Nähen auf Knopfdruck: Roboter bringen ein neues Level an Präzision in den OP-Saal
Mit Nadel und Faden kann Maximilian Kückelhaus gut umgehen – ausgesprochen gut sogar. Der Medizinprofessor – weißer Kittel; ruhige, freundliche Ausstrahlung – arbeitet als sogenannter Mikrochirurg am Universitätsklinikum Münster. „Wir machen viel rekonstruktive Chirurgie und müssen oft millimeterkleine Gefäße, Nerven, Lymphgefäße zusammennähen“, erzählt er im Videogespräch. Das sei beispielsweise nötig, wenn Gewebe nach einem Unfall oder einer Krebsoperation von einem Körperteil des Patienten in ein anderes verpflanzt und dort wieder angeschlossen werden müsse.
Damit das gelingt, hat er – wie alle Chirurginnen und Chirurgen – das natürliche Zittern seiner Hand in jahrelangem Training auf ein Minimum reduziert. „Aber ein Rest bleibt, und der wird umso bedeutender, je kleiner zum Beispiel das Blutgefäß ist“, so Kückelhaus. Sein Team habe sich daher schon lange für robotische Assistenzsysteme interessiert. Doch erst vor drei Jahren sei ein Nähroboter auf den Markt gekommen, der präzise genug ist. Das Team aus Münster schaffte sich sogleich ein Gerät an und kombinierte es, von der EU gefördert, mit einem robotischen Mikroskop. Das Chirurgieteam aus Münster trainierte monatelang mit dem Roboterduo, wurde zertifiziert und nutzt die Methode schon in der Klinik. „Mit dieser Kombination sind wir weltweit Vorreiter“, freut sich Kückelhaus.
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Die meisten Roboter im OP werden ferngesteuert
In anderen chirurgischen Disziplinen sind Roboter schon seit vielen Jahren zunehmend gefragt. Immer häufiger ist an der OP-Liege statt einer chirurgischen Fachkraft ein krakenähnliches Gebilde aus Stahl und Kunststoff am Werk, die „Arme“ etwa mit Bohrer, Schere, Greifer und Spüldüse bestückt. „In der Medizin kommen zurzeit ungefähr vier Millionen Roboter in jährlich mehr als 300 Millionen Operationen weltweit zum Einsatz“, sagt Axel Krieger, der an der Johns Hopkins University in Baltimore, USA, an OP-Robotern forscht. Und die Zahl der OPs steige weiter – um 18 Prozent im Jahr. Die Geräte schneiden Tumore aus dem Körper, reparieren Knochen und lasern Augen. Sie steuern immer dünner und flexibler werdende Endoskope mit immer kleineren Instrumenten bei minimalinvasiven Eingriffen und seit Kurzem nähen sie eben auch winzigste Blutgefäße. Die meisten Roboter werden von den Operierenden ferngesteuert.
Maximilian Kückelhaus sitzt dafür in einem Raum neben dem OP, auf einem ergonomisch ausgetüftelten Stuhl. „Mikrochirurgen entwickeln laut einer Studie mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 80 Prozent eine Rückenerkrankung. Ergonomie ist für uns ein essenzieller Aspekt“, berichtet er. Und während er sich am OP-Tisch oft regelrecht verrenken müsse, um den bestmöglichen Blickwinkel zu haben, übernehme dies jetzt ein Robotermikroskop.
Die Bilder werden ihm über ein Headset mit zwei briefmarkenkleinen Monitoren eingespielt. Das habe auch den Vorteil, dass er die OP nicht unterbrechen müsse, um sich die Mikroskopbilder anzuschauen. „Ich aktiviere mit einem Fußschalter ein Augmented-Reality-Menü, das über dem Bild vom Operationsfeld eingeblendet wird. Den Cursor kann ich über meine Kopfbewegungen steuern und damit auch den Einstellwinkel.“
Die Roboter rechnen das menschliche Zittern heraus
Gleichzeitig werden die Handbewegungen des Chirurgen auf die beiden Arme des OP-Roboters samt ihren Greifern übertragen. Ein Greifer führt Nadel und Faden in das Gewebe hinein, der andere zieht sie heraus. Um sie fernzusteuern, hantiert Kückelhaus mit Joysticks – die ein bisschen an Grillzangen erinnern – ähnlich wie mit dem echten OP-Besteck beim Nähen am Patienten. Die robotischen Systeme rechnen dabei nicht nur das physiologisch unvermeidbare Zittern heraus, sie können auch skalieren. „Wenn ich meine Hand zum Beispiel zwei Zentimeter bewege, dann wird sich der Arm des Roboters nur einen Millimeter bewegen. Ich kann eine Skalierung einstellen und entscheide damit, wie fein meine Bewegungen übersetzt werden. Und dadurch habe ich sehr viel Kontrolle“, betont der Chirurg.
Die neue Präzision ermöglicht es, Gewebe auch über die besonders kleinen oberflächennäheren Gefäße an den Körper anzuschließen, und ganz neue, weniger invasive Operationen. Kückelhaus erklärt das am Beispiel einer Brustrekonstruktion. „Dazu muss ich bisher durch die Haut, durch den Brustmuskel zwischen den Rippen entlang bis auf die Lunge schneiden. Auf der sich bewegenden Lunge sitzen dann relativ große Gefäße, an die ich ein neues Gewebestück, das zum Beispiel aus dem Bauchraum der Patientin stammt, anschließen kann“, berichtet der Chirurg. „Aber weil ich mit den Robotiksystemen jetzt viel präziser operieren kann, muss ich eben nicht bis auf die Lunge gehen, sondern ich kann für den Anschluss den Abgang von einem kleineren Gefäß nutzen, das sich durch den Brustmuskel durchzieht und im Unterhautfettgewebe rauskommt.“
Auch die Lymphchirurgie ist laut Kückelhaus eine „Parade-Indikation“ für solche robotischen Systeme. Davon können Patientinnen und Patienten profitieren, denen etwa im Rahmen einer Tumoroperation Lymphknoten in der Achsel oder der Leiste entfernt wurden. Solche Operationen führen später häufig zu Schwellungen, weil der Abfluss der Lymphe nicht mehr funktioniert. „Seit Kurzem gibt es äußerst dünne Nadeln, mit denen diese kleinsten Lymphgefäße an Blutgefäße angenäht werden. Also man schafft einen Kurzschluss von dem Lymphsystem in das Blutsystem, damit die Lymphflüssigkeit wieder abgefördert wird“, erklärt der Chirurg. Die Lymphgefäße hätten allerdings Durchmesser zwischen 0,3 und 0,5 Millimeter. „Und das ist dann wirklich der Bereich, wo die menschliche Physis an ihre Grenzen gerät. Aber durch die einstellbare Skalierung des Roboters lassen sie sich nun gut nähen.“
Nähen auf Knopfdruck
Axel Krieger will die Technologie der OP-Assistenzmaschinen noch einen Schritt weiter treiben. Der Maschinenbauer und sein Team an der Johns Hopkins University in Baltimore, USA, entwickeln Roboter, die autonom, also ohne Fernsteuerung, arbeiten. „Die Medizintechnik ist sehr weit, wenn man eine richtig gute Operationsplanung machen kann, zum Beispiel bei einer Hüft-OP. Da kann ich vorher ein Bild vom Knochen nehmen und weiß dann genau: So sieht die Hüfte aus, so muss ich hier den Knochen ausschneiden, dieses Hüftgelenk kommt rein. Dann kann man schon sehr viel mit automatisierten Robotern machen“, berichtet er. Auch in der Augenchirurgie mit dem Laser seien automatisierte Systeme schon gang und gäbe. „Man drückt nur auf einen Knopf und alles läuft von alleine.“
Bei Eingriffen in weichem Gewebe hingegen ist das bisher nicht möglich. „Die Gewebestruktur kann individuell sehr verschieden sein und sie verändert sich während einer OP. Das Gewebe kann anschwellen und Blut tritt aus und das ist vorher eben nicht im Detail abzusehen“, erklärt Krieger das Problem. Damit dies in Zukunft gelingen könne, müssten noch Unmengen Daten aus möglichst vielen OPs gesammelt werden. Ein autonomer Nähroboter, den sein Team 2022 im Fachblatt Science Robotics präsentierte, funktioniert aber zumindest an tierischem Gewebe offenbar sehr gut. Im Labor konnte er einen Schweinedarm präzise nähen. „Wenn wir als Stichabstand drei Millimeter einprogrammieren, dann macht der Roboter tatsächlich Abstände zwischen 2,5 und 3,5 Millimetern. Ein menschlicher Chirurg würde mit größeren Variationen nähen.“ Der Nähroboter arbeitet dafür mit einer rotierenden, kreisförmigen Nadel, für die der Roboter nur einen Arm braucht.
Der erste Stich mit langem Faden, der die zu verbindenden Gewebeteile in Position bringt, wird jedoch auch in Zukunft noch ein Fall für den Menschen an der Fernsteuerung bleiben. Anschließend könne er das Nähen mit einem Knopfdruck starten, erklärt Krieger. „Unsere Idee ist, dass das wie ein Parkassistent im Auto funktioniert. Ich fahre erst selbst und am Parkplatz drücke ich dann auf die Automatisierung und das Auto parkt ein.“ Die Fachkraft könne den Vorgang beobachten und bei Bedarf jederzeit eingreifen. Daran, dass der Wechsel schnell und unkompliziert funktioniert, arbeitet sein Team gerade. Außerdem will es das System noch verkleinern, eine Kamera integrieren und schneiden sollte es ebenfalls in Zukunft können. Bis zur ersten vollautomatisierten OP an einem Menschen wird es Krieger zufolge aber noch dauern. „Es gibt fünf Stufen der Automatisierung und wir sind gerade erst auf Stufe drei“, so der Forscher.
„Es gibt fünf Stufen der Automatisierung und wir sind gerade erst auf Stufe drei.“
Ob ferngesteuert oder voll automatisiert: Nicht alle Medizinfachleute sind von den neuen robotischen Systemen begeistert. Auch aus der Chirurgie kam in den letzten Jahren Kritik. Die Kosten seien zu hoch und die Studienlage zum Nutzen für die Behandelten zu dünn, so die Hauptargumente. Bei automatisierten Verfahren sei zudem die Frage der Verantwortlichkeiten noch zu klären.
Hans Fuchs arbeitet schon seit etwa zehn Jahren mit Assistenzrobotern und forscht am Uniklinikum Köln zu Robotik und KI. Die Kritikpunkte sind ihm bekannt. „Ich habe aber den Eindruck, dass das langsam abebbt – zumal zwei recht aktuelle große Studien einen Benefit mittlerweile belegen“, sagt er. Eine Untersuchung zu Darmtumor-Operationen wurde 2023 im Lancet veröffentlicht, eine Langzeitstudie zu Eingriffen bei Speiseröhrenkrebs erschien 2020 im Fachblatt Diseases of the Esophagus. Auch der Nutzen für den Chirurgen – die rückenschonende Arbeitsweise und ein niedrigeres Infektionsrisiko durch das ferngesteuerte Arbeiten – sollte bei der Bewertung stärker gewichtet werden, betont der Chirurg. Gleichwohl seien natürlich noch Verbesserungen möglich. Seim Team forsche zum Beispiel daran, dass die OP-Roboter künftig nicht nur visuelle, sondern auch haptische Rückmeldungen geben, und an einer Art Spurhalteassistent fürs Schneiden. Zum Argument der hohen Kosten sagt er: „Der Roboter muss sicher nicht bei jedem Eingriff zum Einsatz kommen. Wie man auch nicht jede Strecke mit dem Auto zurücklegen muss, sondern auch mal zu Fuß gehen kann.“
Maximilian Kückelhaus sieht das ähnlich. Zwar zeichne sich aus ersten Studien und Erfahrungsberichten mit der neuen Roboterkombination schon eine Faustregel ab, wann sich der Einsatz lohne. „Unter zwei Millimetern spielt die neue Technologie ihre Stärken voll aus“, berichtet der Chirurg. Aber man sei noch in einer Lernkurve. „Bei welchen Indikationen generiert das schonendere Operieren genügend Benefit, um den finanziellen Aufwand zu rechtfertigen? Auch diese Frage müssen wir in unseren nächsten Studien beantworten.“