Dieses Fahrrad soll Berufspendler aus dem Auto locken - t3n

Ein Team der Hochschule Darmstadt will das Pendlerrad der Zukunft entwickeln. Es hätte das Zeug, die Menschen aus dem Auto zu bringen. An einem regnerischen Novembertag gleitet ein Fahrrad durch die Platanenreihen der Mathildenhöhe in Darmstadt. Es erinnert an ein größeres Cargobike mit einem Verdeck über der Ladefläche, wie beim Chauffieren von Kindern üblich. Der zweite Blick aber zeigt: Unter dem Verdeck fährt ganz entspannt ein erwachsener Mann. Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 1/2025 von MIT Technology Review erschienen. Darin blicken wir auf die Zukunft verschiedener Tech-Bereiche. Hier könnt ihr die TR 1/2025 bestellen. Dieser Mann ist Stefan Gloger. Nach über 20 Jahren in der Fahrzeugentwicklung bei Opel wechselte er 2021 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Hochschule Darmstadt. Zusammen mit Designprofessor Tom Philipps, dem Industriedesigner Robert Toroczkay sowie dem Koblenzer Cargobike-Hersteller Ca Go hat er das Allwetterbike DaVe (gesprochen wie der englische Vornamen "Dave", als Abkürzung für Darmstadt Vehicle) entwickelt. [tableofcontents] Testgebiet für das Berufspendler:innen-Rad: Darmstadt Es soll Berufspendler:innen vom Auto aufs Fahrrad locken. Darmstadt ist dafür ein besonders gutes Testgebiet: Es hat deutschlandweit die meisten Pendelnden im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Allein die Zahl der „Einpendler:innen“, die regelmäßig zum Arbeiten nach Darmstadt kommen, lag 2022 bei knapp 80.000. Das zeigt sich auch am Verkehr. Rund 30.000 Autos sind werktäglich auf zentralen Verkehrsachsen unterwegs. E-Autos sind also auch keine Lösung, da sie keine Entlastung für die staugeplagte Stadt bieten. [caption id="attachment_1677465" align="aligncenter" width="960"] Wie das Serienprodukt des Darmstadt Vehicle (DaVe) aussehen kann, zeigt ein Modell im Maßstab 1:4, das deutlich die Designsprache des Herstellers trägt. (Foto: Hans Dorsch)[/caption] Etwa 32.000 der Einpendelnden kommen direkt aus der Stadtregion. Eigentlich wären solche Strecken prädestiniert für das Fahrrad. Doch was ist bei schlechtem Wetter? Oder wenn man auf dem Rückweg noch einen Großeinkauf erledigen will? Das ideale Fahrzeug, das die Vorteile von PKW und Fahrrad verbindet, ist noch nicht auf dem Markt. [crosslinks ids="1663130,1669194,1306479"] Um das Thema Nahmobilität mit wissenschaftlicher Gründlichkeit anzugehen, bewarb sich Philipps 2020 mit seinem Fachbereich für das vom Bundesbildungsministerium geförderte Forschungsprojekt „Innovative Nahmobilität“. In diesem Rahmen wurden rund 400 Pendlerinnen und Pendler befragt, wie sie sich das ideale Fahrrad für ihren Weg zur Arbeit vorstellen. Ganz oben auf der Liste stand: Motorunterstützung wirksamer Wetterschutz integrierte Diebstahlsicherung gute Sichtbarkeit im Verkehr ausreichender Stauraum die Möglichkeit, auf Radwegen zu fahren Ein Blick in die Fahrradgeschichte Alle diese Punkte wurden in der Fahrradgeschichte bereits angegangen – aber nie alle gemeinsam. Eine Motorunterstützung hat sich beispielsweise längst etabliert. Beim Wetterschutz sieht es hingegen anders aus: „Gefühlt alle drei Jahre erfindet jemand einen neuen Textilregenschutz, doch kurz darauf wird es wieder still“, sagt Hannes Neupert, Vorsitzender des Vereins ExtraEnergy, der sich seit Anfang der Neunziger für die Verbreitung des Pedelecs einsetzt. „Die Seitenwindanfälligkeit macht solche Lösungen oft gefährlich – und je aufrechter man sitzt, desto größer der Hebel.“ [caption id="attachment_1677152" align="aligncenter" width="620"] Wetterschutz von Paratop: schützt vor Regen, ist aber unpraktisch für spontane Fahrten und windanfällig.(Foto: Hans Dorsch)[/caption] Besser vor Wind und Wetter schützen vollverkleidete Velomobile wie Leitra oder Alleweder. Sie entstanden, lange bevor es Elektro-Unterstützung gab. Bei der Gestaltung dieser Karosserien standen vor allem Aerodynamik und Gewichtsoptimierung im Vordergrund. Mit ihnen lassen sich auch ohne Motor hohe Reisegeschwindigkeiten jenseits der 25 Kilometer pro Stunde erreichen. Der Preis dafür ist eine teilweise extrem niedrige Sitzposition, die das Sehen und Gesehenwerden im Verkehr einschränkt. Dazu kommt der Lärm, denn die dünnen Karosserien wirken wie Resonanzkörper. [caption id="attachment_1677157" align="aligncenter" width="620"] Velomobile von Alleweder, Frikar und Leitra: eher etwas für die sportliche Nische.(Foto: David Massot)[/caption] [caption id="attachment_1677158" align="aligncenter" width="620"] Velomobile von Frikar(Foto: Frikar)[/caption] [caption id="attachment_1677163" align="aligncenter" width="620"] Velomobile von Leitra(Foto: mauritius images / Jorge Tutor / Alamy)[/caption] Der Hersteller Podbike will mit seinem Frikar nun auch ein Velomobil mit Motor anbieten. Es folgt aber dem gleichen Muster. Die große Acrylglaskuppel liefert zwar eine bessere Sicht, wirkt aber schon bei leichter Sonne wie ein Treibhaus. So bleiben Velomobile wohl eher Nischenfahrzeuge für sportlich orientierte Menschen. Einen ganz anderen Ansatz verfolgt der dreirädrige Hopper. Er sieht fast aus wie ein Kleinwagen mit Pedalantrieb. Die Sitzposition ist hoch und komfortabel, es gibt ein Lenkrad und sogar Platz zum Mitnehmen einer Person und Gepäck. Die Kombination aus hohem Schwerpunkt, geringer Spurbreite und unkonventioneller Hinterradlenkung sorgt jedoch schon bei niedrigen Geschwindigkeiten für ein sehr unsicheres Fahrverhalten. Große Lastenräder hingegen haben sich bei Paketdiensten und Privathaushalten bereits etabliert. Doch sie sind oft zu sperrig für Radwege oder haben keinen Wetterschutz. Am Fahrrad: Dachkonstruktion und Stauraum Das Team von DaVe wollte sich vom Vorbild klassischer Fahrräder einerseits weit genug entfernen, um alle Anforderungen unter einen Hut zu bekommen – aber gleichzeitig nicht zu stark mit klassischen Sehgewohnheiten brechen. Bei der Dachkonstruktion lieferte das Auto die Inspiration: Der vordere Scheibenrahmen ist fest montiert. Bei schlechtem Wetter lässt sich aus einer Art Rucksack hinter der Lehne ein Dach aus Zeltstoff ausklappen und am Scheibenrahmen befestigen. „Beim Auto nennt man das Cabrio“, sagt Gloger. Die Scheibe kann man hochklappen, dann funktioniert sie wie ein Schirm, der Regen und Schnee abwehrt und die Sicht freihält. Arme, Schultern und Oberkörper schützt ein eigener Wetterschutz, der in einer zweiten Ebene unter dem Dach verläuft, wie ein am Rad montierter Poncho. Diese Zweiteilung bietet dem Seitenwind weniger Angriffsfläche. Zum Einsteigen muss man sich nur leicht bücken und unter den Poncho schlüpfen. Das geht auch mit über 1,90 Metern Körpergröße ohne Probleme. Der Sitz mit Lehne ist bequem und so niedrig, dass die Füße entspannt den Boden erreichen. Damit der Abstand zu den Pedalen nicht zu klein wird, sind diese weiter vorne montiert. Als Inspiration für diese Sitzposition diente den Designern das Sesselrad Revive von Giant aus dem Jahr 2002, das damals wegen seiner unkonventionellen Gestaltung kaum Anklang fand. Im Gegensatz zum glücklosen Original rückten die DaVe-Entwickler den Lenker nun viel näher an den Körper. Um das zu erreichen, steuern sie das Vorderrad über Seilzüge an. Auf diese Weise entkoppeln sie die Position von Lenker und Vorderrad. Diese Technik ist beim Lastenrad schon länger üblich, allerdings werden dort die Lenkgeometrien immer noch vom klassischen Fahrrad übernommen. Das Forschungsprojekt hingegen nutzt die entstandene Designfreiheit. „Wir können den Lenker jetzt ergonomisch für alle Körpergrößen einstellen“, sagt Gloger. „Das haben wir in Parameterstudien mit vielen Probanden und Probandinnen experimentell erarbeitet.“ „Wir wollen kein kleinskaliertes Auto machen“ Auch das Fahrverhalten lässt sich verbessern, wenn man den Lenkkopf, der die Fahrdynamik steuert, frei positionieren kann. „Beim Lenken neigt sich das Fahrrad, und das Vorderrad kippt normalerweise in die Kurve. Je nach Lenkwinkel und Neigung stellt sich das Rad dann nicht mehr von selbst zurück und schlägt um“, erklärt Gloger. „Das wird mit der neuen Geometrie vermieden. Wir haben erreicht, dass die Rückstellkraft am Lenker immer positiv ist.“ Das Ergebnis ist ein Fahrzeug, das Menschen von 1,60 bis 2 Metern die gleiche Fahrdynamik bietet. In der Praxis spürt man von diesem Aufwand nichts. Und genau so soll es sein. Die Sitzposition passt wie angegossen, das Anfahren gelingt mit Motorunterstützung ganz einfach. Enge Kurven lassen sich bei niedriger Geschwindigkeit fahren, ohne dass die Fuhre kippelig wird. Auch bei 25 Stundenkilometern bleibt es ruhig, denn das weiche Cabriodach schluckt Fahrgeräusche eher, als sie zu verstärken. Die freie Geometrie schafft zudem Raum für einen großen abschließbaren Stauraum vor dem Lenker. Er bietet Platz für mittelgroße Einkäufe, den Helm oder andere Kleinigkeiten, die immer dabei sein sollen. Wie ein Handschuhfach ist er im Sitzen zu erreichen. Wer noch mehr Laderaum braucht, kann gängige Fahrradtaschen am Hinterbau anbringen. Neue Regeln für schnelle E-Bikes Auf ein dreirädriges Konzept haben die Macher bewusst verzichtet. „Die Bürger wünschen sich die Agilität eines Fahrrads. Deswegen ist DaVe ein einspuriges Fahrzeug“, sagt Tom Philipps. „Wir wollen kein kleinskaliertes Auto machen, denn wenn ich ein breites vierrädriges Fahrrad habe, stehe ich mit den Autos im Stau.“ Allerdings wünschen sich viele der Befragten auch eine höhere Geschwindigkeit – wie bei einem S-Pedelec, dessen Motor bis 45 Kilometer pro Stunde unterstützt (siehe TR 5/2023, S. 103). Eine Pendelstrecke von 25 Kilometern könnte man damit in etwa einer halben Stunde schaffen, fast doppelt so schnell wie mit einem herkömmlichen Pedelec. S-Pedelecs gelten rechtlich jedoch als Kleinkrafträder und dürfen deshalb nicht auf Wald- und Forst- oder Radwegen fahren. Außerdem sind für sie Führerschein, Helm und Versicherung vorgeschrieben. Viele der Vorteile eines Fahrrads fallen dadurch weg. Preis für das Pendler-Fahrrad: wie Premium-E-Bikes Das Darmstädter Team kennt das Problem, will sich dadurch aber nicht einengen lassen. Es entwickelt das DaVe als S-Pedelec, von dem sich ein normales Pedelec einfach ableiten lässt – und hofft auf eine liberalere Gesetzgebung. „Die Schweiz, Belgien und Österreich sind da schon weiter, und auch in Deutschland gibt es entsprechende Bestrebungen“, sagt Gloger. Möglichkeiten, die schnellen E-Bikes besser in den Verkehr zu integrieren, gibt es viele. So ließen sich normale Radwege beispielsweise für S-Pedelecs freigeben, wenn diese dafür ein bestimmtes Tempolimit einhalten. Sind die Radwege gut ausgebaut, lassen sie sich auch explizit für schnelle Pedelecs öffnen – so wie der Radschnellweg Frankfurt – Darmstadt. Auch in NRW haben erste Kommunen an Radwegen bereits das Schild „S-Pedelecs frei“ angebracht. Und bei einem generellen Tempo 30 in den Städten könnten die S-Pedelecs flüssig im Straßenverkehr mitschwimmen, ohne dauernd überholt zu werden. Wenn dann noch die Radwegebenutzungspflicht aufgehoben würde, könnten auch die zunehmend breiter werdenden Cargo-Bikes auf die Straße ausweichen und so wieder mehr Platz auf den Radwegen frei machen. Beim DaVe ist der nächste Schritt die Serienfertigung durch den Industriepartner Ca Go. Wie das Serienprodukt aussehen kann, zeigt ein Modell im Maßstab 1:4, das deutlich die Designsprache des Herstellers trägt. Der Preis soll sich auf Höhe aktueller Premium-E-Bikes bewegen. Damit könnte es durchaus einige Zweit- und Drittwagen ersetzen. Dieser Artikel stammt von Hans Dorsch.