Unsichtbares wird sichtbar: Forscher filmen Atombewegungen in Echtzeit

Was lange unmöglich schien, ist Forscher:innen der Northwestern University im US-Bundesstaat Illinois nun gelungen. Sie haben atomare Teilchen bei ihrer rasanten Arbeit während einer chemischen Umwandlung beobachtet. Möglich wurde dies durch eine revolutionäre Mikroskopie-Technik, die nicht nur präzise Momentaufnahmen liefert, sondern ganze Abläufe sichtbar macht – und dabei Erstaunliches offenbarte.
Die Technik: Smart-Em macht Atome sichtbar
Möglich wurde dieser Durchbruch durch eine spezielle Form der Elektronenmikroskopie namens SMART-EM (Single-Molecule Atomic-Resolution Time-Resolved Electron Microscopy). Man kann sie sich wie eine extrem hochauflösende High-Speed-Kamera für die Nanowelt vorstellen.
Statt die empfindlichen Moleküle mit energiereichen Strahlen zu zerstören, wie es bei herkömmlichen Methoden oft passiert, tastet Smart-Em die Probe mit sanften, ultrakurzen Elektronenpulsen ab. Das Ergebnis sind scharfe „Filme“, die nicht nur zeigen, wo einzelne Atome sitzen, sondern auch, wie sie sich bewegen, Bindungen eingehen oder lösen.
„Früher konnten wir nicht sehen, wie sich Atome bewegen. Jetzt können wir es“, bringt es Dr. Yosi Kratish, leitender Forscher am Institut für Chemie der Northwestern University, auf den Punkt.
Die Beobachtung: Ein unerwarteter „Klebeeffekt“
Das Team untersuchte eine grundlegende katalytische Reaktion: die Abspaltung von Wasserstoff von einem Alkoholmolekül an einer Katalysatoroberfläche. Solche Prozesse sind fundamental für viele industrielle Anwendungen – von der Treibstoffherstellung bis zur Pharmazie. Bisher ging man davon aus, dass die bei der Reaktion entstehenden Zwischenprodukte schnell vom Katalysator weg diffundieren.
Doch die Live-Aufnahmen zeigten ein anderes Bild. Das Zwischenprodukt, ein sogenannter Aldehyd, blieb überraschenderweise am Katalysator haften. Mehr noch: Die Aldehyde verbanden sich direkt an der Oberfläche zu kurzen Ketten – Polymeren. Diese Entdeckung eines gänzlich unerwarteten Reaktionsschritts stellt etablierte Modelle fundamental infrage und hat damit das Potenzial, bisheriges Lehrbuchwissen zu korrigieren.
Die Bedeutung: Von Black Box zu Blaupause
Doch was bedeutet das konkret für die Lehrbücher und die Praxis? Die bisherige Beschreibung, wie Moleküle auf Katalysatoroberflächen reagieren und was mit Zwischenprodukten geschieht, war offenbar unvollständig.
Die nun entdeckte Polymerbildung auf der Oberfläche erklärt womöglich, warum industrielle Katalysatoren oft unerwartet an Leistung verlieren oder „verkleben“. Mit diesem Wissen lassen sich zukünftig effizientere und langlebigere Katalysatoren gezielt konstruieren.
Katalysatoren sind die Arbeitspferde der chemischen Industrie, aber ihre genaue Funktionsweise ist oft eine Art „Black Box“. Man weiß, was vorn hineingeht und hinten herauskommt, aber die entscheidenden atomaren Schritte dazwischen blieben meist verborgen.
„Indem wir diesen Prozess visualisieren und die Mechanismen verfolgen, verstehen wir exakt, was im feinsten Detail passiert“, erklärt Dr. Kratish in einer Pressemeldung der Universität.
Mit diesem neuen Wissen können Forscher nun gezielter Katalysatoren designen, die effizienter, selektiver, langlebiger und umweltfreundlicher arbeiten – etwa für die Produktion von grünem Wasserstoff oder für nachhaltigere chemische Synthesen. Auch die Entstehung unerwünschter Nebenprodukte lässt sich so besser verstehen – und vermeiden.
„Das ist ein großer Durchbruch“, so Dr. Kratish. „Smart-Em verändert die Art, wie wir Chemie betrachten.“ Die Studie, die am 11. April im Fachjournal Chem veröffentlicht wurde, ist wohl erst der Anfang einer neuen Ära der „visuellen Chemie“.