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50 Jahre Internet: Wir sind dekadent!

Unsere Nutzung des Internets und moderner Technologie wird immer dekadenter und wir verschwenden Ressourcen. Wieso und wie sich jetzt etwas ändern muss.

Von Jochen G. Fuchs
6 Min. Lesezeit
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Unsere Nutzung des Internets und unserer Technologie wird immer dekadenter. (Grafiken: Shutterstock Montage: t3n)

Es ist der 29. Oktober 1969, Charley Kline sendet in Los Angeles an der University of California die erste Nachricht über das Arpanet. In Woodstock singt Joan Baez „We shall overcome“, die Concorde absolviert ihren ersten Testflug und die Apollo-11-Mission führt den Menschen auf den Mond. Nehmen wir an, Neil Armstrong wäre dabei auf eine faszinierende extraterrestrische Rasse gestoßen, die den ganzen Tag nur noch herumliegt und in virtuellen Welten den künstlichen Dramas fiktiver Charaktere folgt und ihre alltägliche Probleme samt und sonders von Technologie und einer künstlichen Intelligenz lösen lässt. Arme Würstchen, oder? Oder? Dieses Szenario entstammt der populären Science-Fiction-Reihe „Perry Rhodan“ aus dem Prä-Internet-Zeitalter der Sechziger. Es steht bis heute stellvertretend für den klassischen Einstieg eines Science-Fiction-Autors zur Beschreibung der Dekadenz einer extraterrestrischen Rasse.

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Was die Macher der SF-Serie sich damals ausdachten, ist heute Realität und heißt Netflix, Alexa oder KI – der optimistisch benannte Teilbereich der Informatik, der menschliche Denk- und Handlungsprozesse nachbilden soll. Es lässt sich mit der Frage kokettieren, ob durch die digitale Auslagerung jedes verfügbaren Tasks ins Digitale unsere Bequemlichkeitsgesellschaft dekadent geworden ist. Auf jeden Fall dekadent ist die Ressourcenverschwendung, die unsere Nutzung der Technologie mit sich bringt: Energieverbrauch und Datenübertragungsmengen explodieren. Zeit, unser Vorgehen zu überdenken.

50 Jahre Internet: Das betrübliche Ende der Datensparsamkeit

Ein Webdesigner in den späten neunziger Jahren nutzte jeden Kniff aus, um Grafiken herunterzukomprimieren, den Quellcode schlank zu halten und eine 500-Kilobyte-Grafik war verflucht groß. Heute sind Webanwendungen um ein vielfaches größer als damals. Die Anwendungen können heute auch mehr, aber im Breitbandzeitalter wird nicht mehr darüber nachgedacht, ob eine Grafik 100 oder 150 Kilobyte groß ist.

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Zwar achten wir darauf, dass unsere Systeme (zum Beispiel ein Webserver) durch die Anwendungen, die wir entwickeln, nicht überlastet werden, aber nur zum Selbstzweck. Das intrinsische Ziel ist die Lauffähigkeit und Belastbarkeit der Anwendung, nicht die Reduzierung des Daten- und Energieverbrauchs.

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Wir müssen unsere Infrastruktur schonen, statt den Datendurchsatz exponentiell zu erhöhen. Die Antwort auf den gestiegenen Datenhunger unserer Anwendungen darf nicht der Ruf nach mehr Breitband, sondern der Ruf nach mehr Kompression sein. Design und Architektur unserer Internet-Anwendungen müssen sich zukünftig noch mehr daran orientieren, daten- und energiesparend zu sein. Um simpelste Funktionen und Designs zu realisieren, werden oft sinnlos große Datenmengen übertragen, schreibt Simon Kraft, ein Urgestein der WordPress-Szene. Deshalb: Ja, es ist wichtig, ob das Bild 100 oder 150 Kilobyte groß ist! Ja, es ist wichtig, ob der Cronjob im 5-Minuten- oder 15-Minuten-Takt läuft. Ja, es ist wichtig, ob das WordPress-Template 300 Kilobyte schlanker ist.

Denn jedes Kilobyte verbraucht Energie und erzeugt Co2.

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Datenverbrauch = Energieverbrauch = Klimaschaden

Unsere Bequemlichkeitsgesellschaft lagert immer mehr digital aus. Der gesellschaftliche Nutzen ist dabei unterschiedlich. Von der persönlichen Terminerinnerung über sexuelle Interaktion bis hin zur Klimamodell-Berechnung, alles übernimmt und überträgt Technologie. Der französische Think-Tank The Shift Project hat errechnet, dass Onlinestreaming rund 300 Millionen Tonnen Co2 im Jahr 2018 verursacht hat, knapp 27 Prozent davon entfallen auf Pornografie. Das entspricht dem jährlichen Co2-Ausstoß von Belgien. Es wird nicht besser außerhalb der triebgesteuerten Unterhaltung: Netflix und andere Streamingdienste produzieren rund 34 Prozent der 300 Millionen Tonnen Co2.

Der Konsum von Medien, die Ermittlung von Wissen, ja die gesamte die Nutzung von Technologie ist direkt mit unserem Energieverbrauch gekoppelt. Und das alles wächst exponentiell. Aktuell schätzen Experten, dass das Netz bis zu rund zehn Prozent des weltweiten Energieverbrauchs erzeugt, bis 2030 soll er auf über 20 Prozent steigen. Wäre das Internet ein Land, dann stünde es heute an sechster Stelle weltweit in der Liste der größten Stromverbraucher.

Der immer größer werdende Anteil der regenerativen Energien, der von den Internetgiganten eingesetzt wird, mag auf den ersten Blick wie ein Freispruch wirken. Google will ja schon seit einem Jahrzehnt klimaneutral arbeiten – vielleicht zieht Pornhub ja nach. Die Tatsache, dass regenerative Energien zum Betrieb genutzt werden, spricht allerdings nicht davon frei, die Energien sinnvoll einzusetzen.

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Der Grund liegt auf der Hand.

Wenn nicht ressourcenschonend gewirtschaftet wird, steigt der Energieverbrauch weiterhin exponentiell – gerade, wenn der Gedanke an unendlich erneuerbare Energien dazu führt, dass nicht mehr auf den Strom- und Datenverbrauch geachtet wird.

Und das wäre aus zwei Gründen fatal:

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  1. Die verschwendete Energie könnte an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt werden. Erneuerbare Energien mögen theoretisch schier unerschöpflich verfügbar sein, praktisch ist die Menge von der verwendeten Technologie und deren Wirksamkeit abhängig. Wir können heute noch nicht von einem Tag auf den anderen einfach komplett auf erneuerbare Energien umstellen. Insofern sollte die erneuerbare Energie dort eingesetzt werden, wo sie am effizientesten genutzt werden kann.
  2. Steigender Energieverbrauch befeuert wiederum den Teufels-Kreislauf des Ressourcenverbrauchs, für die Gewinnung der Energie und industrielle Fertigung der Technologien.

Technologie ist nicht die Rettung, aber sie kann dazu beitragen

Wir müssen effizienter werden, wir müssen aber auch verzichten und reduzieren. Damit kein Missverständnis aufkommt: Ultimativ ist Verzicht keine Lösung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Aufs Reisen zu verzichten, würde unsere Kultur langfristig beschädigen, weil den Menschen Perspektiven entgehen würden. Wir würden immer engstirniger und rückständiger werden. Wir können und dürfen uns als Zivilisation technologisch nicht zurück entwickeln, das würde zulasten der Zivilisation gehen.

Wir können also nicht einfach auf die Nutzung von bestimmten Technologien verzichten. Aber unsere gesellschaftlich-technologische Basis ist bisher nicht auf Klimaneutralität ausgelegt, manche Technologie wird im Laufe der Zeit verschwinden müssen und eben durch andere ersetzt werden. Aber bis dahin können wir die Effizienz unserer bestehenden Technologie verbessern und auf geringen Datenverbrauch, Energieeffizienz und Klimaneutralität trimmen. Sie kann uns in vielen Punkten weiterhelfen: Zum Beispiel indem wir die Fortbewegungsmittel mit Neuentwicklungen klimaneutral und energieeffizient gestalten.

Sie ist aber nicht die Lösung für alles. Auf eine nicht näher bestimmbare technologische Entwicklung zu warten, die uns alle rettet, wäre fatal. Das Moor‘sche Gesetz ist schon tot, wir stoßen in manchen Sektoren wie in der Entwicklung von Chipkomponenten schon heute an eine physikalische Grenzen. Technologie hat ihre Grenzen.

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Auch darauf zu hoffen, dass der technische Entwicklungsstand irgendwann soweit ist, dass wir unseren kompletten Daten- und Energieverbrauch komplett klimapositiv abwickeln können, ist keine Lösung. Selbst wenn dieses Ziel irgendwann erreicht wird, besteht bis dahin die Gefahr von irreversiblen Veränderungen des Klimas. Abwarten ist keine Lösung.

Zusammengefasst bedeutet das: Effizienz steigern ist der eine Weg, den wir gehen müssen, notwendige Technologien erneuern oder ersetzen. Das ist aber nicht alles. Der andere Weg führt zum Ende von verzichtbaren Technologien oder technologischen Anwendungen. Müssen wir wirklich jeden Mist mit Technologie lösen und alles bis zum Anschlag ausreizen? Wenn ja, dann steigt der Energie und Datenbedarf weiter und damit auch die Belastung des Planeten.

Nicht nur persönliche Nutzung, persönliche Verantwortung entscheidet

Neben den Betreibern und Entwicklern ist auch der Nutzer in der Verantwortung etwas zu verändern. An erster Stelle nicht durch Veränderung der Nutzung, sondern indem wir den politischen Druck auf Industrie und Gesellschaft erhöhen, indem wir uns für Unternehmen und Produkte entscheiden, die sparsam mit unseren Ressourcen umgehen – und das tagtäglich aufs neue lautstark mitteilen. Das liegt in unserer persönlichen Verantwortung.

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Bei unserer persönlichen Nutzung können wir aber auch einiges bewirken. Wir können uns beispielsweise fragen, ob wir wirklich jeden Mist in 4K oder in Zukunft sogar in 8K streamen müssen. Müssen wir wie dekadente Außerirdische aus einem Science-Fiction-Roman sechs Stunden am Tag (oder wie viel auch immer) streamen? Oder gehen wir lieber mal raus und rascheln mit den Füßen durchs Herbstlaub?

Plakativ ausgedrückt müssen wir uns fragen, was uns als Gesellschaft wichtiger ist: Ob wir sechs Stunden am Tag in übertrieben hochauflösender Qualität Streaminginhalte konsumieren wollen – oder ob unser öffentliches Datennetz die Steuerung sämtlicher Fahrzeuge übernehmen kann und damit sämtliche Verkehrstoten vermeidet. Oder die KI-Entwicklung Medizin und Forschung ins nächste Jahrhundert katapultieren kann. Oder, oder, oder. Setzen wir die Prioritäten richtig: Keine Macht der Daten- und Energieverschwendung. Auf die nächsten 50 Jahre Internet!

PS.: Dieser Beitrag verzichtet bewusst auf überflüssige Bilder, die sowieso nur zur „optischen Verbesserung“ des Artikels eingesetzt worden wären. Auf das Beitragsbild kann technisch nicht verzichtet werden, es wurde aber auf maximal 100 Kilobyte heruntergerechnet. Durch den Verzicht auf drei Bilder und ein hochauflösendes Titelbild wurden schätzungsweise ein Megabyte Daten eingespart. Bei mindestens 3.000 Lesern hat dieser Beitrag damit rund drei Gigabyte Datenverkehr eingespart. Yes, we can.

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3 Kommentare
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Dein t3n-Team

Thomas

Jetzt springt ihr auch auf den CO2-Panik-Zug auf? Na denn mal Tschüss.

Antworten
Nadine

Schöner Kommentar über den Verzicht überflüssiger Bilder. Mir waren die fehlenden Bilder tatsächlich gar nicht aufgefallen beim Lesen des Artikels. Der Inhalt ist sowieso wichtiger als irgendwelche Stock Photos.

Antworten
Hendrik

Das ist nur ein Aspekt. Der Zusammenhang zwischen Online-Zeit, Gewinnmaximierung auch auf Kosten von Süchtigen und Arbeitsplätzen kann man hier nachlesen:
https://utboerg.com/ratgeber/faires-internet-schuetzt-arbeitsplaetze-und-das-klima-011573/
Außerdem heißt das nicht Verzicht, sondern Optimierung sprich faires Internet.
Schließlich schafft man die Mobilität auch nicht ab, sondern arbeitet an verbrauchsarmen Fahrzeugen.

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