50 Grad im Mai: Wie die extremen Hitzewellen die Menschen in Indien an ihre Grenzen bringen - t3n

Indien leidet seit Jahren unter immer längeren und stärkeren Hitzewellen. Der Staat setzt zwar Schutzprogramme auf, die reichen jedoch bei weitem nicht aus. Suman Shakya möchte, dass ich die Betonwand ihres Schlafzimmers berühre, in dem ihr einjähriger Sohn schweißgebadet liegt. Meine Hand verbrennt wie in einer heißen Pfanne. „Stell dir vor, du sitzt bei diesem Wetter so lange vor einer heißen Pfanne, bis du Fladenbrote für die ganze Familie gebacken hast“, sagt sie. Draußen herrschen 44 Grad Celsius. Mein Hals ist trocken und mir ist schwindlig. Der Schweiß rinnt mir übers Gesicht, läuft mir in die Augen und trübt meine Sicht. Shakya lebt im Bauerndorf Nagla Tulai im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh, wo die Hitze in letzter Zeit unerträglich ist. Die Dorfbewohner:innen mussten schon immer heiße Sommer ertragen, aber die letzten Jahre haben ihre Kräfte auf die Probe gestellt. Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 8/2024 von MIT Technology Review erschienen. Darin rücken wir das Land Indien in den Fokus, denn es mausert sich zur technologischen Supermacht. Hier könnt ihr die TR 8/2024 bestellen. [tableofcontents] Keine Klimaanlagen, keine Kühlboxen: Ein indisches Dorf ohne Stromzugang Ende April 2022 übersteigen die Tagestemperaturen 45 Grad. Die meisten Bewohner:innen von Nagla Tulai suchen Zuflucht in den heißen Winden, die draußen wehen. Seit in Nordwestindien erstmals alarmierende Temperaturen gemessen wurden, raten die örtlichen Behörden den Menschen, sich möglichst nicht in der Sonne aufzuhalten. Doch Nagla Tulai ist eines der indischen Dörfer, das noch nicht elektrifiziert ist. Das bedeutet, dass es in den rund 150 Haushalten keine Ventilatoren, Kühlboxen oder Klimaanlagen gibt. Stattdessen haben die Frauen von Nagla Tulai ihre Kochstellen auf die Dächer verlegt. Dort sitzen sie stundenlang und stopfen Zunder in ihre Lehmöfen, damit sie weiterbrennen, auch wenn die Sonne von oben wie Feuer auf sie herabregnet. „Man kann sich nicht einmal den Schweiß aus dem Gesicht wischen, ohne dass er auf die Hände tropft und die Fladen verderben“, sagt Shakya. Wie können sich die Menschen aber vor der Hitze schützen? Vor allem in ländlichen Gebieten, in denen es teilweise keinen Strom gibt, werden die hohen Temperaturen zu einer lebensbedrohlichen Herausforderung. Hitzewellen seit dem 19. Jahrhundert 30-fach erhöht Dass der Klimawandel die Hitzewellen in Südasien verstärkt, steht außer Frage. Immer neue Attributionsstudien, die Zusammenhänge zwischen Wetterphänomenen und dem Klimawandel untersuchen, belegen das. So ergab ein Bericht von World Weather Attribution, dass die Wahrscheinlichkeit für Hitzewellen seit dem 19. Jahrhundert 30-fach erhöht ist. Und eine vom britischen Met Office durchgeführte Attributionsstudie zeigt auf, dass die Gefahr beispielloser Hitzewellen in Indien und Pakistan durch den Klimawandel um das Hundertfache gestiegen ist. Seit 2022, dem Besuch in Nagla Tulai, sind die Perioden extremer Hitze noch länger und noch tödlicher geworden. Im Jahr 2024 verzeichnete Indien bereits im dritten Jahr in Folge schwere Hitzewellen. Bereits Mitte Mai herrschten in mehreren Städten Temperaturen zwischen 45 und 50 Grad Celsius. „Dies war die längste Hitzeperiode am Stück, da sie in verschiedenen Teilen des Landes etwa 24 Tage andauerte“, sagte Mrutyunjay Mohapatra vom indischen Wetterdienst (IMD) gegenüber der Zeitung Indian Express. Bis Ende Juni dieses Jahres wurden laut CNN mindestens 40.000 Fälle von Hitzschlag in Indien gemeldet – eine enorme Belastung für das völlig unzureichend vorbereitete öffentliche Gesundheitssystem. Die indische Regierung schätzt die Zahl der Todesopfer auf 110, es wird jedoch vermutet, dass die tatsächliche Zahl der Opfer deutlich höher liegt. Allein bei einem tragischen Vorfall im Zusammenhang mit den Wahlen starben 33 Wahlhelfer:innen an einem einzigen Tag, darunter Sicherheitskräfte und Mitarbeitende der Sanitäranlagen. [caption id="attachment_1666837" align="aligncenter" width="620"] In Delhi gehen die Hitzewellen mit schweren Wasserkrisen einher. Die Regierung versorgt die betroffenen Gebiete mit Trinkwasser aus Tankwagen.(Fotos: Pradeep Gaur / SOPA Images / ddp / Sipa USA)[/caption] Inzwischen stuft die Nationale Katastrophenschutzbehörde 23 der 28 indischen Bundesstaaten als anfällig für Hitzewellen ein. „Fast alle sind betroffen, nur das Ausmaß ist unterschiedlich“, sagt Vimal Mishra, Klimaforscher am Indian Institute of Technology Gandhinagar im westlichen Bundesstaat Gujarat. „Weniger betroffen sind Menschen, die sich eine Klimaanlage leisten können.“ „In dieser Stadt sind die meisten Häuser mit Klimaanlagen ausgestattet“ Tatsächlich ist der Verkauf von Klimaanlagen in Indien seit 2022 in die Höhe geschossen, insbesondere in städtischen Gebieten. In Etah, der nächstgelegenen Stadt zu Nagla Tulai, übertönt das Brummen der Klimaanlagen jedes Mal, wenn der Strom eingeschaltet wird, alle anderen Geräusche. „In dieser Stadt sind die meisten Häuser mit Klimaanlagen ausgestattet“, sagt Devesh Singh, ein Fernsehjournalist, der seit 24 Jahren über die Sommer in Etah berichtet. Viele Haushalte stehlen den benötigten Strom von staatlichen Energieversorgern, um die hohen Rechnungen nicht bezahlen zu müssen. Dazu befestigen sie einen Aluminiumhaken, Katia genannt, an den Stromkabeln, die durch die Straßen verlaufen. In Städten in ganz Uttar Pradesh führt die Polizei im Frühjahr tägliche Razzien durch, um die Vorrichtungen zu entdecken. „Früher fanden die Razzien tagsüber statt, sodass die Menschen nachts Strom verbrauchen und ihre Katia gleich morgens entfernen konnten. Inzwischen kommt die Polizei zwischen zwei und vier Uhr morgens, wenn die Menschen vor ihren Klimaanlagen schlafen“, sagt der Journalist Singh. Allein im Frühjahr 2022 wurden in Etah 150 Personen wegen Stromdiebstahls angeklagt, aber die Klimaanlagen liefen weiter. Strom, Geld und Kaste: Wer sich eine Klimaanlage leisten kann Obwohl der Einsatz von Klimaanlagen ein Rekordhoch erreicht hat, kann sich die überwiegende Mehrheit der Inder immer noch keine leisten. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen des Landes liegt bei etwa 91.000 Rupien, weniger als 1.000 Euro. Selbst eine billige Klimaanlage würde ein Viertel davon verschlingen. Sogar wenn man eine Klimaanlage und den Strom dafür hat – ob bezahlt oder gestohlen – ist das noch keine Garantie, der Hitze zu entkommen. Stromausfälle sind im Sommer an der Tagesordnung. In Großstädten sind sie nur von kurzer Dauer, in Kleinstädten und Dörfern sind sie häufiger und dauern länger an. Regelmäßig müssen wegen Kohlemangels in den Kraftwerken und einer enormen Stromnachfrage in einigen der am stärksten betroffenen Bundesstaaten sehr viele Menschen mit vier oder weniger Stunden Strom pro Tag auskommen. Auch Kaste, Geschlecht und Wohnort beeinflussen, wer es kühl hat. Indiens Klimaforschende machen sich zunehmend Sorgen über solche Faktoren. „Der individuelle Ausgangspunkt bestimmt stark, wie die Menschen mit Klimarisiken umgehen können“, sagt Chandni Singh, Forscherin am Indian Institute for Human Settlements, die seit zehn Jahren zum Thema Anpassung an den Klimawandel arbeitet. „Es gibt große Unterschiede zwischen den Dörfern und innerhalb der Dörfer.“ [caption id="attachment_1666839" align="aligncenter" width="620"] Der 97-jährige Raja Ram schläft an einem heißen Tag mit seinen Rindern im Schatten unter einem Baum – ein Privileg, das jungen Frauen nicht vergönnt ist.[/caption] In Nagla Tulai beispielsweise können Männer und ältere Frauen bei Bedarf im Freien eine erfrischende Brise suchen, während von anderen Frauen und Mädchen erwartet wird, dass sie die Tagesstunden drinnen verbringen, wo die drückende Hitze wie eine Decke auf ihnen lastet. „Es wäre falsch zu sagen, dass sich die Menschen in diesen Situationen anpassen. Sie leiden im Grunde genommen“, sagt Mishra. „Eine sinnvolle Anpassung sollte das Leiden verringern, aber das passiert nicht, wenn die Menschen in Betonhäusern ohne Strom gefangen sind.“ [crosslinks ids="1635611,1634916,1661623"] Auswirkungen der Hitzewellen auf die Arbeitszeit Die Männer verbringen die meiste Zeit unter einem großen Banyanbaum sitzend und versuchen, die drückende Hitze zu ignorieren, die sie wie ein Heiligenschein umgibt. Um zu arbeiten, müssten sie zu den Farmen gehen, und das wäre mörderisch. Die Sommer sind seit Menschengedenken heiß, daher ruhen sie sich traditionell aus, wenn die Sonne am höchsten steht, und arbeiten den Rest des Tages. In den letzten Jahren ist ihre Arbeitszeit jedoch immer kürzer geworden. „In diesem Jahr konnten wir nicht mehr als zwei Stunden am Tag arbeiten“, erzählt mir Raja Ram, ein Landwirt in dritter Generation. „Die restliche Zeit sitzen wir nur herum.“ Weniger Arbeit bedeutet mehr Entbehrungen. Selbst in den Jahren, in denen sie Vollzeit in der Tabak- und Maisproduktion arbeiteten, mussten sie das Einkommen mit den Grundbesitzenden teilen, denen die Felder gehörten. Die meisten Menschen in Nagla Tulai identifizieren sich als Shakya, die von der Regierung von Uttar Pradesh als Other Backward Classes verstanden werden. Sie sind sozioökonomisch benachteiligt und dürfen deswegen besondere staatliche Förderung beanspruchen. Dass ihnen das Land, das sie bewirtschaften, nicht gehört, ist eine von vielen Ungleichheiten, mit denen sie seit Generationen konfrontiert sind. Jetzt schrumpfen ihre Anteile an der Ernte durch die Hitzewellen noch weiter. „Was soll ein junger Mensch in einem solchen Dorf tun? Man bringt damit die Menschen an die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit. Man treibt sie zwangsläufig in die Migration.“ „Über die Auswirkungen dieser ‚Landlosigkeit‘ wird nicht viel gesprochen“, sagt Chandni Singh. „Wir sprechen von Menschen, die es bereits gewohnt sind, ihre Arbeitszeit im Sommer früh in den Tag zu verlegen, auch ohne den Klimawandel. Aber wie viel weiter kann man das ausdehnen? Wenn Dörfer so extreme Hitze erleben, während der Monsun ausbleibt und der Grundwasserspiegel sinkt, wird die Landwirtschaft als Lebensgrundlage fast unrentabel. Was soll ein junger Mensch in einem solchen Dorf tun? Man bringt damit die Menschen an die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit. Man treibt sie zwangsläufig in die Migration.“ Was werden die Arbeiter aus der Landwirtschaft tun, wenn sich Hitzewellen weiter verstärken? Die Männer in Nagla Tulai wollen nicht weg – noch nicht. Sie sind sich jedoch nicht sicher, was die Zukunft ihnen bringen wird. Wenn die Hitzewellen in Indien zu einer Massenmigration führen, so die Meinung von Forschenden, dann wird dies auf die anhaltenden Schäden im Agrarsektor zurückzuführen sein. „Migration in Indien ist hauptsächlich beschäftigungsbedingt. Wenn diese Hitzewellen häufiger auftreten und früher einsetzen, wie in den letzten Jahren, müssen die Landarbeiter:innen in die Städte ziehen. Sie müssen eine Beschäftigung außerhalb der Landwirtschaft finden – was auch immer es ihnen ermöglicht, Geld zu verdienen“, sagt Mishra. Männer befürchten, dass eine Arbeit in einer Fabrik oder auf einer Baustelle nicht genug Geld einbringen wird – vor allem, wenn sie ihre Familien mitnehmen wollen. Verstärken sich die Hitzewellen jedoch weiter, könnte es für sie schwierig werden, überhaupt Familien zu gründen. Denn so wie es aussieht, sind nicht viele Frauen bereit, Männer aus Nagla Tulai zu heiraten. Diejenigen Frauen, die sich für einen Mann in dem Ort entscheiden, ziehen sich in der Regel jedes Jahr für mehrere Monate in ihre Heimatdörfer, in die Häuser ihrer Eltern, zurück. Kein Hitzeschutz für Kinder Nicht so Suman Shakya. Sie ist verärgert, weil ihr Mann sich geweigert hat, sie diesen Sommer im Dorf ihrer Eltern abzusetzen. Sie befürchtet, dass ihre Kinder den Sommer ohne Deckenventilator oder Klimaanlage nicht überleben werden. „Sie weinen den ganzen Tag und die ganze Nacht. An einem Tag haben sie Ausschlag, am nächsten Tag ist es eine Magenverstimmung, am Tag darauf Dengue-Fieber. Ich habe das Gefühl, in einem Teufelskreis gefangen zu sein: Sie werden krank, wir bringen sie ins Krankenhaus, sie werden wieder krank“, erzählt sie mir und wedelt mit einem Stofffächer, um ihren Sohn zu beruhigen. [caption id="attachment_1666844" align="aligncenter" width="620"] Solarmodule auf den Hausdächern in Nagla Tulai sollten wenigstens Lampen und Ventilatoren mit Strom versorgen – allerdings fehlen wichtige Teile der Technik dafür.(Fotos: Saumya Khandelwal)[/caption] Als ihre Mutter heiratete, brachte sie als Teil ihrer Aussteuer einen handgefertigten Fächer mit ins Haus ihrer Schwiegereltern, in dem sie lebte und Shakya aufzog. Die Sommer waren heiß, aber nicht tödlich. Ein solider Handfächer konnte einen Stromausfall am Nachmittag leicht ausgleichen. Mädchen, die sich auf die Ehe freuten, stellten sich ihre Fächer selbst her und stickten ihre Namen in die Falten. Als Shakya 2016 selbst heiratete, wünschte sie sich als Mitgift keinen Fächer, sondern eine Klimaanlage und einen Kühlschrank. Als sie in Nagla Tulai ankam, hatte sie weder das eine noch das andere. „Das hätte ohne Stromanschluss im Ort ja keinen Sinn gemacht“, sagt sie. Wie sehen Indiens staatliche Hitzepläne aus? Im Jahr 2011 installierte die lokale Regierung auf jedem Dach des Dorfes Solarmodule. Den Bewohnerinnen und Bewohnern wurde gesagt, dass die Module, sobald sie vollständig aufgeladen seien, Glühbirnen und Ventilatoren mit Strom versorgen und sogar Mobiltelefone aufladen würden. Später erfuhren sie, dass sie Wechselrichter benötigen würden, um den Strom zu speichern, und Batterien, um die Wechselrichter zu betreiben, und diese Dinge würden Geld kosten. „Die Familien, die es sich leisten können, betreiben drei Ventilatoren mit Solarenergie, einen davon zur Kühlung ihres Büffels“, sagt Priyanka Shakya, ein 16-jähriges Mädchen. Selbst bei voller Ladung versorgen die Solarmodule einen Ventilator nur für ein paar Stunden mit Strom. Die Bewohner:innen sparen diese für die Nächte auf und schalten sie ein, wenn die Kinder anfangen zu weinen. Ansonsten beschränken sich die indischen Behörden darauf, vor einer Hitzewelle zu warnen. Sie testen neue Systeme, um Hitzewellen möglichst lange vor ihrem Eintreffen vorherzusagen, und setzen dabei Satellitentechnologien und maschinelles Lernen ein, um die Genauigkeit der Vorhersagen zu verbessern. Die Hitzewarnungen werden nun über eine breitere Palette von Medien verbreitet: Das Indische Meteorologische Institut (IMD) gibt Warnmeldungen per SMS, über mobile Apps, soziale Medien und traditionelle Medienplattformen heraus. In einigen Fällen sind diese Warnmeldungen in die lokalen Gesundheitssysteme integriert und helfen Krankenhäusern, sich auf Hitzestresspatienten vorzubereiten. Die Kampagnen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit haben zugenommen, insbesondere in städtischen Gebieten. Indien arbeitet auch mit globalen Organisationen wie der Weltbank und USAID zusammen, um die Vorbereitung auf Hitzewellen zu verbessern. [caption id="attachment_1666845" align="aligncenter" width="620"] Das RML-Krankenhaus in Neu-Delhi hat im Mai ein Zentrum für Hitzeschlagopfer eingerichtet. Zu dieser Einheit gehörten zwei Badewannen, ein Eiswürfelbereiter und zwei Beatmungsbetten.(Foto: IMAGO / Hindustan Times)[/caption] Meist beschränken sich die Notfallmaßnahmen jedoch lediglich auf das Schließen von Schulen und Baustellen oder auch auf die Absage des Arztbesuchs im Ort. Klimaforscher Vimal Mishra ist der Meinung, dass die Regierung mehr tun sollte. „Sie kann gefährdete Gebiete wie Dörfer und Slums identifizieren, in denen arme Menschen leben, die keine Klimaanlage haben“, sagt er. „Es können Gemeinschaftszentren eingerichtet werden, wie wir sie für Überschwemmungen und andere Katastrophen haben, in denen sich die Menschen abkühlen können. Dort könnten sie kaltes Wasser bekommen. Sie können Erste Hilfe erhalten, um Symptome von Hitzschlägen zu behandeln.“ Selbst wohlhabende Stadtviertel bräuchten dringend ähnliche Unterkünfte für Verkäufer:innen und Bauarbeiter:innen, die bei der Arbeit keinen Schutz vor der Hitze haben, fügt er hinzu. „Die Menschen sind sich nicht immer bewusst, welche Symptome durch Hitze verursacht werden. Sie gehen als letzte Maßnahme ins Krankenhaus. Das führt oft zum Tod“, sagt Mishra. Inzwischen haben mindestens 23 indische Bundesstaaten und zahlreiche Städte Hitzeaktionspläne entwickelt oder arbeiten zumindest an Frühwarnsystemen. Schutz vor Hitze: Was für Arbeitnehmer:innen gefordert wird Im Hochsommer 2024, als ein 40-jähriger Bauarbeiter in Delhi an extremer Hitze starb, intervenierte das Büro des Vizegouverneurs und ordnete an, dass auf den Baustellen Trinkwasser bereitgestellt und die Arbeitszeiten geändert werden sollten, um die Hitzeexposition zu begrenzen. Allerdings argumentieren Aktivistinnen und Aktivisten, dass diese Maßnahmen kurzsichtig seien – in einem Land, in dem vier von fünf städtischen Arbeiterinnen und Arbeitern dem informellen Sektor angehörten, müssten wirksame Hitzeaktionspläne mehr enthalten. Zum Beispiel Bestimmungen für die Rechte der Arbeitnehmer:innen und langfristige Strategien für die Stadtplanung und den Klimaschutz. Denn Arbeiter:innen in Außenberufen mit minimaler Arbeitsplatzsicherheit und ohne Sozialschutz könnten selbst bei angemessener Warnung kaum auf die Arbeit verzichten. In Ahmedabad, der Stadt, in der Mishra arbeitet, setzte die Stadtverwaltung den ersten Hitzeaktionsplan in ganz Südasien auf. Der Aktionsplan wurde nach einer Hitzewelle im Jahr 2010 eingeführt, bei der in der Stadt 4462 Menschen ums Leben kamen. Inzwischen haben über 23 indische Bundesstaaten und zahlreiche Städte Hitzeaktionspläne entwickelt oder arbeiten zumindest an Frühwarnsystemen, an ihrer Öffentlichkeitsarbeit oder auch nur an kühlen Schutzräumen. Außerhalb der städtischen Zentren werden Hitzeaktionspläne jedoch häufig nicht in konkrete Maßnahmen umgesetzt. Warnsysteme und Öffentlichkeitsarbeit erreichen gefährdete Gebiete im ländlichen Indien oft nicht, und wenn, dann nur mit Standardwarnungen. [caption id="attachment_1666846" align="aligncenter" width="620"] Die 20-jährige Divya aus Nagla Tulai kocht in ihrem glühend heißen Haus das Essen, denn die öffentlichen Hitzewarnungen empfehlen immer noch, nicht nach draußen zu gehen.[/caption] Erste Stromleitung in Nagla Tulai: Wie lange reicht der Strom für die Klimaanlagen? Auch in Nagla Tulai bestehen die Warnungen des Frühwarnsystems nach wie vor aus Textnachrichten auf den Mobiltelefonen. Es sind weiterhin dieselben wie überall in Nordindien. Die Menschen werden aufgefordert, nicht nach draußen zu gehen, auch wenn sich ihre Häuser wie das Innere eines Ofens anfühlen – und eine bereits 2022 in fünf einkommensschwachen Regionen Südasiens durchgeführte Studie bestätigte, dass es für die Betroffenen kontraproduktiv ist, tagsüber in ihren aufgeheizten Häusern zu verharren. Aber immerhin bekam das Dorf im Oktober 2022, nach 75 Jahren ohne Strom, eine 350 Meter lange Stromleitung quer durch das Dorf gelegt. Ein eigener Transformator und 22 Strommasten wurden kurz darauf installiert – auf persönliche Initiative eines Ministers, der durch Medienberichte auf die Bewohnerinnen und Bewohner aufmerksam wurde, die die brutalen Sommer ohne Ventilatoren oder Klimaanlagen ertragen mussten. Als 2023 das Thermometer über 40 Grad kletterte, sprangen zumindest in einigen Haushalten neue Ventilatoren an – auch wenn der Strom nur für ein paar Stunden reichte. Dieser Artikel stammt von der Journalistin Snigdha Poonam.