Barrieren app-bauen: Warum Apps einen gesellschaftlichen Nutzen haben sollten
Schon lange, bevor ich mich mit meiner Behinderung auseinandergesetzt habe oder die ersten Ideen bei den Sozialhelden hatte, habe ich mich für Computer und dieses Internet interessiert. Ich mochte es, an etwas herumzutüfteln und damit ein Problem zu lösen – ohne meinen Computer hätte ich diese Seite von mir vielleicht nicht kennengelernt. Ich glaube, es war von Anfang an die Faszination dafür da, selbst etwas verändern zu können. Ich hatte die Werkzeuge an die Hand bekommen, um etwas zu lösen oder zumindest auf ein Problem hinzuweisen („Hallo Welt!“ – WordPress).
Auch gefühlte 100 Internetjahre später hat sich an dieser Faszination für Gadgets, Apps und Technik allgemein nichts verändert, und auch bei den Sozialhelden ist unser größtes Projekt ein digitales Produkt: Wheelmap.org ist eine Online-Karte zum Suchen und Finden rollstuhlgerechter Orte. Einen bitteren Geschmack im Mund bekomme ich trotzdem, wenn ich auf meinem Handy meine Apps so durchscrolle und mich frage: Welche Probleme lösen Lieferhelden, Instagram oder Twodots wirklich? Warum habe ich diese Apps auf meinem Handy? Um schnell eine Pizza zu bestellen oder Bilder zu herzen von irgendwelchen Menschen, die auf Madeira wandern? Oder um Geld auszugeben für weitere zehn Spielleben?
Auch wenn ich bei t3n in die Listen der beliebtesten Apps schaue, finde ich fast alle Apps auf meinem Handy wieder, aber frage mich immer mehr: Warum?
90 Prozent der Apps auf meinem Handy haben keine gesellschaftliche Relevanz
Vielleicht ist es eine Art Tunnelblick, weil ich eine Behinderung habe und mit Freunden die Idee hatte, mit einer App eine Lösung zu finden. Deswegen ist meine Aufmerksamkeit für den Sinn und Unsinn von Apps sehr hoch und ich stelle mir die Frage, wo all die Apps und Gadgets sind, die soziale Probleme angehen und im besten Fall lösen. Ich betrachte Anwendungen kritischer: Bringt das was oder will ein App-Anbieter einfach nur unser Geld für die Premium-Version der tollen To-do-App haben? Manchmal habe ich das Gefühl, dass 90 Prozent meiner Apps auf dem Handy keine gesellschaftliche Relevanz haben.
Könnten nicht mehr Apps entwickelt werden, die einen gesellschaftlichen Nutzen haben?
Natürlich muss nicht jede App politisch wichtig sein, und ich will auch kein Kulturpessimist sein, der „das alles“ verteufelt und schlecht findet. Ich freue mich über alle Teams, die ein Programm, App oder was auch immer entwickeln und erfolgreich sind. Ich werde ja nicht gezwungen, den zwanzigsten Messenger auf meinem Handy zu installieren. Ich frage mich einfach, ob nicht wenigstens ein paar mehr Apps entwickelt werden können, die einen gesellschaftlichen Nutzen haben können. Gibt es zum Beispiel Apps, die Barrieren bei der Mediennutzung für Menschen mit Behinderungen abbauen?
Denn viele Barrieren fangen schon innerhalb der eigenen vier Wände an, wenn ich beispielsweise meinen Fernseher oder das Streaming-Abo starte und einfach nicht verstehe, was da geredet wird. Und mit „nicht verstehen“ meine ich nicht, die wirren Dialoge bei Twin Peaks inhaltlich begreifen zu können, sondern das Gesagte einfach in keiner für mich zugänglichen Form verfügbar zu haben. Denn Menschen mit Hörbehinderungen sind zum Beispiel auf Untertitel angewiesen, die oft fehlen. Was mache ich eigentlich, wenn ich eine Sehbehinderung habe und eine Live-Sendung sehen will? Gibt es da außer bei Fußballspielen gute Audiodeskriptionen, die ich zuschalten kann? Wie kann ich einen besseren Zugang zu Zeitungen und Magazinen schaffen? Sind die digitalen Angebote barrierefrei?
Menschen mit Behinderung wollen Medien aller Art genauso wie Menschen ohne Behinderung konsumieren können. Menschen mit Hörbehinderungen sind öfters im Netz zu finden als Menschen mit Sehbehinderung. Personen, die in der Mobilität eingeschränkt sind, schalten hingegen öfters mal den Fernseher ein. Diese Unterschiede ergeben sich meistens aus den Barrieren, die mit den jeweiligen Angeboten einhergehen.
Medienangebote müssen barrierefreier werden
Natürlich sollte jede TV-Anstalt, jedes Programm, jede/r Webseitengestalter/in in die Pflicht genommen werden, dass ihre Angebote barrierefrei zu nutzen sind, aber wir sehen auch, dass das oft nicht passiert. Und an dieser Stelle könnten Apps und Gadgets vielleicht die Lösung sein. Wie beispielsweise „Greta und Starks“, die Untertitel und Audiodeskriptionen für Kinfofilme anbieten, die man dann vor Ort synchron über sein Handy verfolgen kann.
Ich frage mich oft, warum bei uns Untertitelung, Audiodeskription, Gebärdensprachdolmetschung und optionale Einstellungen für Ton oder Bild immer noch kein Standard sind. Die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse kann zu Lösungen führen, die für alle einen großen Mehrwert haben und eben nicht nur für eine kleine Gruppe, die auf Barrierefreiheit angewiesen ist. Die Digitalisierung und die neuen Technologien, die wir als „smart“ begreifen – Smart Homes, Smart TVs, Smartphones – bieten viele Möglichkeiten, diese individualisierbaren, praktischen und kreativen Lösungen zu entwickeln.
Genauso sehe ich aber auch, dass es schon tolle Apps und Gadgets gibt, die nicht direkt Barrieren abbauen, sondern indirekt eine Lösung für Menschen mit Behinderung bereithalten. Dass es sie gibt, erfährt man aber vielleicht nicht – sie sollten mehr kommuniziert werden. Ich lasse mir zum Beispiel gerne über die Pocket-App Texte vorlesen, wenn ich gerade unterwegs bin, oder von Alexa das Licht im Wohnzimmer einschalten. Wenn man das Ganze noch mit den Lüsterklemmen von Digitalstrom und Thermostaten kombiniert, kann man auch Heizungen und Steckdosen steuern. Mega spannend!
Da, wo Barrieren sind, will ich gerne Lösungen haben, ich will Apps, Prototypen und Gadgets sehen, die dort helfen, wo Medien selbst versagt haben. Und wir können noch einen Schritt weitergehen: Sind eigentlich die besten Apps auf dem Markt barrierefrei und bieten einen Zugang für Menschen mit Behinderung? Denn auch behinderte Menschen sollten ein Recht darauf haben, sich ihre Zeit am Handy mit dem Liken von Bildern oder mit Wort-Guru zu vertreiben.