Die Morgensonne blinzelt durch die Fensterscheiben eines Mehrfamilienhauses in Wuppertal. Es ist ein sonniger Dienstag im September 2040, kurz vor sieben Uhr. Im dritten Stock füllt Jasper die erste Waschmaschine, während sich seine Partnerin Marie den Autoschlüssel schnappt, ihm einen Kuss auf die Wange drückt und sich auf den Weg zur Arbeit macht. Die zweijährigen Zwillinge der beiden schlafen noch in ihren Bettchen, in ein paar Stunden wird Jasper sie zur Tagesmutter bringen, dann geht es auch für ihn zur Arbeit. Marie holt die beiden nachmittags ab, sie teilt sich ihren Posten als Abteilungsleiterin in einem Versicherungsunternehmen mit einer Kollegin – so konnte sie nach der Geburt der Babys in ihre alte Position zurückkehren und trotzdem Zeit für die Familie schaffen. Auch Jasper hat seine Stundenzahl nach der Elternzeit etwas reduziert, vor allem aber nutzt er das Angebot seines Arbeitgebers, zeitlich relativ flexibel und auch mal aus dem Homeoffice zu arbeiten.
Jasper und Marie sind mit ihrem Wunsch, Kind und Karriere zu vereinbaren, in der Gesellschaft und bei ihren Arbeitgebern auf offene Ohren gestoßen. In ihrer Welt ist es in den unterschiedlichsten Branchen normal, dass Eltern mit ganz unterschiedlichen Organisationsmodellen so im Arbeitsleben stehen können, wie es für sie am besten ist – und der jeweilige Lebensentwurf weder bissig kommentiert noch benachteiligt wird.
Familienfreundlichkeit in Unternehmen: Noch nicht selbstverständlich, aber im Trend
Etwas anders als im fiktiven Szenario von Jasper und Marie sieht jedoch die Realität 2021 aus: Noch immer gibt es Fälle, in denen Eltern, die nach der Geburt eine Zeit zu Hause bleiben, beim Wiedereinstieg ins Berufsleben diskriminiert werden. Elternschaft wirkt sich auf die Karriere von Männern und Frauen ganz unterschiedlich aus, Sorgen und schlechte Erfahrungen gibt es aber bei beiden Geschlechtern.
Auf der anderen Seite finden sich aber auch in der Arbeitswelt von heute bereits Unternehmen, denen es wichtig ist, ihren Beschäftigten familienfreundliche Angebote zu machen. Einige haben eigenständig ein Maßnahmenportfolio erarbeitet, andere suchen sich dabei Unterstützung – beispielsweise von Berater Oliver Schmitz. Der Geschäftsführer der Berufundfamilie Service GmbH arbeitet mit Organisationen, die sich für eine Zertifizierung als besonders familienfreundlicher Arbeitgeber interessieren. Familienfreundlichkeit in Unternehmen sieht er als zunehmenden Trend: „Zum einen vom gesellschaftlichen Werteverständnis her, und das andere ist natürlich auch der Fachkräftemangel“ – wer familienfreundliche Lösungen anbietet, leiste damit einen Beitrag zur Attraktivität seiner Arbeitgebermarke.
Brigitte Dinkelaker vom DGB-Projekt „Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestalten“ wird hingegen in der Regel von Beschäftigten, Personal- oder Betriebsräten in ein Unternehmen geholt, die sich mehr Möglichkeiten zur Mitgestaltung wünschen: „Geringe Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen plus starre Regeln, kombiniert mit wenig Verständnis für den Einzelnen, das ist recht häufig so eine Gemengelage, auf die wir treffen”.
Während Schmitz und Dinkelaker also von außen beratend an Unternehmen herantreten, kennen Julia Peters und Kiki Radicke die Perspektive aus dem Inneren. Die beiden Frauen tragen Personalverantwortung in Firmen, die jeweils als besonders familienfreundliche Arbeitgeber ausgezeichnet sind. Julia Peters ist Geschäftsführerin der Peters Service GmbH, Tochterfirma eines mittelständischen Unternehmens für Gebäudetechnik. Der familiengeführte Mutterbetrieb der Gebrüder Peters mit insgesamt etwa 700 Beschäftigten sei in sich ein „sehr organisches Unternehmen – und da gehört die Familie dazu“, findet Peters.
Kiki Radicke leitet die Personalabteilung im Software-Unternehmen Adacor GmbH, ist mit ihrem Team für insgesamt 80 Menschen zuständig. „Wir sind gründergeführt, das sind drei Geschäftsführer, von denen zwei auch kleine Kinder haben. (…) Wir sind miteinander gewachsen, das bedeutet auch, dass sich die persönlichen Herausforderungen der Kolleginnen und Kollegen in der Zeit, in der sie uns begleitet haben, natürlich verändert haben.“
Kind und Karriere als Unternehmen unterstützen – die Möglichkeiten sind vielfältig
Finanzielle Unterstützungen, flexible Arbeitszeiten und -orte, spezielle Beratungsangebote oder Kinderbetreuung: Die Liste möglicher Stellschrauben für mehr Familienfreundlichkeit im Unternehmen ist lang. Der Unternehmensmonitor Familienfreundlichkeit 2019 des Institut der deutschen Wirtschaft zeigt, dass gerade Teilzeitmodelle, individuelle sowie flexible Arbeitszeiten bereits häufig zum Einsatz kommen; knapp 92 Prozent der befragten Unternehmen boten beispielsweise Arbeit in Teilzeit an. In rund acht von zehn Unternehmen waren individuell vereinbarte Arbeitszeiten möglich, sieben von zehn setzten Gleitzeitmodelle ein.
Auch Julia Peters sieht die Zeiteinteilung als besonders relevante Stellschraube: „Wir versuchen eigentlich auf jeden möglichst individuell einzugehen. Es kommt natürlich auf die Abteilungen und auf die Position drauf an, aber wir hatten schon alle möglichen Anzahlen von Wochenstunden.“ Dabei müsse ein angepasstes Arbeitszeitmodell nicht unbedingt im Gegensatz zur Karriere stehen:„Es gibt auch einige Frauen, die Teilzeit arbeiten, aber in Führungspositionen sind“. Bei den Gebrüder Peters kommen vor allem noch diverse Prämien und Zuschüsse dazu, beispielsweise für die Kinderbetreuung.
Individuelle Arbeitszeiten und Zusatzzahlungen finden sich auch in der Liste von Kiki Radicke, wenn sie die Maßnahmen bei Adacor durchgeht. Aber auch Beratungsangebote durch ausgebildete Elternguides, ein Eltern-Kind-Büro oder auch schon Maßnahmen wie besonders passend gelegte Meetingzeiten würden Eltern unterstützen. Wer beispielsweise nur ein geringes Budget zur Verfügung habe, müsse eben mit kreativen Ideen punkten.
Brigitte Dinkelaker sieht zudem die Personalplanung als wichtiges Instrument der Entlastung: „Im Grunde genommen geht es auch um eine ausreichende Personaldecke”. Springer oder Entscheidungsmöglichkeiten in Teams seien hier ein Lösungsansatz, „weil dann natürlich nicht jeder bis zum Anschlag eingebunden und unersetzlich ist, sondern man weiß, wenn ich mal ausfalle, bricht nicht gleich die ganze Welt zusammen.” In Unternehmen mit Schichtbetrieb schlägt sie unter anderem Flexibilität bei der Übergabe, Sonder- oder Freischichten und Systeme vor, bei denen Beschäftigte beispielsweise per App die Schichtplanung mitgestalten können.
Beruf und Familie: Was braucht unser Team eigentlich?
Wer sich überlegt, aus dem vielfältigen Maßnahmenkatalog konkrete Punkte für mehr Familienfreundlichkeit auszuwählen und anzugehen, sollte zunächst ganz grundlegend herausfinden, wo eigentlich Bedarf für Veränderung besteht. Ein Credo der Expert:innen ist hierbei ganz einheitlich: Kommunikation. „Ich würde einfach mit den Leuten reden“, so Peters. Ihre Erfahrung zeigt: „jeder braucht etwas anderes“.
Das beobachtet auch Oliver Schmitz in seiner Arbeit: Verschiedene berufliche Rahmenbedingungen und unterschiedliche Lebensstile verlangen nach einem vielfältigen Portfolio, aus dem sich Beschäftigte letztendlich individuelle Lösungen zusammenstellen können – sodass auch in Unternehmen mit unterschiedlich getakteten Abteilungen keine Neidkultur entsteht. Seine Beratungen beginnen meist mit einem Strategie-Workshop, der den Status quo unter die Lupe nimmt, Bedürfnisse ermittelt und an dessen Ende dann konkrete Zielformulierungen stehen. „Da verlangen wir auch nicht, das jemand von Null auf Hundert sofort alles hat, sondern dass man es eher Stück für Stück aufbaut.“
Wie die Wünsche der Mitarbeitenden eingeholt werden, könne ganz unterschiedlich ausfallen, so Brigitte Dinkelaker vom DGB: Meinungserhebungen per Betriebsversammlung, Aufrufe in Intranet oder Mitarbeiterzeitschrift, Sprechstunden und Befragungen, die schriftlich oder im Onlineformat erfolgen, seien möglich – „es geht wirklich darum, am Ohr der Kolleg:innen und am Zahn der Zeit zu sein, damit ich möglichst passende Lösungen finde”.
Kiki Radicke zieht neben Umfrageergebnisse außerdem die beiden ausgebildeten Elternguides zu Rate, die bei Adacor gerade frischgebackene Eltern beispielsweise in bürokratischen Fragen unterstützen: „Die sind auch schon an den Eltern dran (…), um zu hören, was unterstützen würde oder was helfen könnte.“
Familienfreundliche Maßnahmen einführen: So klappt die Umsetzung
Damit dann auch bei der Umsetzung der gesammelten Ideen nicht am Bedarf vorbei gearbeitet wird, rät Schmitz manchmal zunächst zu Pilotprojekten. Der Ansatz „das läuft jetzt mal ein oder zwei Jahre, und dann evaluieren wir und schauen, ob wir es jetzt weitermachen und verankern“ biete Raum für Anpassungen auf dem Weg. Wichtig sei auf dem Weg zu mehr Familienfreundlichkeit zudem eine sehr ehrliche Kommunikation: keine falschen Versprechungen, Mut zum nachjustieren und klar formulieren, wo Grenzen liegen.
Pilotphasen zur Einführung einer Veränderung empfiehlt auch Dinkelaker – am besten begleitet von einer innerbetrieblichen Steuerungsgruppe, „sodass die Entwicklung und ganze Umsetzung dieses Themas wie ein Prozess in Schleifen verläuft und man immer wieder auch Rückmeldungen einholen kann“. In der entsprechenden Gruppe seien sowohl Mitglieder der Interessensvertretung, also auch Personen aus den betroffenen Abteilungen und Führungskräfte involviert.
Sich immer wieder untereinander abzustimmen, bedeute dabei nicht, dass es überhaupt keine Konflikte mehr gebe, „aber das Schöne ist, dass man das dann auf dem Weg dahin schon bearbeitet, und nicht am Schluss etwas durchsetzt, was dann möglicherweise viel Widerstand auslöst oder niemanden interessiert.“
Kind und Karriere fördern: Warum sich das auch fürs Unternehmen lohnt
Natürlich kann es bei der Einführung von entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen auch zu Bedenken kommen – zum Beispiel bezüglich der Kosten. „Ich sehe immer, wie viel das alles kostet (…). Und das ist natürlich ein großer Batzen“, berichtet Julia Peters. Trotzdem steht sie hinter den Zusatzangeboten im Unternehmen – denn die würden das Unternehmen auch nach außen attraktiver machen. In der Region Ingolstadt angesiedelt müsse man sich eben gegen deutlich größere Konkurrenz durchsetzen, familienfreundliche Maßnahmen und flexible Lösungen seien dabei wichtig.
Ähnlich ist die Lage bei Adacor: Dass die Arbeit in einem offenen Umfeld Spaß mache und die Beschäftigten sich mit den Werten des Arbeitgebers identifizieren können, sorge für erhöhte Loyalität, „unsere Fluktuation ist relativ gering“. Das spare Rekrutierungskosten und aufwandsintensive Einarbeitungsphasen – und mache das Unternehmen attraktiv, auch wenn die Gehälter gerade bei größeren IT-Playern vielleicht höher wären. „Dieses Investment in die Zufriedenheit der Kolleginnen und Kollegen, das rechnet sich extrem“, so die HR-Expertin.
Ein anderer Kritikpunkt begegnet Arbeitspsychologin Dinkelaker immer wieder: „Wenn man zum Beispiel sagt, wir wollen etwas flexibilisieren, wie beispielsweise die Anfangszeiten, dann fürchten manche Arbeitgebende, man hätte zu wenig Kontrolle über die betrieblichen Abläufe oder über die Beschäftigten”. Ihre Erfahrung zeige allerdings, dass der Gewinn letztendlich in den allermeisten Fällen auf beiden Seiten liege. Ihr Credo: „Gutes Leben und Gute Arbeit gehören zusammen”.
Engagement für Kind und Karriere: Daran kann es scheitern
Die Projektverantwortliche schildert aber auch, was ihr beispielsweise manchmal werdende Väter berichten: Obwohl es im entsprechenden Unternehmen vielleicht durchaus Angebote zur besseren Vereinbarkeit von Kind und Karriere gibt, bräuchten die Männer teilweise „schon gar nicht mit diesem Thema ankommen“, weil man sie nicht ernst nehme. Hier fehle es an Offenheit und Akzeptanz.
Zum gelungenen Wandel reicht es also nicht, sich umzuhören, Maßnahmenpakete zu schnüren und die Sache postwendend zu beschließen. Damit die Änderungen auch funktionieren und gerne genutzt werden, muss ein tiefgreifender Prozess stattfinden: „Letztendlich geht es bei uns auch darum, dass man eine langfristige Kulturentwicklung macht“, so Oliver Schmitz. Unterstützung aus der Unternehmensspitze sei dafür unverzichtbar. Dass Mitarbeitende die entsprechend familienfreundlichen Variationen „ohne großes Aufheben“ nutzen, sieht auch Julia Peters in der Unternehmenskultur bedingt: „Bei uns ist das gang und gäbe“.
Kiki Radicke findet zudem besonders die Offenheit gegenüber unterschiedlichen Modellen wichtig. Elternteile, die zu Hause bleiben, um Kinder zu betreuen, dürften genauso wenig schief angesehen werden wie Eltern, die bereits nach kurzer Zeit in den Beruf zurückkehren. Aber auch die Organisation im Unternehmen müsse rund um familienfreundliche Maßnahmen stimmen: Väter bei Adacor würden beispielsweise aktiv motiviert, Elternzeit zu nehmen, „und zwar nicht nur zwei Monate“, sondern „eine echte Auszeit.“ Um das stressfrei zu ermöglichen, sei entsprechende Planung wichtig, die mit dem Ausfall rechnet und dafür sorgt, „dass das mit aufgefangen werden kann.“ So wolle man verhindern, „dass dieses ‚sich freinehmen für die Familie und für die Kinder‘ nicht auf der anderen Seite für die Kollegen bedeutet: ‚ja super, jetzt ist der ein halbes Jahr weg, das ist ja scheiße‘.“
Die Basismaßnahmen stehen – und wie geht es jetzt weiter?
Letztendlich sind familienfreundliche Angebote auch immer von einer gewissen Dynamik geprägt – schließlich ändern sich Bedürfnisse der Beschäftigten genau so wie ihre persönliche Lebenssituation. Also heißt es am Ball bleiben – Kiki Radicke empfiehlt dafür auch die Vernetzung nach außen.
Die Familienguides bei Adacor stünden in regelmäßigem Kontakt zu den Menschen, mit denen sie ihre Ausbildung absolviert hätten, Radicke selbst tausche sich besonders im HR-Bereich aus. Dabei seien beispielsweise die zuständige IHK, aber auch Plattformen wie Linkedin oder entsprechende Netzwerk-Veranstaltungen passende Anlaufstellen. „Ich nehme da immer total viel mit“ – oft würden Maßnahmen angesprochen, die so noch nicht im Unternehmen stattfinden, aber eine spannende Option wären, die Bedingungen zur Vereinbarung von Kind und Karriere noch besser zu machen.