Warum Agilität in Unternehmen keine Lobby hat
Die Zeichen der Zeit sind überdeutlich. Zahlreiche historisch gewachsene und lange Zeit stabile Branchen stehen vor disruptiven Veränderungen. Täglich drängen neue Mitbewerber auf den Markt, Forschungs- und Entwicklungszeiten werden immer kürzer und auch Produktlebenszyklen messen in einigen Branchen nur noch Monate statt Jahre. Ziel muss es sein, ein agiles Unternehmen zu werden, das Veränderungen der Umwelt frühzeitig wahrnimmt und darauf schnell, effizient und effektiv reagiert. Soweit, so bekannt.
Doch wie ist der Status quo in deutschen Unternehmen? Haben sie die Zeichen der Zeit erkannt, Strukturen und Prozesse angepasst? Wie reagieren sie auf die veränderten Markt- und Kundenanforderungen?
Diese Fragen beantwortet eine Onlineumfrage von Haufe, die in Kooperation mit TNS Infratest durchgeführt wurde. Rund 400 Führungskräfte und 800 Angestellte deutscher Unternehmen aller Branchen mit mehr als 100 Mitarbeitern wurden zum Status quo der Agilität in Unternehmen befragt.
Agilität – ein Missverständnis
Ein Großteil der Befragten setzt Agilität im Unternehmensalltag mit flexiblen Arbeitsmodellen gleich. Ein Viertel der Mitarbeiter und sogar 35 Prozent der Führungskräfte sehen diesen Punkt in ihrem Unternehmen erfüllt. Direkt danach rangiert die Einbindung der Mitarbeiter in Unternehmensentscheidungen als wichtiger Aspekt gelebter Agilität. Dabei kehrt sich die Schere um: 18 Prozent der Mitarbeiter und 38 Prozent der Führungskräfte setzen hier einen Haken für ihr Unternehmen. Agile Hard Facts wie autonome Projektteams und agile Methoden poppen erst am Ende des Agilitätsrankings auf. Nur acht bis 14 Prozent der Mitarbeiter leben diese Punkte in ihrem Unternehmen. Führungskräfte sehen das mit 18 bis 25 Prozent leicht optimistischer.
Dieser immense Interpretationsspielraum darüber, was sich eigentlich hinter der viel beschworenen Agilität verbirgt, ist sicher ein Grund dafür, dass Führungskräfte und Mitarbeiter den Umsetzungsgrad in ihrem Unternehmen so grundsätzlich verschieden beurteilen. So glauben 55 Prozent der Führungskräfte, dass ihre Mitarbeiter bereits in agilen Strukturen arbeiten. Allerdings würden das nur 25 Prozent der Mitarbeiter auch unterschreiben. In einer aktuellen Studie von Haufe-Lexware in Kooperation mit TNS Infratest ist diese Schere sogar noch wesentlich größer: Hier halten 70 Prozent der Führungskräfte ihr Unternehmen für agil, aber nur noch ein Drittel der Mitarbeiter sieht das genauso.
Alle oder keiner
Wenn es nicht gerade die Unternehmensgröße ist, die gegen eine Einführung agiler Arbeitsweisen spricht, dann treten bei den befragten Mitarbeitern und Führungskräften die gängigen Argumente auf den Plan. Die Gründe reichen von der allgegenwärtigen Angst vor Veränderung bis zur vermeintlich notwendigen Linienhierarchie, die den Mitarbeitern Orientierung im turbulenten Marktumfeld geben würde.
Eine gängige Barriere für die erfolgreiche Einführung agiler Arbeitsweisen im Unternehmen ist der Anspruch, Agilität sofort und bereichsübergreifend im kompletten Unternehmen „ausrollen“ zu wollen. Ein Anspruch, der den meisten Change-Projekten anhaftet. Wenn, dann richtig. Doch dieser „Gewaltakt“ überfordert jedes Unternehmen, er legt die Organisation lahm und gefährdet wichtige Kundenbeziehungen. Dem stückweisen Ausprobieren steht in der Umfrage das Argument entgegen, dass es bei einer stückweisen Einführung Probleme in den innerbetrieblichen Arbeitsabläufen geben würde. Gut möglich, dass es hier und dort hakt. Aber ein sofortiger Rundumschlag muss scheitern.
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Stolperstein Führungsstil
Autarke handlungsfähige Teams, das Denken in kurzen Projektzyklen, Ausprobieren und Lernen – die agilen Werte laufen einem tradierten Führungsverständnis komplett entgegen. Diese auf Steuerung beruhende Führungsarbeit ist jedoch in den meisten Unternehmen nach wie vor an der Tagesordnung. So sehen sich 63 Prozent der unzufriedenen Mitarbeiter mit einem hierarchischen Führungsstil konfrontiert. Beachtlich: Nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die befragten Führungskräfte sehen den Grund für die bestehende Unzufriedenheit im Führungsstil.
Die Unzufriedenheit rührt sowohl aus Über- als auch Unterforderung. So beklagen 76 Prozent zu viele Aufgaben, 60 Prozent fühlen sich durch einen zu geringen Handlungsspielraum ausgebremst. 48 Prozent der Mitarbeiter bemängeln unklare und lange Entscheidungswege. Ein Grund, warum sich fast jeder dritte Mitarbeiter über Chefentscheidungen hinwegsetzt. Wohl wissend, dass er die Kundenbedürfnisse aufgrund der Nähe zum Markt deutlich besser kennt.
Solange diese tradierten Führungsstrukturen vorherrschen, wird das Unternehmen nicht in der Lage sein, agile Arbeitsweisen einzuführen.
Zukunft braucht Kostensenkung
Wenn es um die Zukunftsfähigkeit ihres Unternehmens geht, setzen weder Mitarbeiter noch Führungskräfte so richtig große Stücke auf agile Arbeitsweisen. So sehen nur 26 Prozent der Führungskräfte agile Methoden als hilfreich an, um mit veränderten Anforderungen am Markt mitzuhalten. Bei den Mitarbeitern sind es nur ganze 19 Prozent. Damit hat Agilität keine besonders große Lobby im Unternehmen. Stattdessen sehen Mitarbeiter Flexibilität in der Arbeitsweise und flache Hierarchien als besonders zukunftsfähig an. Führungskräfte setzen hingegen hauptsächlich auf Kostensenkungen, um ihr Unternehmen fit für die Zukunft zu machen.
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Die einen werden zu viel gefordert und die anderen zu wenig. Die einen haben die ganze Verantwortung, die anderen sollen keine haben. Es lässt sich schon an den Dienstgraden und Aufgabenbereichen in manchen Firmen erkennen, warum diese nicht in der Lage sind etwas zu verändern bzw. hier auch kein Interesse besteht. Also eigentlich alles wie immer.