Fast so häufig wie Asthma: Seltene Krankheiten sind gar nicht so selten
Seltene Erkrankungen sind in Deutschland fast so häufig wie Asthma. Weltweit sind Hunderte Millionen Menschen betroffen, doch nur für wenige gibt es Therapien.
Von Veronika Szentpétery-Kessler
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9 Min.
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Fünfmal stand David Fajgenbaum an der Schwelle des Todes. Fünfmal überlebte er knapp. Dass er sein Medizinstudium abschließen, die Liebe seines Lebens heiraten und mit ihr zwei Kinder bekommen konnte, hat er seiner eisernen Entschlossenheit zu verdanken. Als seine Ärzte nicht mehr weiterwissen, findet der in South Carolina geborene Fajgenbaum selbst ein Medikament für seine lebensbedrohliche Erkrankung.
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2010 wachte der damals 25-jährige, 190 Zentimeter große ehemalige Football-Quarterback – Spitzname „Das Biest“ – eines Nachts schweißgebadet mit geschwollenen Lymphknoten und starken Bauchschmerzen auf. Sein Zustand verschlechterte sich in wenigen Wochen drastisch. „Fast alle Teile meines Körpers begannen zu kollabieren. Zuerst meine Leber, dann meine Nieren, dann mein Knochenmark und dann mein Herz“, schreibt Fajgenbaum in seinem Buch Chasing my Cure.
Nach der ersten Nahtoderfahrung erhielt Fajgenbaum immerhin eine Diagnose: eine seltene Form der Castleman-Krankheit, eine Mischung aus Krebs und Immunstörung. Doch keine Behandlung wirkte dauerhaft: weder Kortikosteroide noch Chemotherapien – und auch nicht das eigens für die Castleman-Krankheit entwickelte Antikörper-Medikament Siltuximab, das Fajgenbaum über eine Ausnahmegenehmigung noch vor der Zulassung als sogenannte Compassionate-Behandlung bekam.
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Fajgenbaum ist kein Einzelfall. Weltweit haben rund 400 Millionen Menschen eine Seltene Erkrankung. In Deutschland sind es vier Millionen, die Hälfte davon Kinder. Die Zahl liegt in der Größenordnung von Volkskrankheiten wie Asthma, unter dem hierzulande 3,5 Millionen Menschen leiden. „Selten“ bedeutet nach europäischer Definition, dass nicht mehr als einer von 2000 Menschen betroffen ist. In sogenannten ultraseltenen Fällen gibt es weniger als einen Patienten pro 50 000 Gesunden. Und in den USA gilt eine Erkrankung als selten, wenn sie nur einen von 200.000 Menschen betrifft.
Seltene Krankheiten sind oft komplex, chronisch und gehen mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie einer geringen Lebenserwartung einher. Sie können neurodegenerativ sein oder den Stoffwechsel betreffen. Erbkrankheiten machen mit über 70 Prozent den größten Anteil der Seltenen Erkrankungen aus. Daher sind gerade Kinder besonders häufig von Symptomen betroffen. Je nach Schätzung gibt es weltweit 7.000 bis 8.000 Seltene Erkrankungen. Für nur etwa fünf Prozent existiert eine Behandlung oder Therapieempfehlung. Ein Grund dafür ist, dass die Entwicklung neuer Medikamente für die Pharmaindustrie wegen der kleinen Zielgruppe unattraktiv ist.
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Seltene Krankheiten: Bis eine Diagnose feststeht, kann es Jahre dauern
Die Probleme beginnen schon mit der Diagnose. Eben weil die Krankheiten so selten und verschieden sind, haben Haus- und Fachärzte sie oft nicht auf dem Radar. Bis eine Diagnose feststeht, kann es Jahre dauern. Auch die Erforschung wichtiger Details zu den Krankheitsverläufen ist langwierig. Mitunter stehen schlicht nicht genug Probanden für Studien zur Verfügung. Forschende Mediziner konkurrieren hier mit Pharmaunternehmen, die Wirkstoffe prüfen wollen, um denselben kleinen Patienten-Pool. Vor allem kleinere Unternehmen geben die Entwicklung mitunter auf, weil Zulassungsbehörden klinische Studienformen und eine statistische Aussagekraft verlangen, die mit wenigen Patienten nicht zu leisten sind. Und selbst wenn ein neues Medikament in der Entwicklung ist, dauert es bis zur Zulassung im Schnitt 10 bis 15 Jahre. Für viele Betroffene kommen die Medikamente schlicht zu spät.
Detektivarbeit bei Medikamentensuche
Der angehende Arzt Fajgenbaum wurde mangels wirksamer Medikamente selbst zum pharmakologischen Detektiv. Er entdeckte mithilfe akribisch gesammelter Blut- und Lymphknotenproben und gemeinsam mit Spezialisten, dass – ähnlich wie bei vielen frühen Covid-19-Fällen – vor allem ein zentraler Signalweg seines Immunsystems außer Kontrolle geraten war: ein Zytokin namens Interleukin-6. Statt Immunzellen zur Abwehr von Infektionen zu rekrutieren, orchestrierte es Angriffe auf seine Organe. Diese neue wissenschaftliche Erkenntnis war seine Rettung, denn es gab bereits ein zugelassenes Medikament namens Sirolimus, das genau diesen Signalweg hemmt. Normalerweise kommt es bei Organtransplantationen zum Einsatz, um Abstoßungsreaktionen zu unterdrücken. „Ich bemerkte fast sofort nach Beginn der Sirolimus-Behandlung eine Verbesserung mehrerer Symptome“, berichtet Fajgenbaum. Zudem verlängerte sich die Zeit zwischen den Schüben. Aus durchschnittlich neun Monaten wurden Jahre. Dank Sirolimus erlitt Fajgenbaum schließlich keinen Rückfall mehr. Heute erforscht er an der University of Pennsylvania weiter die Castleman-Krankheit und treibt die Registrierung sogenannter Off-Label-Therapeutika wie Sirolimus voran, die ursprünglich gegen andere Krankheiten entwickelt wurden.
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Sein Fall verdeutlicht eindrucksvoll das zentrale Problem der Seltenen Erkrankungen: Medikamente sind oft keine „One size fits all“-Lösung und wirken nicht bei allen Betroffenen gleich gut, da die Ursachen für die gleichen Symptome sich von Patient zu Patient unterscheiden. Das eigentlich für die Castleman-Krankheit entwickelte Siltuximab half Fajgenbaum bekanntlich nicht. Das Immunsuppressivum Sirolimus wiederum schlug zwar bei ihm gut an, helfe aber nur bei jedem fünften anderen Patienten mit der gleichen Castleman-Version, so der Mediziner.
Die Gründe dafür, dass die allermeisten Patienten mit Seltenen Erkrankungen noch immer nicht angemessen therapiert werden können, sind also vielschichtig. Dabei hat sich die Lage in den letzten Jahrzehnten durchaus verbessert. Auf Druck von Patientenorganisationen setzt die Politik in vielen Ländern mittlerweile wirtschaftliche und regulatorische Anreize für die Medikamentenentwicklung (siehe Infokasten). Und Zulassungsbehörden zeigen sich bei der Anerkennung von Evidenz aus klinischen Studien mit nur wenigen Patienten und bei der Zulassung von Behandlungen für einzelne Patienten flexibler. In vielen Ländern, darunter auch in Deutschland, wurden zudem spezialisierte Referenzzentren eingerichtet, um die Diagnostik von Seltenen Erkrankungen und die Versorgung der Betroffenen zu verbessern.
Zuckerbrot für die Medikamenten-Entwicklung
Oft ist es der Druck von Patientenorganisationen, der die Entwicklung neuer Medikamente voranbringt. So war es auch in den USA 1983, als der Orphan Drug Act beschlossen wurde. Die Hürden für klinische Studien wurden gesenkt und Arzneimittelhersteller können seither die Hälfte der Forschungskosten steuerlich abschreiben. Zudem bekommen die Medikamente eine exklusive Zulassung, die Konkurrenzpräparaten für die Dauer von sieben Jahren den Marktzugang verwehrt. Tatsächlich schnellte die Zahl der Zulassungen nach dem Beschluss kurzfristig von weniger als zehn auf mehrere Hundert. Für Kinder-Medikamente gibt es zudem Gutscheine für ein beschleunigtes Prüfverfahren.
Nach dem US-Vorbild brachten auch Japan (1993) und Australien (1998) Orphan-Drug-Verordnungen auf den Weg. Die Europäische Union brauchte zwei weitere Jahre und ebenfalls massiven Druck von Betroffenen, bis die EU-Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden in Kraft trat. Im Unterschied zur US-Regelung wurde die europäische Marktschutzperiode auf zehn Jahre erhöht, um den Nachteil aufzuwiegen, dass die EU keine Steuervorteile beschließen kann. Diese fallen in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Seither wurden mehr als 200 Wirkstoffe zugelassen.
Die finanziellen Anreize der EU-Regelung allein – etwa die reduzierten Behördengebühren – sind für große Pharmafirmen oft nicht reizvoll genug, weil diese Summen im Vergleich zu den Entwicklungskosten kaum ins Gewicht fallen. Die Marktexklusivität ist für sie schon deutlich attraktiver. Für kleine und mittlere Biotechnologie- und Pharma-Unternehmen bedeuten die finanziellen Vergünstigungen der Verordnung schon eher eine Erleichterung.
Zum Beispiel die Halbierung der Zulassungskosten und der komplette Erlass der Gebühren für die Beratung, die von der europäischen Zulassungsbehörde EMEA für Planung und Durchführung von klinischen Studien angeboten wird. Der Orphan-Drug-Status kann beantragt werden, sobald sich die Wirksamkeit eines Medikaments in der Entwicklungsphase belegen lässt.
Verbesserungen in der genetischen Diagnostik
„Auch die Labordiagnostik wird immer schneller, treffsicherer und zudem kostengünstiger“, sagt Jürgen Schäfer vom Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Gießen und Marburg. „Das trifft vor allem für die genetische Diagnostik zu, wo wir heutzutage komplette Genome in kürzester Zeit sequenzieren können. Das ist eine echte Revolution und verbessert zusammen mit modernster Bioinformatik unser Vorgehen bei genetischen Erkrankungen enorm.“ Hat man früher etwa nur die kodierenden Genabschnitte auf Fehler untersucht, werden heute auch jene Regionen analysiert, die die Gene aktivieren. Dadurch wurden bereits neue Seltene Erkrankungen und auch Behandlungsmöglichkeiten, etwa über Hormone, entdeckt.
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Bei der Diagnosefindung helfen zudem Suchmaschinen wie FindZebra, in die Ärzte die oft zunächst zusammenhanglos erscheinenden Symptome eingeben können. Darüber hinaus verbinden neue, von Künstlichen Intelligenzen gestützte Plattformen bisher getrennte Datenquellen wie Fachpublikationen, Gen-, Stoffwechselweg- und Medikamentendatenbanken sowie Patientenakten, um Zusammenhänge schneller zu finden. So sucht die von David Fajgenbaum mitgegründete gemeinnützige Organisation Every Cure auf diese Weise nach gut erforschten existierenden Medikamenten zur Behandlung von Seltenen Erkrankungen. Dabei kann auch ein Blick auf die Nebenwirkungen lohnen, die im ursprünglichen Anwendungsfall unerwünscht sein mögen, bei einer Seltenen Krankheit aber helfen könnten.
Ein Erfolgsbeispiel von Every Cure ist der Einsatz von Adalimumab gegen die häufigste Castleman-Krankheitsvariante, die idiopathische multizentrische Morbus Castleman (iMCD). Das Mittel wurde ursprünglich zur Behandlung von rheumatoider Arthritis, Schuppenflechte und Darmerkrankungen wie Morbus Crohn entwickelt. „Das Team von Every Cure entdeckte diese Behandlung, als ein Patient gerade die schlimmsten Symptome während seines zweijährigen Kampfes gegen iMCD entwickelte“, erzählt Every-Cure-Mitgründerin Tracey Sikora. Innerhalb weniger Tage nach der Einnahme von Adalimumab funktionierten seine Organe wieder, seine Symptome ließen nach und er hatte seit über einem Jahr keinen Rückfall.
Wirkstoffsuche mit Wissenstriplet
Die Plattform des US-Informatikers Matthew Might verfolgt ein ähnliches Ziel. Er programmierte sie, nachdem sein Sohn Bertrand im Alter von sechs Jahren mit der Seltenen Erkrankung N-Glykanase-1-Mangel diagnostiziert wurde und er notgedrungen zum Experten wurde. Durch eine Mutation beider Kopien des NGLY1-Gens funktionierte Bertrands zelluläres „Müllrecycling“ nicht reibungslos. Bestimmte Eiweiße wurden nicht abgebaut und häuften sich in den Zellen an. Die Entwicklung des Jungen stockte, er brauchte einen Rollstuhl, hatte Krampfanfälle und konnte keine Tränenflüssigkeit bilden.
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Mights Programm extrahiert einfache Drei-Wort-Sätze, sogenannte Wissenstriplets, aus Datensätzen, die Gensequenzen und Informationen aus Fachpublikationen enthalten. Es bildet ein Match von Medikament und gewünschter Wirkung, zum Beispiel „Prevacid hemmt NGLY“ – und konnte für seinen Sohn zwei Treffer landen. Er fand ein Mittel, das für Tränenflüssigkeit sorgte, und einen NGLY1-Hemmer, der Bertrands Entwicklung einen großen Schub gab. „Das hat wirklich neue Facetten von ihm erschlossen, die wir zuvor nicht gesehen hatten“, erzählt Might, der heute das Hugh Kaul Precision Medicine Institute an der University of Alabama leitet. Zwar starb Bertrand vor wenigen Jahren an einer unbekannten Infektion, die außer Kontrolle geriet. Doch sein Vater versucht trotzdem, das Positive zu sehen. „Seine Lebensqualität war in den zweiten sechs Jahren seines Lebens viel höher als in den ersten sechs. Und es ist tröstlich, dass andere Kinder von diesen Fortschritten profitieren werden“, sagt er.
Der Informatiker setzt außerdem auf die sogenannte Antisense-Technologie, die nicht DNA korrigiert, sondern den unerwünschten Output über kurze patientenspezifische RNA-Stücke deaktiviert. Sie sei kostengünstiger als mehrere Millionen Dollar teure Gentherapien, die stattdessen die DNA verändern, um zu heilen. „Wir reden von wenigen Tausend Dollar Herstellungskosten, wenn die Zulassung vorliegt“, sagt der Informatiker. Weil die Antisense-Mittel individuell maßgeschneidert sind, können sie naturgemäß nicht – wie übliche Wirkstoffkandidaten – an vielen Patienten getestet werden. Doch die amerikanische Zulassungsbehörde FDA zeigt eine neue Flexibilität. Kommt ein solches Mittel potenziell nicht mehr als zehn Patienten zugute, darf die Sicherheit nun statt in klinischen Studien in Tierversuchen geprüft werden.
Patienten mit Wissensvorsprung
Nicht zuletzt gehört zu den positiven Trends, dass gut informierte Patientenorganisationen von Medizin und Pharmaindustrie zunehmend als wichtige Partner gesehen werden. Anders als bei häufigen Volksleiden haben bei Seltenen Krankheiten oft nicht die Ärzte, sondern die Patienten und ihre Angehörigen einen Wissensvorsprung, weil sie sich notgedrungen auch in die Fachliteratur eingelesen haben und sich mit anderen Betroffenen austauschen.
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Trotz solcher Fortschritte gibt es noch etliche Herausforderungen. Zum Beispiel sei die Odyssee bis zur Diagnose noch nicht wirklich kürzer geworden, sagt etwa Roseline Favresse, Direktorin für Forschungspolitik und -initiativen von Eurordis, der europäischen Allianz von Patientenorganisationen für Seltene Erkrankungen. Mehr Detailwissen wäre dafür dringend nötig – und auch Geld. Laut Favresse ist vor allem eine verstärkte Kooperation aller Beteiligten wichtig, von Forschern über Ärzte bis hin zu Pharmaunternehmen und unterstützt von Patientenverbänden. „Wir brauchen öffentlich-private Partnerschaften“, betont sie. „Forschung und Behandlungsentwicklung werden weder von der Pharmaindustrie allein noch von öffentlichen Einrichtungen oder Patienten allein gelöst. Für effektive Lösungen müssen wir alle Kapazitäten bündeln.“
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