Jenseits von OKRs und Agile: Was innovative Unternehmen wirklich anders machen
Schicke Sticker: Agile Methoden sind kein Allheilmittel für mangelnde Innovationskraft in Unternehmen. (Foto: 10 Face / Shutterstock)
In unsicheren Zeiten greifen viele Unternehmen reflexhaft zu Methoden – und verwechseln das mit Fortschritt. Standardisierte Prozesse und Frameworks suggerieren Kontrolle, doch oft ersticken sie jede echte Bewegung. Aus Angst, „falsch“ zu führen, geraten Transformationen ins Stocken. „Dabei entsteht kein Fortschritt, sondern eine neue Form der Erstarrung, nur unter dem Deckmantel der Modernität“, erzählte mir unlängst die Personalchefin eines großen Unternehmens aus der Automobilwirtschaft.
Paul Feyerabend, einer der radikalsten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts, sprach zwar nie über Unternehmensführung – doch seine Ideen wirken erstaunlich aktuell. Seine These „Anything goes“ ist kein Plädoyer für Beliebigkeit, sondern eine Absage an die Vorstellung, es gebe die eine richtige Methode. Fortschritt, so Feyerabend, entsteht durch Regelbrüche, Vielfalt und situative Kreativität.
Agile: Oft kosmetische Reform statt Erneuerung
Dieser Gedanke lässt sich leicht auf die heutige Managementpraxis übertragen. Selbst ausgereifte Modelle stoßen schnell an Grenzen, wenn man sie nicht kritisch prüft und anpasst. Methoden wie Agile, OKRs oder Design Thinking können nützen – aber nur, solange sie nicht zur neuen Orthodoxie werden.
Agilität etwa weckte einst zu Recht Aufbruchstimmung und das Gefühl kultureller Erneuerung. Doch je stärker sie formalisiert wird, desto mehr kippt sie in Bürokratie: Statt Freiheit erleben Teams oft Framework-Pflicht und Meeting-Routinen ohne Substanz. Immer öfter ersetzt budgetgesteuerter Methodeneinsatz das Denken in Wirkung. Ob Agile-Coaching, OKR-Zyklus oder Innovations-Canvas – was als Wandel etikettiert wird, ist nicht selten nur „Sugar Coating“: kosmetische Reform statt echter Erneuerung.
Haier, Spotify und Co.: Wie Innovation gelingt
Eine Reihe von innovativen Unternehmen zeigen jedoch, dass Offenheit, situatives Denken und Methodenpluralismus nicht nur möglich, sondern sehr erfolgreich sein können:
So etwa bei der Haier Group in China, die mit ihrem radikal dezentralisierten „Rendanheyi“-Modell mehr als 4.000 eigenverantwortliche Mikroorganisationen geschaffen hat, ohne zentrale Steuerung, ohne universelle Prozesse. Hier entscheiden Teams selbst über Struktur, Ziele und Arbeitsweise. Feyerabends Idee, dass „es keine richtige Methode geben muss“, findet sich hier wieder: Innovation entsteht durch Vielfalt, nicht durch Einheitlichkeit.
Ein anderes Beispiel ist das niederländische Pflegeunternehmen Buurtzorg, das zentrale Steuerung vollständig aufgegeben hat. Stattdessen arbeiten selbstorganisierte Pflegeteams in hoher Eigenverantwortung und erzielen dabei nicht nur bessere Ergebnisse, sondern auch deutlich höhere Zufriedenheit bei Klient:innen und Mitarbeitenden. Studien zeigen, dass Buurtzorg bei geringerer Bürokratie höhere Effizienz und Qualität erreicht.
Spotify wiederum setzt auf ständige Anpassung und Erneuerung. Das berühmte Modell mit Squads, Tribes und Guilds wird intern nicht als starres Framework begriffen, sondern als flexibles Organisationsprinzip, das sich je nach Kontext wandelt. Ehemaligen Mitarbeitenden zufolge gab es nie „das Spotify-Modell”, sondern vielmehr ein Unternehmen, das ständig experimentierte.
Ähnlich radikal ging Ricardo Semler bei Semco Partners in Brasilien vor. Durch maximale Transparenz, Selbstbestimmung und die Abkehr von festen Regeln entstand eine Organisation, in der Verantwortung nicht delegiert, sondern verteilt wird. Führung bedeutet hier nicht Kontrolle, sondern Raum geben.
Selbst bei der Designagentur Ideo, dem bekanntesten Vertreter von Design Thinking, wird deutlich: Die Methode ist kein Dogma, sondern ein Werkzeugkasten, aus dem man situationsabhängig wählen kann. Interdisziplinarität, kreatives Zutrauen und permanentes Infragestellen sind dort Teil der DNA – wie zahlreiche Projektberichte und Interviews mit Führungskräften belegen.
Führungskräfte müssen Experimente fördern
Feyerabends radikaler Pluralismus fordert: situativ denken statt an starren Methoden festhalten. Je komplexer die Lage, desto weniger helfen Patentrezepte. Führungskräfte sollten Offenheit, Experimentierfreude und Widerspruch nicht nur zulassen, sondern gezielt fördern.
Für mich ist das ein inspirierender Gegenentwurf zur wachsenden Technokratie im Management. Führen heißt nicht, Prozesse abzuarbeiten, sondern im Ungewissen Verantwortung zu übernehmen – so wie es die oben genannten Organisationen bereits vormachen.
Auch der öffentliche Sektor könnte davon profitieren. In Ministerien und Verwaltungen bestimmen oft Verfahren und Standardisierung das Handeln. Viele setzen auf immer neue Steuerungsmodelle, ohne ihre Sicht auf Organisation und Wirkung zu verändern.
Feyerabends Kernfrage bleibt aktuell: Was, wenn es gar nicht die eine richtige Methode gibt? Was, wenn gute Arbeit aus klugen Entscheidungen im jeweiligen Kontext entsteht?
Statt nach der nächsten Methode zu suchen, sollten Führungskräfte Verantwortung übernehmen, wachsam bleiben, Unterschiede ernst nehmen und Räume für Neues schaffen. Vor allem braucht es Vertrauen in die Menschen – denn das eröffnet die Freiräume, in denen echte Lösungen entstehen.
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