EM-Fanmeile Berlin: Warum der Kunstrasen ein echtes Problem ist
Nach dem Corpus Deliciti mussten Alexander Nolte und Oliver Spies nicht lange suchen. Auf und neben der Fanmeile in Berlin fanden sie schon zu Beginn der Fußball-EM häufchenweise abgebrochene Fasern vom grasgrünen Kunststoffrasen, der vor dem Brandenburger Tor auf der Straße des 17. Juni ausgerollt worden war: insgesamt 24 000 Quadratmeter. Der Fund war im Grunde keine Überraschung. Dass aus einem Plastikteppich Mikroplastik bröselt, ist schließlich längst bekannt.
Ein Hohn sei daher, dass er hier trotzdem verlegt worden sei, bemängeln die beiden Gründer des Berliner Unternehmens Guppyfriend. Immerhin haben sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und die Unio der europäischen Fußballverbände (UEFA) auf die Fahnen geschrieben, „dass die EURO 2024 das ‚bisher nachhaltigste Turnier‘ werden und neue Maßstäbe bei der Nachhaltigkeit von Sportgroßveranstaltungen setzen soll“, wie es auf der Website des Bundesumweltministeriums nachzulesen ist.
„Wir haben uns einfach nicht vorstellen können, dass es keine Vorrichtungen gibt, um den Austrag durch Verwehungen oder Abrieb in der Kanalisation zu verhindern“, sagt Nolte. Allein bereits das Zuschneiden und Verlegen des Kunstrasens führe zu ersten Faserverlusten. Abfang-Vorrichtungen seien schon an Sportstätten installiert worden. Dort werde beispielsweise an allen Seiten ein Schutz gegen Verwehungen installiert und Siebe für die Regenwassereinleitung an Gullys.
Für Guppyfriend ist das Eindämmen des Mikroplastikproblems auch ein Geschäftskonzept. Die Firma bietet Schutzvorkehrungen für Kunstrasenplätze seit zwei Jahren auch gewerblich an. Sie seien unter anderem an Trainingsplätzen des VfL Wolfsburg installiert worden und an einem temporären Fußballplatz an der Stuttgarter EM-Fanmeile. Dass Mikroplastikpartikel dennoch vorbei an den Filtervorkehrungen und in die Natur gelangen können, bestreiten die Beiden nicht. „Aber schon nach einem Tag findet man in den Filtern größere Plastikmengen, die dann eben nicht in die Umwelt gelangen können“, so Nolte.
Mikroplastik in Herz und Lunge
Die Kunstrasen-Bruchteile, die Nolte und Spies fanden, sind mit bloßem Auge gut zu erkennen. Doch es dürften noch mehr Plastikemissionen geben. Durch Abrieb können auch viel kleinere Teilchen entstehen, das sogenannte Mikroplastik. Das sind Kunststoffpartikel, die kleiner als fünf Millimeter sind. Partikel unter einem Mikrometer werden als Nanoplastik bezeichnet. Auch sie können direkt durch Abrieb entstehen, zudem durch den Zerfall von Mikroplastik.
Mikro- und Nanoplastik verteilen sich mit Wind, Wasser und Luft in der Umwelt. Sie werden von Tieren und Menschen eingeatmet und über die Nahrung und Trinkwasser aufgenommen. Unter anderem wurden sie schon in Lunge, Herz und Blutgefäßen nachgewiesen. Einer aktuellen Studie zufolge hatten Menschen mit Ablagerungen in den Blutgefäßen ein höheres Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte. Eine Gefahr sind außerdem gesundheitsschädliche Zusatzstoffe wie Flammschutzmittel oder Weichmacher.
Wie viel Plastik inklusive Zusatzstoffe genau die Berliner Fanmeile emittieren wird, bleibt wohl ein Geheimnis. Laut einer Systemanalyse aus dem Fraunhofer-Institut UMSICHT liegt der Faserverlust eines Kunstrasen-Fußballfelds zwischen 50 Kilogramm und einer Tonne pro Jahr. Wieviel auf der mehr als dreimal so großen Fanmeile in Berlin frei werden, lässt sich laut Nolte daraus aber nicht ableiten. „Das ist nicht mit dem Betrieb auf einem Fußballplatz zu vergleichen. Auf dem Kunstrasen am Brandenburger Tor haben 35 000 Menschen auf einmal Platz“, betont er. Die losgetretenen Fasern seien schon jetzt praktisch überall rund um das Gelände zu sehen.
Dass das Nachhaltigkeitsziel der EM und ein Kunstrasenteppich nicht gut zusammengehen, fällt dennoch offenbar nur wenigen auf. Für die Kulturprojekte GmbH, die das umstrittene Grün geplant und verlegt hat, steht die „tolle Kulisse“ im Fokus, wie im Deutschlandradio zu hören war. Wie die Stadt dazu steht, ist unklar. Zwei E-Mail-Anfragen an die Pressestelle der Berliner Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt blieben bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
„Völlig überflüssiges Produkt“
Dabei gab es schon vor dem Ausrollen des Plastikteppichs Kritik. „Es ist absurd, dass nur für den Werbeeffekt dieses völlig überflüssige Produkt verwendet werden soll“, monierte etwa Janine Korduan, Referentin für Kreislaufwirtschaft beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) in einem Spiegel-Artikel aus dem April. „Die Halme werden einige Tonnen Mikro- und Nanoplastik emittieren, eine ökologische Katastrophe.“
Die nachhaltigste Entscheidung wäre fraglos gewesen, ganz auf das Kunststoffgrün zu verzichten, wie es unter anderem die Stadt Köln getan hat. Das hätte nicht nur das Mikroplastikproblem gemindert, sondern auch Ressourcen für die Produktion eingespart – und viel Geld. Der Problemrasen kostete 1,2 Millionen Euro.