Das Handelsforschungsinstitut EHI hat kürzlich Zahlen zum Ladendiebstahl in Deutschland veröffentlicht: Im vergangenen Jahr sind dem Einzelhandel Einnahmen in mehrstelliger Milliardenhöhe entgangen, insgesamt wurden Waren im Wert von 4,1 Milliarden Euro gestohlen. Damit liegt der 2023 für den Handel entstandene Schaden um 15 Prozent höher als im Vorjahr (damals auf 3,73 Milliarden Euro geschätzt). Besonders betroffen sind der Lebensmittel- und Bekleidungshandel sowie Drogeriemärkte.
Als Auslöser nennt das Institut den Fachkräftemangel und zunehmende finanzielle Nöte der Menschen. Mit dem Fachkräftemangel dürfte in der Tat eine Entwicklung verbunden sein, die das Thema Ladendiebstahl erleichtert: Selbst-Scan-Kassen. Im Internet werden sie mehr oder weniger scherzhaft als Rabattkassen bezeichnet, weil es offenbar Kund:innen gibt, die darauf hoffen, dass es nicht auffällt, wenn sie ein oder zwei Artikel ihres Einkaufs „vergessen“ oder bei der Menge schummeln.
Einzelhandel schützt sich mit KI vor Ladendiebstahl
Doch die Branche rüstet auf. Inzwischen gibt es eine größere Zahl an Möglichkeiten, um Ladendiebstahl und Unregelmäßigkeiten, die sich oftmals erst auf der Basis von Inventurdifferenzen auftun, zu verhindern. Da ist zum einen das, was Ladendetektiv:innen über Jahrzehnte an der Kamera im Hinterzimmer leisteten. Sie versuchen, anhand von auffälligem Verhalten Diebstahlversuche zu erkennen und dagegen vorzugehen.
Das sind jedoch Aufgaben, die neben der Sicherstellung der Warenversorgung in der Abteilung und Beratungstätigkeiten oft nur schwer zu leisten sind. Denn die Hauptaufgabe liegt ja darin, Regale zu befüllen, Bestellungen und Lieferungen abzuwickeln und zu kassieren. Doch es gibt nun Produkte wie beispielsweise die Software des Berliner Startups Signatrix, die Kameras in die Lage versetzen soll, Kundenverhalten und Diebstahlversuche selbstständig zu erkennen und zu messen. Diese Information wird sowohl dem Personal in Echtzeit als auch dem Management in Form von Datenanalysen zur Verfügung gestellt.
Auf ähnliche Weise agiert das französische Unternehmen Veesion. Es bietet eine KI-Software an, mit der Diebstähle erkannt und sofort gemeldet werden. Veesion will mit seiner KI-Lösung bis zu 60 Prozent der Ladendiebstähle erkennen und verhindern können. Um dies zu erreichen, wertet das Anti-Diebstahl-System in Echtzeit die Videos der Überwachungskameras aus, die in den meisten Fällen ohnehin schon installiert sind. Die KI erkennt „verdächtige Gesten“ mit einer Trefferquote von angeblich 99 Prozent. Damit ist zum Beispiel gemeint, wenn ein Kunde ein Produkt in der Jackentasche verschwinden lässt. Die Software übermittelt in diesem Fall eine Benachrichtigung samt Videoausschnitt an das Verkaufspersonal, das dann entscheiden kann, ob es einschreitet oder den Kunden kontrolliert.
Kabellose Kopfhörer sollen Verkäufer:innen instruieren
Auch kabellose Kopfhörer namens X-Hoppers von Wildix sollen entsprechende Warnungen an die Mitarbeitenden übermitteln können. Die Kopfhörer wurden eigentlich mal entwickelt, um den Verkäufer:innen im Beratungsgespräch entsprechende Details wie Features oder USP „zuzuflüstern“, mit denen sie das Kund:innengespräch ausgestalten können. Über die Kopfhörer können aber auch Mitarbeitende über auffällige Bewegungsmuster informiert werden, die darauf hindeuten, dass Kund:innen in der Nähe Ware entwenden. Das Feststellen verdächtigen Verhaltens erfolgt dabei über eine externe Software.
Wie gut künstliche Intelligenz und vor allem Machine-Learning-Lösungen hier sind, darüber streitet die Branche. Denn zum einen ist es natürlich erlaubt, solche Features in die Überwachungskameras im Laden zu integrieren, zum anderen lässt sich darüber streiten, ob solche Lösungen vielleicht sogar weniger vorurteilsbehaftet agieren als viele Ladendetektiv:innen. Klar ist: Wenn Unternehmen etwa aufgrund des Einsatzes von SB-Kassen Kameras erstmalig einsetzen, muss ein gut erkennbarer Hinweis platziert werden, dass die Ladenfläche kameraüberwacht ist.
Menschliche Ladendetektiv:innen sind ohnehin eine teure, aber notwendige Spezies, deren Dienstleistungen angesichts des Fachkräftemangels in den letzten Jahren nicht billiger geworden sind. Effiziente Bilderkennungsansätze können dazu führen, dass „Bewachungskräfte im Einzelhandel“, so der offizielle etwas sachlichere Begriff, mehr Abteilungen auf einmal im Blick behalten können, wenn die KI einen Teil der Analyse der Kamerainformationen übernimmt oder hier zumindest Vorarbeit bis zum Alarm leistet.
Self-Service-Kassen als Einfallstor für Betrug
Auch die bereits genannten SB-Scanner-Kassen, die im US-Einzelhandel bereits über ein Drittel der Kassen im Lebensmitteleinzelhandel ersetzt haben (und auch bei uns auf dem Vormarsch sind) lassen sich mithilfe von KI gegen Betrug schützen. Laut dem Loss Prevention Research Council erklären 58 Prozent der befragten Verbraucher:innen, dass Diebstahl an Selbstbedienungskassen leicht oder sehr leicht sei.
Sowohl das Austauschen von Preisschildern als auch das Scannen billiger Artikel, obwohl es sich in Wirklichkeit um eine Ware mit höherem Grundpreis handelt, seien an der Tagesordnung, erklären Expert:innen. Wie sie dagegen vorgehen, verrät die Branche natürlich nicht, wohl aber, dass man alle gängigen Mechanismen (das seien gar nicht so viele, wie eine Branchenvertreterin erklärt) kenne – und mithilfe von bildverarbeitenden Verfahren und Machine-Learning auch immer besser erkenne. Doch die Analyse von Bewegungsmustern, um Ladendiebstähle zu verhindern, sei dabei nur einer von vielen Anwendungsfällen. Das sei nur selten so einfach wie bei jenen Kund:innen, die einen Artikel einfach im Wagen lassen und gar nicht scannen, aber auch das komme vor. Dennoch, daraus macht die Branche keinen Hehl, bleibt der Betrugsversuch an Selbstbedienungskassen ein teures Problem für alle Einzelhandelsketten.
Selbstlernende Lösungen sollen hier einen entscheidenden Vorteil gegenüber regelbasierter Erkennung bringen. Man arbeite hier mit Stochastik und könne auch den Umfang des sonstigen Warenkorbs berücksichtigen. Hilfreich sind dabei in vielen anderen Ländern auch bereits Lösungen, die mit Kund:innenkarten arbeiten. Das bedeutet, dass ein:e Stammkund:in, die zuvor die Loyalty-Karte eingescannt hat, beispielsweise als verlässlicher eingestuft wird als Kund:innen, die das Unternehmen nicht kennt.
Zwischen Datenschutz und Gleichbehandlungsgrundsatz
Hinzu kommen hier – und damit sind wir zumindest im deutschen Handel wiederum bei einer Grauzone – Scoring-Algorithmen, die anhand des Warenkorbs die Wahrscheinlichkeit einer Unregelmäßigkeit ermitteln. Wer sich mit Expert:innen auf diesem Gebiet unterhält, erkennt recht schnell, dass vieles, was hier technisch möglich ist, zumindest angesichts der EU-Regulierungen nicht oder nur teilweise durchsetzbar wäre.
Ein wenig geht es dabei aber offenbar auch um die Abschreckung, wie Expert:innen erklären – wenn man sich nicht sicher sein kann, mit dem Betrug durchzukommen, ist vielen die Gefahr des Gesichtsverlusts zu groß. Letzten Endes sind aber solche Überprüfungen an der Kasse auch immer ein Abwägen. Es gehe darum, Betrugshandlungen sicher zu erkennen, aber zugleich nicht die Kund:innenbeziehung zu Stammkund:innen aufs Spiel zu setzen, indem man diese quasi verdächtige oder kontrolliere.
Ich störe mich an der Aussage, dass dem Handel Einnahmen verloren gehen! Denn die Einnahmen die durch Diebstahl verloren gehen, werden anders wieder aufgefangen. Unter anderem trickst der Einzelhandel durch verdorbene Ware dank guter Kühlung oder anderen Preisen an der Kasse als im Laden ausgehängt.