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Gehirn wie im Override-Modus: Forscher entdecken Hinweise für Aus-Schalter bei chronischen Schmerzen

Forscher:innen haben ein wichtiges Puzzlestück für die Therapie von chronischen Schmerzen gefunden. Entscheidend sind dafür die Vorgänge in einer winzigen Gehirnregion von 500 Nervenzellen.

Von Veronika Szentpétery-Kessler
4 Min.
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Chronische Schmerzen treten nach der Heilung der ursprünglichen Verletzung auf und verselbstständigen sich gewissermaßen, bis sie zu einer eigenständigen Krankheit werden. (Bild: Shutterstock / Jeanette Dietl)

Schmerzen sind unangenehm, aber auch wichtige Warnsignale. Wenn du eine heiße Pfanne berührst, beim Sport einen Muskel zerrst oder dir den Kopf an einer offenen Schrankfachtür stößt, sendet dein Nervensystem sofort ein „Aua!“-Signal aus, damit du dich aus der schmerzhaften Situation zurückziehst und das verletzte Körperteil schonst. Der Schmerz lässt dann nach, die Verletzung heilt, und du merkst dir, was du das nächste Mal nicht tun solltest.

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Was sind chronische Schmerzen?

Chronische Schmerzen sind jedoch eine ganz andere Hausnummer. In diesem Zustand hört das Warnsignal auch nach der Heilung nicht auf und verselbständigt sich gewissermaßen, bis der Schmerz zu einer eigenständigen Krankheit wird. In Deutschland leiden laut der Deutschen Schmerzgesellschaft etwa 23 Millionen Menschen an chronischen Schmerzen, die über Jahre oder sogar Jahrzehnte zu einem unsichtbaren, qualvollen Begleiter werden. Nicholas Betley von der University of Pennsylvania vergleicht sie mit einem Motor, der auch nach dem Parken des Autos weiterläuft.

Der Neurowissenschaftler hat ein wichtiges Puzzlestück für die Entstehung und mögliche Beeinflussung von chronischen Schmerzen entdeckt. Gemeinsam mit Kolleg:innen von der University of Pittsburgh und dem Scripps Research Institute in San Diego identifizierte er im Hirnstamm von Mäusen eine Schaltzentrale mit etwa 500 Nervenzellen, die wahrscheinlich chronische Schmerzsignale verarbeiten.

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Wie die Wissenschaftler:innen mithilfe eines bildgebenden Verfahrens beobachteten, feuerten die im sogenannten parabrachialen Kern sitzenden Y1R-Zellen tatsächlich nur während anhaltender Schmerzen kontinuierlich und nicht bei neu auftretenden, akuten Schmerzreizen. Es ist ein neuer struktureller Beleg für Schaltkreise im Gehirn, die an chronischen Schmerzen beteiligt sind. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forschenden im Fachjournal „Nature“.

Forschung zu den Ursachen von chronischen Schmerzen

„Es handelt sich also nicht einfach um eine Verletzung, die nicht heilt, sondern um eine Sensibilisierung und Hyperaktivität des Gehirns.“

Wie genau Schmerzen chronisch werden und warum das nicht bei allen passiert, ist noch nicht vollständig geklärt. Bekannt ist, dass sie vor allem durch funktionelle und strukturelle Veränderungen an Nervenzellen entstehen, darunter Schmerzrezeptoren und zentrale Neuronen im Rückenmark und Gehirn, was zu einer Verstärkung von Schmerzsignalen und der Schmerzwahrnehmung führt.

Patienten mit chronischen Schmerzen suchten oft Orthopäd:innen oder Neurolog:innen auf, die dann keine eindeutige Verletzung finden. „Aber die Patienten haben dennoch Schmerzen“, sagt Betley. „Es handelt sich also nicht einfach um eine Verletzung, die nicht heilt, sondern um eine Sensibilisierung und Hyperaktivität des Gehirns.“

Betleys Forschung ging von einer unerwarteten Beobachtung aus, dass Hunger chronische Schmerzen bei den Nagern zu lindern schien. Sein früherer Doktorand Nitsan Goldstein, der inzwischen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) forscht, fand dann heraus, dass auch andere lebenswichtige Zustände wie Durst und Angst lang anhaltende Schmerzen unterdrücken können.

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Für ihre Forschung arbeiteten die Wissenschaftler:innen mit sogenannten Mausmodellen, also gentechnisch erzeugten Nagervarianten, bei denen sie auf verschiedenen Wegen lang anhaltende Schmerzen erzeugten, die chronischen Schmerzen ähnlich sind. Dazu gehörten etwa Nervenverletzungen und chemische Schmerzreize wie das Injizieren einer verdünnten Formalinlösung in eine Pfote, die eine Entzündung auslöst.

Betley erklärt die Arbeitsweise der entdeckten Nervenzellen so: Chronische Schmerzreize aktivieren sie, während Hunger, Durst und Angst sie hemmen. Die Hemmung geschieht über ein Neuropeptid Y (NPY) genanntes Signalmolekül, für das die Schaltzentralen-Nervenzellen einen eigenen Rezeptor besitzen. Das NPY wird von Neuronen ausgeschüttet, die durch die drei Bedrohungen aktiviert werden. „Es ist, als hätte das Gehirn diesen eingebauten Override-Schalter“, sagte Goldstein gegenüber der Universitätszeitung „Penn Today“. „Wenn man hungert oder einem Raubtier gegenübersteht, kann man es sich nicht leisten, von anhaltenden Schmerzen überwältigt zu werden.“

Suche nach dem Schmerzschalter

Ob dieselben Mechanismen auch bei Menschen existieren, muss sich erst noch zeigen. Bisherige bildgebende Verfahren konnten nicht hochaufgelöst genug ins Gehirn schauen, um eine so kleine Nervenzellkolonie aufzuspüren. Betley hofft jedoch, dass neuere funktionelle Magnetresonanztomografen dazu in der Lage sind und er es in einem weiteren Forschungsprojekt untersuchen kann. Dann ließe sich die Aktivität der Y1R-Nervenzellen als Biomarker für chronische Schmerzen und für Medikamentenstudien verwenden.

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Sind die Zellen nämlich ständig aktiv, beruhigen sich aber nach der Gabe bestimmter Mittel, dann wäre das ein Hinweis auf die Wirksamkeit. Potenzielle Wirkstoffe müssten allerdings ortsspezifisch wirken, da es Y1R-Nervenzellen auch in anderen Gehirnbereichen gibt.

Grundsätzlich könnte es aber so funktionieren. „Wir haben gezeigt, dass dieser Schaltkreis flexibel ist und hoch- oder heruntergeregelt werden kann“, sagt Betley. Aktivierten die Forschenden die Y1R-Neuronen bei genetisch veränderten Mäusen, zeigten die Nager Schmerzverhalten. Hemmte das Team die Nervenzell-Aktivität, ging es den Tieren besser.

Betley vermutet, dass auch Verhaltensinterventionen wie Bewegung, Meditation und kognitive Verhaltenstherapie die Aktivität dieser Gehirnschaltkreise beeinflussen können, genau wie Hunger und Angst dies im Labor getan haben. „In Zukunft geht es also nicht nur darum, eine Pille zu entwickeln. Es geht auch darum, zu fragen, wie Verhalten, Training und Lebensstil die Art und Weise verändern können, wie diese Neuronen Schmerzen codieren.“

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