Anleitung zum Aufstehen: Brauchen wir Routine-Videos auf Tiktok, Youtube und Instagram? - t3n

Routine-Videos sind seit Jahren Teil der Online-Landschaft. In unserer Redaktion scheiden sie die Geister: Entertainment, hilfreiche Tipps und einfach grober Unfug? Ein Pro und Contra. Morgens fit in den Tag starten, abends ruhig einschlafen, dazwischen ein Programm aus Hautpflege, Putzen und Sport – wer online den Begriff „Routine“ eingibt, wird von Ergebnissen erschlagen. Videos, Podcasts, Artikel und sogar Bücher zeigen uns, wie mehr oder weniger bekannte Menschen ihren Alltag strukturieren. Das Credo, das dabei transportiert wird: Wer die gezeigten Abläufe übernimmt, kommt höher, schneller, weiter im Leben. Klick- und Verkaufszahlen zeigen, dass sich erstaunlich viele Menschen für das Leben der anderen interessieren – darunter auch t3n-Redakteurin Elisabeth Urban. Während sie ein Plädoyer für Routine-Content abgibt, liefert ihre Kollegin Stella-Sophie Wojtczak die Kontra-Argumente. [tableofcontents] Contra: Routine-Videos vermitteln ein falsches Bild... … sagt Stella-Sophie Wojtczak, verantwortliche Redakteurin für Podcasts und Bewegtbild bei t3n. [crosslinks ids= "1208840,1671375,1668219"] Brauchst du eine Anleitung zum Aufstehen? Wenn ja: In Routine-Videos wirst du fündig. Das Rezept für diesen Content ist simpel: Altbekannte Tipps für einen besseren Tagesablauf bekommen mittels „Clean-Girl”-Ästhetik einen neuen Anstrich. Die Farben sind hell, die Haare glatt und das Licht ist sanft. Mal eine Hautunreinheit zu zeigen gehört schon fast zum guten Ton, ansonsten zieht sich Perfektionismus durch Körperpflege, Sportprogramm und Kaffeezubereitung. Das ist auf der einen Seite langweilig, weil immer gleich, regt auf der anderen Seite aber auch zum Vergleich an. Unrealistische Vorbilder Schon seit Jahren wird diskutiert, wie Social Media gerade junge Menschen zunehmend unter Druck setzt. Der sogenannte soziale Vergleich, der im Zusammenhang mit Social-Media-Content entsteht, könne sich negativ auf das Körperbild, die Selbstwahrnehmung und das Selbstwertgefühl auswirken, sagt Kommunikationswissenschaftler Adrian Meier von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gegenüber dem MDR. Es geht ums Aussehen – und das spielt auch in Routine-Videos eine große Rolle. Sicher eignen sich manche Routine-Videos zur Inspiration. Allerdings gibt es auch die Kehrseite: Perfekte Kulissen zeigen Zuschauer:innen, dass sie eigentlich schon zum Tagesstart versagen. Mit verwuscheltem Haar und knautschigem Gesicht zum fünften Mal die Schlummer-Taste zu drücken, ist manchmal realistisch – aber nicht der Content, aus dem Routine-Videos gemacht werden. Dazu kommt: Wer fest angestellt einem klassischen Job nachgeht, hat ganz andere Ressourcen als ein Milliardär und andere Prioritäten als Menschen, die mit ästhetischen Inhalten ihr Geld verdienen. Creator:innen können sich ihre Zeit häufig frei einteilen, gehen teils noch zur Schule oder studieren. Eine perfekte Routine zu entwickeln und zu promoten, gehört für sie in vielen Fällen genauso zum Geschäftsmodell wie ein durchtrainierter Körper, zusammenpassende Sport-Outfits und appetitlich angerichtete Mahlzeiten. Für Menschen, die 40 Stunden pro Woche im Angestelltenverhältnis arbeiten, sind die gezeigten Routinen oft kaum machbar. Das kommentierte auch eine Zuschauerin unter einem Routine-Video. Die Antwort der Video-Creatorin bestand aus dem folgenden Rat: Einfach früher starten und die einzelnen Punkte weniger lange ausführen. Routine für mehr Freizeitstress Damit ich also entspannt in den Tag starte oder den Abend ruhig ausklingen lasse, muss ich mich erst einmal beeilen? Das klingt nach Freizeitstress. Kurios ist zudem, wie ich mich als Video-Konsumentin entspannen soll, während die Person im Video um fünf Uhr früh die Yogamatte auf den Boden schmeißt, um danach im High-Performer-Modus möglichst produktiv zu sein. Da spüre ich beim passiven Zuschauen entweder Stress – oder schlafe ein, weil der gezeigte Content ohnehin immer gleich aussieht und mir keinen inhaltlichen Mehrwert liefert. Wenn die einzelnen Schritte wenigstens öfter informativ erklärt würden – aber Videos, die einen rein ästhetischen Anspruch haben, bringen letztendlich nur den Creator:innen etwas, die durch beworbene Produkte Werbeeinnahmen erzielen. Pro: Was interessiert uns das Leben der anderen?... … fragt sich Elisabeth Urban, crossmediale Redakteurin mit dem Schwerpunkt Arbeitswelt bei t3n. Unrealistische Ästhetik, überladene Schritt-für-Schritt-Anleitungen und auffällig viele beworbene Produkte: All das kann man zurecht an Routine-Videos kritisieren. Ein Blick auf die Youtube-Aufrufzahlen zeigt aber auch, dass Routine-Videos millionenfach angeklickt werden. Das Konzept funktioniert, und ja, ich gebe zu – auch bei mir. Aber warum eigentlich? Was macht Routine-Content mit uns? Medienpsychologin Josephine Schmitt vom Bochumer Center for Advanced Internet Studies erklärt mir per Mail: Dass Menschen sich die Routinen anderer anschauen, kann unterschiedliche Gründe haben. Da ist zum einen der Wunsch nach Veränderung im eigenen Leben. „Viele Menschen suchen nach Möglichkeiten, ihren Alltag effizienter, gesünder oder produktiver zu gestalten“, sagt Schmitt. „Wenn insbesondere erfolgreiche Personen oder Influencer:innen in sozialen Medien ihre Routinen teilen, entsteht der Eindruck, dass diese Gewohnheiten ein Schlüssel zum Erfolg sind“. Wir vergleichen uns, suchen uns Vorbilder, hoffen, dass wir mit den gleichen Routinen ähnliche Erfolge erzielen und werden vielleicht zum Ausprobieren inspiriert. Besonders ausgefallen müssen die gezeigten Abläufe dafür nicht sein, sagt Schmitt. Gerade Schritte, die realistisch machbar scheinen, können die Selbstwirksamkeit, „also die Überzeugung, dass man durch eigenes Handeln positive Veränderungen bewirken oder Hindernisse überwinden kann“, stärken. Alles planbar: Schöne neue Routinen-Welt Aber nicht alle Routine-Fans werden vom Wunsch angetrieben, ihr Leben zu verändern und dafür Vorbilder zu finden. Es gibt da auch noch die Fraktion, zu der ich mich aktuell zähle. Ich bin mir ziemlich bewusst, dass ich in der nächsten Zeit weder die umfassenden Gesundheitstipps von Neurowissenschaftler Andrew Huberman durchexerzieren werde, noch einen Marathon laufe, den Tag mit Bibellesen starte – ja, auch diese Ecke gibt es im Routinengame – oder plötzlich um fünf Uhr morgens im farblich perfekt abgestimmten Pyjama aufwache. Für mich ist Routine-Content schlicht das, was für viele beispielsweise Animal Crossing, die Sportschau oder der neueste Marvel-Blockbuster sind: Berieselung, die entspannt. Für den Entspannungsfaktor gibt es zusätzlich eine psychologische Erklärung. Denn: Routinen und Rituale geben Menschen grundsätzlich ein Gefühl von Stabilität und Kontrolle. „Das Zuschauen bei Routinen und Ritualen anderer Menschen kann beruhigend wirken und suggerieren, dass alles planbar ist“, erklärt Josephine Schmitt. Während ich in meinem Alltag also immer wieder mit To-Dos und Verabredungen jonglieren muss, ist in den inszenierten Routinen der Online-Welt nie jemand krank. Die Busse sind nie zu spät – wobei, es fährt einfach kaum jemand, der Routinen dreht, mit dem Bus –, und der Staubsauger erledigt elegant automatisch seine Arbeit, statt mürrisch stinkend einen Beutelwechsel zu verlangen und gleichzeitig am Teppichrand zu zerren. Online-Illusion: Nur kein Druck Was mir beim Zuschauen durchaus klar ist: Die meisten Routine-Videos haben wenig mit dem echten Leben zu tun. Sie sind auf Ästhetik getrimmt, dienen oft der Vermarktung von Produkten. Auch Josephine Schmitt warnt deswegen vor unreflektiertem Konsum: „Je stärker meine Bindung zu den Influencer:innen ist, (...), desto weniger hinterfrage ich die dargebotenen Inhalte und angebotenen Produkte. Das kann insbesondere problematisch sein, wenn es sich um gesundheitsschädigende Routinen handelt oder um Routinen, für die bestimmte teuer zu erwerbende Produkte notwendig sind“. Am Ende gilt vermutlich, was auch für viele andere Inhalte auf Social Media gilt: Wenn der Vergleich und damit das Gefühl, nicht gut genug zu sein, einsetzen, ist es Zeit, abzuschalten. [articlegallery id="223"]