einen sehenswerten Marktanteil ab. In den USA ist das anders, dort brauchen wir einfach lokales Know-how und entsprechende Kontakte.“ Mit der Übernahme von SecondScreen Networks habe wywy sechs bis zwölf Monate an Zeit bei der USA-Expansion gespart, schätzt Schmidt.
Mit dem neuen New Yorker Office wird das wywy-Team noch internationaler. Deutsch, Englisch, Französisch und Hebräisch sind die am häufigsten vertretenen Sprachen unter den Mitarbeitern, etwa die Hälfte kommt nicht aus Deutschland. In Meetings richtet sich die Sprache nach dem gemeinsamen Nenner unter den Anwesenden. Aus Idioma-Zeiten ist der israelische Standort Netanya geblieben, dessen Kollegen täglich per Videokonferenz am Standup-Meeting teilnehmen. Mindestens einmal im Quartal treffen sich alle in München.
Ein bisschen Spaß muss sein
So waren die Kollegen auch bei der letzten Weihnachtsfeier anwesend, als das inoffizielle Firmenmaskottchen akquiriert wurde: „Unter den Bowlingkugeln war eine in wywy-Orange, die die meisten Strikes des Abends erzielte“, erklärt Schroeter. „Uns war klar: Das ist unser Lucky Ball. Den müssen wir einfach mitnehmen.“ Nach dem ersten Impuls, die Kugel heimlich mitgehen zu lassen, erstanden sie sie offiziell vom Besitzer der Bowling-Bahn. „Der hat uns ganz schön dafür bluten lassen“, erinnert sich Schroeter. „Aber das war es wert.“ Seitdem thront die Kugel auf dem Empfangstresen. Und es gibt weitere Gadgets im wywy Büro: Etwa den für Startups obligatorischen Kickertisch, dessen Spielfiguren in Firmentrikots gekleidet sind.
Ein hippes Office, eine social App, ein junges, internationales Team: Man könnte wywy für eines dieser Hype-Startups aus dem Mobile-Sektor halten. Und doch wirken die Münchener bei genauerem Hinsehen vor allem pragmatisch. Etwa in ihrer Politik, Mitarbeiter schnell gehen zu lassen, wenn es nicht passt – „alles andere bringt ja nichts“, sagt Schroeter. Und nicht zuletzt in ihrer Entscheidung, wywys Heil zunächst im eher spröden Thema Ad-Techchnologie zu suchen statt im spannenden, aber wenig einträglichen Social TV.
Denn das ist selbst in den USA, wo jede Sendung schon einen eigenen, permanent auf dem First Screen eingeblendeten Hashtag für Twitter- und Facebook-Diskussionen hat, noch nicht profitabel. Bewegung sei hier wie dort vor allem seitens der Produzenten und Sender des linearen TV nötig, meint Schroeter: „Es reicht nicht, wenn sich ein Moderator hinstellt und sagt ‚Ich lese dann jetzt mal ein paar Tweets vor‘.“
Bei der Verschmelzung von TV und Social Web müssten sowohl Amerikaner als auch Deutsche noch viel kreativer werden. Spätestens dann sehen Schmidt und Schroeter auch das Potenzial von B2C-Lösungen für den Second Screen. Beide glauben an diese Entwicklung. Daher entwickeln sie auch die wywy-App, die ursprünglich nur als Showcase und Whitelabel-Lösung für B2B-Kunden gedacht war, kontinuierlich weiter.
Wie man fünf Millionen Euro Kapital einsammelt
Für die kommenden Projekte hat wywy sich Ende letzten Jahres mit einer weiteren Kapitalspritze in Höhe von fünf Millionen Euro versorgt. Interessant dabei: Die zweite Finanzierungsrunde hat wywy komplett mit den bisherigen Geldgebern abgewickelt und sogar Anfragen weiterer interessierter Investoren abgelehnt. Schmidt und Schroeter ging es dabei in erster Linie um Schnelligkeit: Der Zeitpunkt war nach der erfolgreichen Testphase günstig und das Fenster für die Expansion nicht unendlich groß. „Viele Startups unterschätzen den zeitlichen Aufwand der Investorenakquise. Während einer großen Finanzierungsrunde liegt das operative Geschäft im schlimmsten Fall monatelang auf Eis. Das wollten wir in dieser Phase einfach nicht riskieren, auch wenn es möglicherweise ein paar Euro weniger bedeutet“, erklärt Schmidt. Für solide Wachstumschancen würden die beiden nötigenfalls auch den Break Even hinauszögern. Im Jahresverlauf 2014 sollen die schwarzen Zahlen so weit greifbar werden, dass wywy sich diese Luxusentscheidung leisten kann.
„Seid ehrlich!“
Haben sie noch einen Tipp für Gründer auf der Suche nach Geldgebern? „Offenheit“, sagt Schroeter. Er hält nichts davon, ein großes Geheimnis aus einer Idee zu machen – diese allein sei das fast nie wert. Zunächst gehe es darum, Vertrauen in die eigene Person und die Vision aufzubauen, und das gehe nun einmal nicht ohne Transparenz. „Wenn man einen Kontakt überzeugt hat, zieht der in der Regel die nächsten hinter sich her. Bis dahin muss man alles, was man hat, in die Waagschale werfen“.