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MIT Technology Review Analyse

Forschung: „Grenze zwischen Leben und Tod nicht so klar, wie wir einst dachten“​

Neue neurowissenschaftliche Erkenntnisse stellen unser Verständnis des Sterbeprozesses in Frage. Und auch die Lebenden sollen profitieren.

Von MIT Technology Review Online
7 Min.
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(Foto: Thaiview/Shutterstock)

So wie auf der Geburtsurkunde der Zeitpunkt vermerkt ist, an dem wir auf die Welt kommen, markiert die Sterbeurkunde den Moment, an dem wir sie wieder verlassen. Diese Praxis spiegelt allerdings nur die traditionellen Vorstellungen von Leben und Tod wider – ein binäres Konzept. Wir sind hier, bis der Schalter – wie bei einer Lampe – umgelegt wird und wir nicht mehr da sind. Doch auch wenn diese Vorstellung allgegenwärtig ist: Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass es sich um ein überholtes soziales Konstrukt handelt. Sterben ist in Wirklichkeit ein Prozess, bei dem es keine klare Grenze gibt, von der aus es keinen Weg mehr zurück gibt.

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Wissenschaftler und betroffene Ärzte haben dieses differenziertere Verständnis vom Tod bereits angenommen. Zieht die Gesellschaft nach, könnten die Auswirkungen für die Lebenden tiefgreifend sein. „Viele Menschen könnten wiederbelebt werden“, sagt Sam Parnia, Direktor für Intensivpflege und Reanimationsforschung am NYU Langone Health-Krankenhaus.

Dieser Text ist in der Ausgabe 4/2024 von MIT Technology Review erschienen. Darin beschäftigen wir uns damit, wie wir uns besser für Katastrophen wappnen können. Hier könnt ihr die TR 4/2024 bestellen.

So haben Neurowissenschaftler etwa herausgefunden, dass das Gehirn erstaunliche Mengen an Sauerstoffmangel überleben kann. Damit könnte das Zeitfenster, das den Ärzten zur Verfügung steht, um den Sterbeprozess umzukehren, eines Tages verlängert werden. Auch andere Organe scheinen viel länger wiederherstellbar zu sein, als es in der derzeitigen medizinischen Praxis üblich ist – was das Angebot an Organspenden erweitern könnte.

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Kennt sich mit dem Tod gut aus: Sam Parnia ist Direktor für Intensivpflege und Reanimationsforschung am NYU Langone Health.
Foto: Elliot Goldstein / NYU Langone Health

Leben und Tod neu verstehen

Um dies zu erreichen, müssten wir jedoch unsere Vorstellungen von Leben und Tod überdenken. Anstatt den Tod als Ereignis zu betrachten, von dem man sich nicht mehr erholen könne, sollten wir ihn als einen vorübergehenden Prozess des Sauerstoffmangels ansehen, so Parnia. Der könne irreversibel werden, wenn er zu lange andauere oder medizinische Maßnahmen versagten. Machten wir uns dieses Mindset zueigen, „wird plötzlich jeder sagen: ‚Lasst uns diese Person behandeln‘“.

Rechtliche und biologische Definitionen des Todes beziehen sich in der Regel auf den „irreversiblen Abbruch“ lebenserhaltender Prozesse durch Herz, Lunge und Gehirn. Das Herz ist dabei der häufigste Schwachpunkt. Hört es auf zu schlagen, bedeutete das während des größten Teils der Menschheitsgeschichte kein Zurück mehr. Das änderte sich um 1960 mit der Erfindung der Herz-Lungen-Wiederbelebung (HLW). Bis dahin galt es als Wunder, gelang es, ein Herz wieder zum Schlagen zu bringen.

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Nun war es in Reichweite der modernen Medizin. Die HLW erzwang das erste große Umdenken in Bezug auf den Tod als grundsätzliches Konzept. Der Begriff „Herzstillstand“ hielt Einzug in den Sprachgebrauch und schuf eine klare semantische Trennung zwischen dem vorübergehenden Verlust der Herzfunktion und dem dauerhaften Ende des Lebens.

Zwischen Herzstillstand und dauerhaftem Ende des Lebens

Etwa zur gleichen Zeit kamen mechanische Überdruckbeatmungsgeräte auf, die die Lungen mit Luft versorgen konnten. Sie ermöglichten Menschen mit schweren Hirnverletzungen – durch einen Kopfschuss, einen schweren Schlaganfall oder einen Autounfall – weiterzuatmen. Bei Autopsien solcher Patienten stellten die Forscher jedoch fest, dass in einigen Fällen das Gehirn so stark geschädigt war, dass das Gewebe begann, sich zu verflüssigen. In solchen Fällen hatten die Beatmungsgeräte im Grunde einen „Kadaver mit schlagendem Herzen“ geschaffen, sagt Christof Koch, Neurowissenschaftler am Allen Institute in Seattle.

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Christof Koch ist leitender Wissenschaftler und Präsident des Allen Institute for Brain Science in Seattle und erforscht die Neurologie des Bewusstseins.
Foto: Allen Institute

Diese Beobachtungen führten dann zum Konzept des Hirntods und läuteten eine medizinische, ethische und rechtliche Debatte über die Frage ein, ob man solche Patienten für tot erklären kann, bevor ihr Herz aufhört zu schlagen. Viele Länder haben schließlich eine Form dieser neuen Definition übernommen. Unabhängig davon, ob es Hirntod oder biologischer Tod genannt wird – die wissenschaftlichen Feinheiten hinter diesen Prozessen sind noch lange nicht geklärt. „Je besser wir das sterbende Gehirn charakterisieren können, desto mehr Fragen haben wir“, sagt Charlotte Martial, Neurowissenschaftlerin an der Universität Lüttich in Belgien. „Es ist ein sehr, sehr komplexes Phänomen.“

Bisher ging die Medizin davon aus, dass das Gehirn bereits Schaden nimmt, wenn es Minuten von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten ist. Das ist zwar weiterhin die gängige Meinung, sagt Jimo Borjigin, Neurowissenschaftlerin an der University of Michigan, aber man müsse sich fragen, „warum unser Gehirn so anfällig konstruiert sein soll“.

Jüngste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es vielleicht gar nicht so ist. Im Jahr 2019 berichteten Wissenschaftler im Magazin „Nature“, dass sie eine Reihe von Funktionen in den Gehirnen von 32 Schweinen wiederherstellen konnten, deren Köpfe vier Stunden zuvor in einem Schlachthof abgetrennt worden waren. Die Forscher setzten Blutzirkulation und Zellaktivität in den Gehirnen wieder in Gang, indem sie sauerstoffreiches Kunstblut mit einem Cocktail aus schützenden Arzneimitteln infundierten. Außerdem verabreichten sie Medikamente, die das Feuern von Neuronen stoppen und verhinderten so, dass die Gehirne der Schweine das Bewusstsein wiedererlangten. Sie hielten die Gehirne so bis zu 36 Stunden lang am Leben, bevor sie das Experiment beendeten. „Unsere Arbeit zeigt, dass wahrscheinlich viel mehr Schäden durch Sauerstoffmangel reversibel sind, als man bisher dachte“, sagt Mitautor der Studie Stephen Latham, Bioethiker an der Universität Yale.

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Der Tod „braucht länger als wir dachten“

Im Jahr 2022 veröffentlichten Latham und seine Kollegen in einem weiteren Nature-Artikel, dass es ihnen gelungen war, viele Funktionen verschiedener Organe bei Schweinen wiederherzustellen, die bereits seit einer Stunde tot waren – einschließlich des Gehirns und des Herzens. Sie setzten das Experiment sechs Stunden lang fort und die betäubten, zuvor toten Tiere, hatten wieder einen Blutkreislauf und zahlreiche wichtige Zellfunktionen waren aktiv. „Diese Studien haben gezeigt, dass die Grenze zwischen Leben und Tod nicht so klar ist, wie wir einst dachten“, sagt der Hauptautor Nenad Sestan, Neurowissenschaftler an der Yale School of Medicine. Der Tod „braucht länger als wir dachten, und zumindest einige der Prozesse können aufgehalten und umgekehrt werden“.

Eine Handvoll Studien an Menschen hat außerdem ergeben, dass das Gehirn besser als gedacht mit Sauerstoffmangel umgehen kann, wenn das Herz aufhört zu schlagen. „Wenn dem Gehirn der Sauerstoff entzogen wird, scheint es in einigen Fällen eine Art paradoxer Überspannung zu geben“, sagt Koch. „Aus Gründen, die wir nicht verstehen, ist das Gehirn zumindest für einige Minuten hyperaktiv.“ Parnia und seine Kollegen sammeln für eine im Resuscitation veröffentlichte Studie Daten über den Sauerstoffgehalt und die elektrische Aktivität des Gehirns von 85 Patienten mit Herzstillstand. Bei den meisten Patienten stagnierte die Hirnaktivität auf den EEG-Monitoren zunächst – bei etwa 40 Prozent von ihnen trat jedoch bis zu 60 Minuten nach ihrer Wiederbelebung zeitweise wieder eine fast normale elektrische Aktivität im Gehirn auf. Wie kann das sein?

Leben nach dem Tod

Ähnliches berichteten Borjigin und ihr Team in einer im Mai in Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlichten Studie über Aktivitätsschübe in den Gehirnen zweier komatöser Patienten, nachdem deren Beatmungsgeräte entfernt worden waren. Deren EEG-Signaturen wiesen kurz vor ihrem Tod alle Merkmale von Bewusstsein auf, so Bojigin. Auch wenn noch viele Fragen offen sind, werfen diese Ergebnisse spannende Fragen über den Prozess des Sterbens und die Mechanismen des Bewusstseins auf.

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Je mehr Wissenschaftler über diese Mechanismen lernten, desto größer seien die Chancen, „systematischere Rettungsmaßnahmen“ zu entwickeln, sagt Borjigin. Im besten Fall könne dieser Forschungszweig „das Potenzial haben, die medizinische Praxis umzukrempeln und viele Menschen zu retten“.

Genaueres Verständnis des Sterbeprozesses

Natürlich muss jeder Mensch irgendwann sterben und ist dann auch nicht mehr zu retten. Aber ein genaueres Verständnis des Sterbeprozesses könnte es der Medizin ermöglichen, Menschen zu retten, die zuvor gesund waren und die ein unerwartet frühes Ende gefunden haben – solange ihr Körper noch relativ intakt ist. Das können Personen sein, die einen Herzinfarkt oder einen tödlichen Blutverlust erlitten haben, die erstickt oder ertrunken sind. Die Tatsache, dass viele dieser Menschen sterben – und tot bleiben–, spiegele einfach „einen Mangel an angemessenen Ressourcen, medizinischem Wissen oder ausreichendem wissenschaftlichen Fortschritt, um sie wiederzubeleben“, sagt Parnia.

Borjigins Hoffnung ist es, den Sterbeprozess irgendwann „Sekunde für Sekunde“ verstehen zu können. Solche Entdeckungen könnten nicht nur zum medizinischen Fortschritt beitragen, sondern auch „unser Verständnis der Gehirnfunktion verändern und revolutionieren“.

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Auch Sestan und sein Team arbeiten an Folgestudien mit dem Ziel, „die Technologie zu perfektionieren“, mit der sie die Stoffwechselfunktionen in Schweinehirnen und anderen Organen wiederhergestellt haben. Diese Forschungsrichtung könnte schließlich zu Verfahren führen, mit denen sich Schäden durch Sauerstoffmangel im Gehirn und anderen Organen rückgängig machen ließen – bis zu einem gewissen Grad natürlich. Wäre die Methode erfolgreich, könne sie auch den Pool der verfügbaren Organspender erweitern, indem sie das Zeitfenster verlängere, in dem Ärzte Organe von Verstorbenen entnehmen können, ergänzt Sestan.

Sollen diese Durchbrüche gelingen, so betont er, erforderten sie jahrelange Forschung. „Es ist wichtig, dass wir hier nicht übertreiben und zu viel versprechen, aber das heißt nicht, dass es keine Vision gibt.“ In der Zwischenzeit werden die laufenden Untersuchungen zum Sterbeprozess zweifellos weiterhin unsere Vorstellungen vom Tod infrage stellen und zu großen Veränderungen in der Forschung und anderen Bereichen der Gesellschaft führen – von der Theologie bis zum Recht. Das sieht auch Parnia so: „Der Tod gehört nicht allein der Neurowissenschaft. Wir alle haben einen Anteil daran.“

Der Text stammt von der Journalistin Rachel Nuwer und erschien zuerst in der US-amerikanischen Ausgabe von MIT Technology Review.
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