Cluetrain Manifest neu aufgelegt: „Warum nennen wir ‚Native Ads’ nicht beim Namen – Fake Fucking News?“
Als die US-Amerikaner Rick Levine, David Weinberger, Doc Searls und Christopher Locke zu Zeiten des Dotcom-Booms ihre 95 Thesen über das Verhältnis von Kunden und Unternehmen im digitalen Zeitalter verfassten, sorgte das Papier für großes Aufsehen. Die Autoren haben versucht den kommerziellen Teilnehmern des Internets die Position der eigenen Kundschaft klarzumachen: „Wir sind keine Zuschauer oder Empfänger oder Endverbraucher oder Konsumenten. Wir sind Menschen – unser Einfluss entzieht sich eurem Zugriff!“, hieß es in dem sogenannten „Cluetrain Manifest“.
Gemeint war damit auch, dass Unternehmen sich in besonderem Maße auf ihre Kunden einlassen müssen und dass das Internet dafür sorgt, dass sich Märkte noch schneller neu ordnen, als das im analogen Leben sowieso schon der Fall war. „Märkte sind Gespräche“, lautete die allererste Regel des visionären Schriftstücks. „Cluetrain“ bedeutet übrigens so viel wie „Zug der Ahnung“ und sollte vor allem als Thesenpapier für die digitale Welt verstanden werden.
Ende der vergangenen Woche, knapp 16 Jahre später, wurde eine Aktualisierung von Doc Searls und David Weinberger veröffentlicht. Im Rahmen von „New Clues“ haben die beiden Internetvordenker 121 neue Gedanken zum Werdegang des Netzes aufgestellt, die vor allem auf eines aufmerksam machen: Den gegenwärtigen Stand der Kommerzialisierung des World Wide Webs und die damit im Zusammenhang stehende Entfremdung der eigentlichen Ursprungsidee.
Das Internet gehört nicht Google!
„The Internet is us, connected!“, heißt es in „New Clues“ gleich zu Beginn. Die Autoren gehen damit direkt auf eine zentrale Frage ein, die sich im Zuge der fortschreitenden Monopolstellung großer Internetunternehmen häufiger stellt. Wem gehört eigentlich das Internet? Laut Searls und Weinberger sind es nicht etwa die großen Netzbetreiber rundum AT&T oder der Deutschen Telekom AG, wie es wohl von vielen Menschen angenommen wird. Und auch Plattformanbieter wie Facebook, Google und Amazon sowie Regierungen und Wirtschaftsverbände haben nicht das Recht das Internet für sich zu beanspruchen. „Das Internet sind wir, vernetzt!“, lautet die Kernthese.
Grund zur Annahme, dass vor allem die aufgeführten kommerziellen Protagonisten das ändern wollen, finden die Autoren in zwei Entwicklungen: Zum einen in der rasanten Verbreitung des mobilen Internets und zum anderen in der Bereitstellung von Applikationen, die für sich genommen sogenannte „Walled Gardens“ darstellen, also ein eingegrenztes Ökosystem bilden. In einem Interview, das der SZ.de-Autor Johannes Kuhn mit Doc Searls führte, geht der Schriftführer auf die daraus resultierende Gefahr für das Netz genauer ein: „Apps existieren, anders als Webseiten, isoliert – und damit fehlt ihnen etwas Wesentliches. Jede neue Seite, jeder neue Link macht das Web größer. […] Der Hyperlink ist eine mächtige Errungenschaft des offenen Internets, und wer ihn aufgibt, verhindert etwas Wichtiges, das früher möglich war.“ Gemeint ist, die Vernetzung von allem und jedem.
Online-Werbebranche untergräbt das Vertrauen
Doch nicht nur die Frage nach den Herrschaftsansprüchen treibt die Autoren um. Sie stellen viele Entwicklungen und Vorgehen in Frage: Etwa die Annahme, dass das Web aus „Content“ besteht oder dass es als Medium und nicht als Beziehung zwischen Menschen verstanden wird. Das machen viele Stellen in dem Werk überdeutlich: „Jeder Link von einer Person, die etwas zu sagen hat, ist ein Akt der Großzügigkeit und Selbstlosigkeit. Sie laden Leser ein deren Seiten zu besuchen, um zu sehen, wie die Welt mit den Augen der Anderen aussieht“, ist nur ein Beispiel unter vielen und lässt den Betrachter nachdenklich zurück. Man kommt nicht umhin sich zu fragen, wie weit wir von dem entfernt sind, was die Urväter des World Wide Webs sich eigentlich von der vermutlich größten Erfindung der Menschheit versprochen haben.
Besonders beunruhigt sind die Macher zudem von den Fähigkeiten und Vorgehen der Online-Werbebranche. Dass Menschen auf Schritt und Tritt überwacht und quantifiziert werden, ist dabei keinesfalls der einzige Kritikpunkt – wenn auch der offensichtlich gefährlichste Aspekt gegen die Freiheit der Menschen im Netz. Regierungen leiten aus der Entwicklung des gläserneren Menschen ihre ganz eigenen Interessen ab. Problematisch ist für die Autoren auch die Tatsache, dass Werbebotschaften unter vermeintlich „echte“ Informationen geschoben werden. „Native Ads erodieren nicht nur die eigene Vertrauenswürdigkeit, sondern die Vertrauenswürdigkeit des gesamten Miteinanders!“, heißt es unter anderem. „Und warum nennen wir ‚Native Ads’ eigentlich nicht beim Namen: Product Placement, Advertorial oder Fake Fucking News?“, kritisieren Searls und Weinberger.„Warum nennen wir ‚Native Ads’ nicht beim Namen: Fake Fucking News?“
Cluetrain Manifest: „New Clues“ appellieren an das „Wir“
Insgesamt gibt sich die Stimmung des Stückes uneinsichtig: Das Cluetrain Manifest versprach eine bessere Welt durch Konnektivität. Doch Aspekte wie die digitale Massenüberwachung und die „Winner Takes It All“-Mentalitäten der Konzerne versuchen dieses Versprechen zu entkräften. Das „New Clues“-Update soll den Betrachter daran erinnern, was wir verloren haben – ein freies und offenes Internet. „Die derzeitige Anziehungskraft wirkt groß, jedoch nur solange bis sie uns alle in ein schwarzes Loch zieht.“, geben uns die Schriftführer zu verstehen.
Doch die Autoren sind nicht nur pessimistisch. Klar ist ihnen auch, dass das Internet in seiner Entwicklung noch lange nicht am Ende ist. Und dass es die Konzerne überleben wird. Die übergeordnete Nachricht lautet: Das „Wir“ hat es in der Hand und wird das Internet bekommen, für das es sich einsetzt.