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Amazon ändert die Schriftart im Shop – und das Netz rastet aus

Amazons neuer Font hat Serifen – und das bringt Nutzer zur Raserei. Dabei stellt sich die Frage: Ist eine serifenlose Schrift wirklich besser als eine mit Serifen? Es gibt eine überraschende Antwort.

Von Jochen G. Fuchs
4 Min. Lesezeit
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Amazon führt neue Schriftart ein. (Foto: © Hajny Studio/Shutterstock)

Bei vielen Nutzern erscheinen seit kurzem die Texte auf der Amazon-Website oder in der App nicht mehr wie gewohnt in einer serifenlosen Schriftart, sondern in der Serifenschriftart „Amazon Bookerly“. Es ist nicht wirklich klar, ob Amazon hier einen seiner vielfältigen A/B-Tests durchführt und die Änderung nur punktuell erprobt wird oder ob es sich um eine langfristig geplante Änderung handelt, die jetzt sukzessive umgesetzt wird. Spannend ist vor allem die Frage, ob Amazon mit der Einführung der Serifen-Schriftart richtig liegt – oder einen Fehler begeht.

Amazon ändert überraschend die Schriftart

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Die Änderung der Schriftart scheint einen Nerv zu treffen, allerdings einen schmerzhaften. Sonderlich gnädig nehmen die Nutzer die neue Serifen-Schriftart jedenfalls nicht auf, wie ein Blick auf das Stimmungsbarometer Twitter zeigt.

Der Tenor geht seitenweise so weiter, die Nutzer sind hochgradig irritiert und fordern mehr oder weniger vehement, dass Amazon zu seiner serifenlosen Schriftart zurückkehrt. Geradezu erheiternd ist Amazons Reaktion auf manchen Rant. Da heißt es in der Antwort eines Amazon-Mitarbeiters sinngemäß: „Sieht so aus, als hätten Sie Schwierigkeiten, sich an unsere neue Schriftart zu gewöhnen. Wir betrachten das mal als Feedback und geben es weiter.“

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Die Suche nach dem Grund für diesen Aufschrei wegen Amazons Serifenschriftart führt zu einem scheinbar unumstößlichen Gesetz des Screendesigns. Schriften haben am Bildschirm gefälligst serifenlos zu sein. Dabei ist diese gefühlte Grundregel nicht in Stein gemeißelt und verliert langsam auch ihren Sinn.

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Serifen oder serifenlose Schriftart am Bildschirm

Mit vs ohne Serifen. Hier die beiden Schriftarten Gill Sans und Georgia. (Grafik: t3n.de)

Mit und ohne Serifen. Hier die beiden Schriftarten Gill Sans und Georgia. (Grafik: t3n.de)

Serifen sind kleine Nasen am oberen und unteren Ende der Buchstaben. Ihre Aufgabe ist es, das Auge beim Lesen zu führen. Durch die Serifen entsteht für das Auge quasi der Eindruck einer Linie, was theoretisch das Lesen erleichtern soll.

Die Faustregel, dass Serifen generell nicht für die Bildschirmschriftarten tauglich sind, ging über lange Jahre hinweg hauptsächlich auf zwei Faktoren zurück:

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  • Die meisten Serifenschriftarten sind in einer Zeit vor dem Aufkommen der Bildschirme für den Druck gestaltet worden.
  • Die Auflösung der Bildschirme war lange Zeit nicht gut genug, so kleine Details wie Serifen darzustellen. Dadurch wurde die eigentlich nutzerfreundliche Funktion der Serifen in das Gegenteil verwandelt: Nahe beieinanderliegende Buchstaben wie r und n verschmolzen durch undeutliche Serifendarstellung zu einem m.

Beide Faktoren deuten eher darauf hin, dass es grundlegende Gestaltungsfaktoren sind, die Schriftarten am Monitor  schlechter lesbar machen und nicht das Fehlen oder Vorhandensein von Serifen.

Heute gibt es serifentragende Schriftarten, die speziell für den Bildschirm entworfen wurden und eine gute Lesbarkeit bieten. Und die Auflösung und Pixeldichte der modernen Bildschirme kann mit vernünftig gestalteten Serifen längst umgehen. Theoretisch könnte jetzt das Urteil lauten: Es ist egal, setzt Serifen ein, wo ihr wollt, solange es Sinn ergibt. In Miniaturschriften also eher nicht. Leider ist der Nutzer aber nicht so einfach gestrickt, dass technisch gut lesbar auch beliebt bedeutet – wie Amazon mit seiner eigentlich ordentlich gestalteten Schriftart Bookerly gerade am eigenen Leib erleben muss.

Tatsächliche und gefühlte Lesbarkeit

Im Designtagebuch beschreibt Martin Liebig, Dozent für Mediengestaltung an der FH Gelsenkirchen, in seinem Artikel über „gefühlte Lesbarkeit“ ein interessantes Experiment zur Lesbarkeit von Schriftarten aus dem Jahr 2009. Rund 3.000 Menschen klickten sich durch Texte mit rund 110 Wörtern. Gemessen wurde die Lesezeit zwischen zwei definierten Messpunkten in über 1.440 typografische Konstellationen mit variierten Schriftgrößen, Zeilenabständen und Zeilenbreiten. Dieser Messung liegt die Annahme zugrunde, dass gute Typografie schneller lesbar ist. Zum Schluss wurden Sympathienoten für die Schriftarten abgefragt, die ein Bild über die gefühlte Lesbarkeit einer Schriftart ergeben.

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Die tatsächliche Lesbarkeit

  • Serifen oder serifenlose Schriftarten sind nicht generell schneller oder langsamer lesbar. Es scheint für die objektive Lesbarkeit egal zu sein, ob Serifen vorhanden sind oder nicht.
  • Die beste Schriftart im Test war Arial, die schlechteste Corbel. Arial bot gerade einmal 3,9 Prozent mehr Geschwindigkeit. Für den Forscher keine eindeutige Aussage.

Die gefühlte Lesbarkeit

  • Das Empfinden der Nutzer hat nichts mit der tatsächlichen Lesbarkeit einer Schriftart zu tun, es beruht auf subjektivem Empfinden.
  • Wichtiger als Serifen ist das Schriftbild einer Schriftart. Wie attraktiv Nutzer eine Schrift empfindet, trägt viel zur gefühlten Lesbarkeit bei.

Die Antwort auf die Frage „Serifen oder nicht?“

Serifentragende Schriftarten sind nicht generell schneller oder besser lesbar als serifenlose, das hängt von der Schrift ab, nicht von der Serife. Trotzdem kommt Liebig am Ende seiner Studie zu der Erkenntnis, dass Serifen im Netz mit Bedacht einzusetzen sind. Denn sie sind bei Nutzern völlig unabhängig von der tatsächlichen Lesbarkeit der jeweiligen Schriftart deutlich unbeliebter.

Bookerly in der Übersicht.(Grafik: Amazon)

Bookerly in der Übersicht.(Grafik: Amazon)

Eine Erkenntnis, die sich vielleicht bei Amazon auch gerade durchsetzt. Denn die Nutzer revoltieren gegen die eigentlich gut lesbare Schrift. Wie sich Amazon entscheiden wird, ist eine spannende Frage: Sollte Bookerly in internen Tests eine schnellere Lesbarkeit belegen können, dann kämpft bei Amazon jetzt das Dogma Effizienz gegen das Dogma Kundenzentriertheit.

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15 Kommentare
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Dein t3n-Team

Eva

Eine Schrift ohne Serifen ist aber für Menschen mit Sehbehinderungen erwiesenermaßen deutlich besser bzw. überhaupt lesbar — sehr schade, dass bei den allermeisten Artikeln und Diskussionen rund um Webdesign selten bis nie auch mal das Thema Barrierefreiheit angesprochen wird.

Antworten
Marco

Hallo Eva,

ein „erwiesenermaßen“ ohne die Nennung einer Quelle ist erwiesenermaßen wenig aussagekräftig.

Antworten
Eva

Hallo Marco,

der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. schreibt: „Da für Menschen mit Sehbehinderungen grundsätzlich erhöhte Anforderungen an die Leserlichkeit gelten, favorisieren diese Leser humanistische Groteskschriften für alle Textarten.“ Quelle siehe hier: http://www.leserlich.info/kapitel/zeichen/schriftart.php

n1

@Eva Humanistische Grotestkschrift ist aber schon extrem einschränkend. Roboto, San Francisco, Helvetica, Arial sind alle nicht humanistisch und auf Webseiten allgegenwärtig, weil es Systemschriften sind. Die einzige Schrift, die etwas humanistisch bezeichnet werden kann ist die Segoe UI von Microsoft.

Ronny

Ich find’s gut. Wird endlich Zeit, dass die schmucklosen, hartkantigen Schriftarten, die mit dem Aufkommen des Flat-Designs sukzessive eingeführt wurden, wieder durch wohlgesetzte, charaktervolle ersetzt werden — gern auch mit Serifen. Bin ja nach wie vor der Meinung, dass Überschriften serifenlos gehören und Fließtext Serifen mitbringen sollte.

Antworten
borisch

Auch eine serifenlose Schrift kann sehr viel Charakter haben.

Überschriften sollten eigentlich Display-Fonts sein, Fließtext gerne serifenlos oder halt mit Serifen, je nach Anwendungsgrund.

Antworten
Kolja

Da gehöre ich wohl zum anderen Teil des A/B Testings. Ich sehe noch die gute alte serifenlose Schrift. Und die Welt ist noch in Ordnung,

Antworten
borisch

„Sollte Bookerly in internen Tests eine schnellere Lesbarkeit belegen können“
Lieber Autor, ich glaube die Lesegeschwindigkeit ist nicht das Hauptaugenmerk, sondern ob damit die Conversion verstärkt werden kann. Die Lesegeschwindigkeit ist nur ein Faktor der dazu beitragen kann oder halt auch nicht.

Es bleibt also abzuwarten inwiefern sich diese Schrift auf die Warenkörbe auswirkt.

Antworten
Martin Wunderlich

Ich empfinde es als sehr schwaches journalistisches Niveau davon zu schreiben, dass „das Netz“ oder „die Netzgemeinde“ eine „Revolte“ begeht, nur weil man ein paar Twitterbeiträge findet.

Sowas findet man quasi IMMER wenn eine beliebte Seite etwas am Design ändert.

Gerne Artikel welche die Thematik Serifen-Schrift im Web behandeln, aber bitte ohne diese Polemik.

Antworten
Raik

Zeigt mir einen der seinen Account deswegen kündigt. Die Härte der Emotionen ist von geringer Dauer, schnell sieht man sich wieder gezwungen den komfortableren Weg beim Shopping zu gehen. Ob da eine Font der Anlass zum Wechsel ist, insbesondere wenn der Wechsel „weg von Amazon“ bedeutet, vermutlich nicht! Vielleicht setzt Amazon sogar wieder neue/alte Trends … ?! ‍♂️

Antworten
Kunde

Wenn man was dagegen hat kann man amazons front-end support team unter tech-help@amazon.de anschreiben, hab ich jedenfalls so gemacht. :)

Antworten
Niko Müller

Ein weiteres Unding sind allgemein hellgraue Buchstaben auf weißem Hintergrund. Nach einer Operation am Grauen Star (30 Jahre am PC und ehemaliger Raucher) ist Barrierefreiheit ein Riesenthema und wird mit der demographischen Entwicklung zunehmen. Danke an Eva, dass sie es anspricht.

Antworten
Kettensprenger

2 Dinge sind bemerkenswert: Wie leer muss ein Leben sein, um sich über eine neue Schriftart aufzuregen? Und ist die Gier von Jeff Bezos so grenzenlos, dass die letzten Cents Profit herausgekitzelt werden müssen?

Antworten
Ronny

Du hast den Artikel gelesen und einen Kommentar dazu geschrieben. Demnach kann Dein Leben auch nicht viel „voller“ sein.

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