Von wegen Genie! Jeff Bezos Prinzipien stammen aus dem Jahr 1848
Amazon-Gründer Jeff Bezos. Ist sein Erfolgsgeheimnis älter als gedacht? (Foto: dpa)
Die innovativen Grundsätze, auf denen Amazon basiert, haben das Unternehmen zum Handelsgiganten werden lassen. Der „Circle of Growth“ von Amazon ist berühmt geworden: Das stetige Zirkulieren des Kapitals, der Verkauf zu Niedrigpreisen, die erdrückende Macht eines Sortiments – welche zu immer stärker wachsenden Kundenfrequenzen führt.
Amazon und der einsetzende Siegeszug des Online-Handels Ende der Neunziger läutete ein neues Zeitalter ein. Gleichzeitig fühlte sich der traditionelle Handel mit dem einsetzenden Erfolg unter Druck gesetzt und musste lernen, sich mit den neuen Gesetzmäßigkeiten abzufinden. Oft mehr oder weniger widerwillig und bis heute wird Amazon von vielen als Ort angesehen, wo Waren und Marken verramscht werden.
1848 stieg ein Mann namens Aristide Boucicaut in ein Handelsunternehmen mit Namen Le Bon Marché ein. Boucicaut, der Jeff Bezos seiner Zeit, begründete das Zeitalter der Warenhäuser. Sein Luxuskaufhaus in Paris ist noch heute ein prunkvoller Tempel des Konsums. Ein Blick zurück in jene Zeit zeigt, dass sich die Geschichte wiederholt. Und dass die Prinzipien, auf denen Amazons Geschäftsmodell basiert, nicht wirklich neu sind.
Das „Paradies der Damen“: Ein 130 Jahre alter Gesellschaftsroman beschreibt die Handelswelt von heute
Der Klassiker „Paradies der Damen“ von Émile Zola beschreibt die alte, glanzvolle Welt der ersten Warenhäuser in Paris. Zola ist als Autor bekannt für seinen sehr authentischen Gesellschaftsroman. Um die Organisation und die Geschäftsphilosophie dieser umwälzenden, neuen Warentempel möglichst korrekt und authentisch abzubilden, stellte Zola umfangreiche Recherchen an. Er besuchte über einen langen Zeitraum das größte und erste Warenhaus in Paris, Le Bon Marché, und die Nummer zwei, Grands Magasins du Louvre, und ließ sich hinter die Kulissen führen, führte umfangreiche Interviews.

Le Bon Marché im April 2017. (Foto: Jochen G. Fuchs)
Die Geschichte der Protagonistin Denise und ihres Konterparts, dem Kaufhaus-Chef Mouret, ist im Prinzip nebensächlich, der wahre Held des Romans ist das Kaufhaus an sich: das „Paradies der Damen“. Während für den fiktiven Kaufhaus-Chef der Bon-Marché-Gründer Boucicaut und Heriot, der Gründer der Grands Magasins du Louvre, als Vorbilder herhielten, waren die Kaufhäuser der beiden Unternehmer das Vorbild für das „Paradies der Damen“.
Neben der Faszination, die von dem ersten Kaufhaus der Welt ausgeht, zeigt Zolas Werk heute vor allem eines: Die Probleme, vor denen der Einzelhandel heute steht, sind mehr oder weniger dieselben wie vor 130 Jahren. Das zeigt sich am besten an Originalzitaten.
Parallelen zur heutigen Handelswelt
Attitüde des klassischen Einzelhandels zu Beginn der Evolution
„Ab und zu erschien Kundschaft, allein der Laden verlor nichts von seiner anfänglichen Muffigkeit, seinem Halbdunkel, in dem der ganze alte, rechtschaffene, einfache Handel seinen traurigen Niedergang zu beklagen schien.“
Über den damaligen Einzelhandel: „Sie seien im Grund an ihrem Unglück selber schuld; man dürfe sich nicht so eigensinnig in die alten, längst wurmstichig gewordenen Handelsbräuche verbohren.“
Kampf gegen die Windmühlen
Ein Fürsprecher des traditionellen Handels: „Er beschuldigte die großen Warenhäuser, dass sie die französische Industrie ruinierten; ihrer drei oder vier diktierten allen übrigen die Preise und beherrschten den Markt. Der einzige Weg, sie zu bekämpfen, sei die Begünstigung des Kleinhandels.“
Amazons Circle-of-Growth
Die Prinzipien von Amazons Circle-of-Growth finden sich ebenso wie viele Prinzipien des modernen Marketings und Handels in Zolas Gesellschaftsroman wieder, wie die folgenden Zitate eindrucksvoll demonstrieren.
Stetig wachsendes Sortiment
„Da war vor allem die überwältigende Macht, die von einem riesigen, an einem Punkt konzentrierten Warenangebot ausging; niemals durfte es an etwas fehlen, jeder gewünschte Artikel musste stets zur Stelle sein.“
Stetig zirkulierendes Kapital, Umsatz ist alles
„Er wollte lieber mit Verlust verkaufen als gar nicht, getreu seinem Grundsatz, dass das Kapital so schnell wie möglich umgeschlagen werden müsse.“
„Wir brauchen gar kein riesiges Kapital; unsere einzige Aufgabe ist die: So rasch wie möglich die eingekauften Waren wieder abzustoßen, um sie durch andere zu ersetzen, wodurch sich das Kapital stets von neuem verzinst. Auf diese Weise können wir uns mit einem bescheidenen Gewinn begnügen.“
Kundenfrequenz über alles
„Es galt bei ihm als Gesetz, dass nicht ein Winkelchen im Paradies der Damen leer bleiben dürfe. Er wollte überall Geräusch, Bewegung, Leben sehen; ‚denn Leben‘, sagte er, ‚zieht neues Leben an‘.“
Unbedingte, gnadenlose Kundenzentrierung
„Bei der geringsten Klage der Kundschaft zeigte die Geschäftsleitung sich unerbittlich, keine Entschuldigung wurde angenommen, der Angestellte hatte immer unrecht und mußte verschwinden wie ein schadhaftes Werkzeug, das dem reibungslosen Funktionieren des Verkaufs nur im Wege ist.“
Die neue, alte Welt des Handels
Zolas umfangreiche Recherchen wurden später veröffentlicht und geben weitere Einblicke in die Welt der damaligen Warenhäuser. 100 Millionen Franc Umsatz erwirtschaftete das Kaufhaus Le Bon Marché in seinen Hochzeiten zur Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts, gemessen an der Kaufkraft von heute entspricht das laut dem französischen Statistikamt umgerechnet ungefähr 360 Millionen Euro. Rund 1.800 Mitarbeiter arbeiteten damals wie heute in dem Kaufhaus. Auch wenn der Umsatz in Relation nicht mehr denselben Marktanteil erreichen dürfte und die Quadratmeteranzahl von 50.000 auf 30.000 gesunken ist, ist Le Bon Marché heute immer noch eines der schönsten und attraktivsten Warenhäuser der Welt.
Seit 1984 ist das Kaufhaus im Besitz der LVMH-Group und Teil deren Selective-Retailing-Group, die weltweit im letzten Jahr 12 Prozent Umsatzwachstum erreicht hat. Zusammen mit 24sevres.com, dem neuen Onlineshop des Le Bon Marché, wird dieses Urgestein des Handels auch im digitalen Zeitalter überleben.

Le Bon Marché im April 2017. Die neue Schuhabteilung im atemberaubenden, alten Interieur aus dem 19. Jahrhundert. (Foto: Jochen G. Fuchs)
Seine disruptive Wirkung hat heute Amazon übernommen, Boucicauts Rolle spielt heute Jeff Bezos. Mit Prinzipien, die auf denen basieren, die der Pariser Handelsmogul Ende des 19. Jahrhunderts begründet hat. Ausgelöscht wird dadurch heute wie damals nicht zwangsweise der ganze konkurrierende Handel. Um das Le Bon Marché herum sind nach wie vor viele Einzelhandelsgeschäfte zu finden, darunter auch eine inhabergeführte Buchbinderei. Sterben wird, heute wie damals, „der ganze alte, rechtschaffene, einfache Handel“ der immer noch an „längst wurmstichig gewordenen Handelsbräuche[n]“ festhält – um es mit Zolas Worten zu sagen.
Obwohl Zolas Roman eine Liebesgeschichte ist, ist die Welt der neuen Warenhäuser anfangs kein romantisches Zuckerschlecken. Sowohl Protagonisten als auch reale Vorbilder gehen anfangs über Leichen. Personal ist reine Arbeitskraft, schwangere Frauen werden gefeuert und die Menschen im Allgemeinen eher wie Leibeigene behandelt – aus heutiger Sicht. Trotzdem waren die Verdienstmethoden enorm. Und im Laufe der Zeit wandelte sich das Bild, Boucicauts Frau setzte sich stark für die Angestellten ein, der Mogul beteiligte seine Verkäufer am Unternehmen und schuf Sozialleistungen wie beispielsweise eine Pensionskasse. Die Parallelen zur heutigen Handelswelt sind auch hier nicht zu übersehen.
Der Roman „Das Paradies der Damen“ ist im Gutenberg-Projekt online lesbar, bei Amazon kostenfrei und bei Tolino für 0,99 Euro beziehbar oder als gedruckte Fassung im Handel erhältlich. Zolas Gesellschaftsstudie, die Recherchenotizen für seinen Roman, sind im französischen Originaltext online einsehbar, gedruckt nur noch antiquarisch erhältlich. (Emile Zola: Frankreich, Mosaik einer Gesellschaft. Herausgegeben von Henri Mitterand. Wien/Darmstadt 1986.)