Präsentismus bei psychischen Belastungen: So schadet er allen

Durchziehen, jetzt erst recht, die Woche noch zum Abschluss bringen und auf keinen Fall an diesem einen wichtigen Termin fehlen: Wenn sie krank sind, dann treffen Menschen Entscheidungen, zu denen sie ihren Freund:innen niemals raten würden. Der Grund lautet natürlich: Das ist eine ganz besondere Situation. Auch bekannt als Ausnahme. Also Alltag.
Präsentismus nennt man es, wenn Menschen krank zur Arbeit gehen. Das Phänomen ist seit der Covid-Pandemie weniger akzeptiert – niemand möchte seine Luft mehr mit hustenden und schniefenden Kolleg:innen teilen. Deshalb geht der Trend in meinem Umfeld zum präventiven Homeoffice. Ich würde gern noch „oder zur Krankschreibung ergänzen“, nur wäre das leider gelogen.
Aber immerhin: Die Möglichkeit Homeoffice ist ein Lichtblick in einer Erkältungszeit, in der wieder mehr Menschen in die Büros müssen. Nur wird ein Thema prominent ausgeblendet: Auch psychische Erkrankungen sind bedeutsam für die Arbeit.
Du kannst ja noch stehen! Gerade so …
Die AOK berichtete im Jahr 2022 in ihrem Gesundheitsatlas, dass rund 9,5 Millionen Menschen in Deutschland von Depressionen betroffen sind, also etwa 12,5 Prozent. Hinzu kommen all jene, die keine Diagnose angestrebt oder bekommen haben, und all jene, die dem sogenannten „subklinischen Bereich“ zuzuordnen sind: Menschen, denen es zwar nicht gut geht, die aber die Diagnosekriterien noch nicht erfüllen.
Dass psychische Belastung zum Tod führen kann, ist unstrittig. Ob man deshalb aber der Arbeit fernbleiben darf? Da sind wir uns als Gesellschaft noch nicht einig. Krankschreibungen hängen vom Ermessen von Ärzten ab, das gilt zum Beispiel nach Fehlgeburten vor der 24. Woche. Das ist auf zweierlei Art seltsam:
- Erfahrungen, die der Forschung als kritische Lebensereignisse gelten, sind nicht automatisch Gründe für eine Auszeit.
- Geht es Menschen psychisch nicht gut, dann muss das trotzdem so begründet werden, dass alle einverstanden sind.
Und das ist Irrsinn. Diese Haltungen sind Ausdruck einer Arbeitskultur, die auf ihr wertvollstes Gut noch nie Rücksicht genommen hat: Geist und Verstand der Menschen. Also gehen laut der TK-Studie zum Präsentismus mehr als 56 Prozent der Menschen auch dann arbeiten, wenn sie sich emotional erschöpft fühlen. Das ist Selbstkompetenz auf dem Level von Kleinkindern: Wenn ich mir die Augen zuhalte, dann bin ich weg.
Mental Health Days sind ein Anfang
Einige wenige Unternehmen haben die sogenannten Mental Health Days eingeführt. Es sind Tage, die arbeitsfrei sind und die der eigenen seelischen Gesundheit gewidmet sein sollen. Die Idee ist prima, weil sie eine Debatte anregt: Sind Unternehmen für die psychische Gesundheit verantwortlich?
Darüber können wir streiten. Dafür spricht, dass es zur allgemeinen Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz eigentlich auch eine für die psychische Belastung geben sollte – gönn dir doch mal den Spaß und frag in der Firma danach.
Übernehmen Unternehmen Verantwortung dafür, dass die Mitarbeitenden ordentlich sitzen, dann können sie auch Verantwortung übernehmen für Stressauslöser wie Zeitdruck, Unsicherheit, Monotonie, Lärm, Unterbrechungen, zwischenmenschliche Konflikte, fehlende soziale Unterstützung, es wäre eine lange Liste.
Menschen brauchen Wahlfreiheit
Handelt es sich um eine Krise und findet diese vor allem im Privatleben statt, dann kann Arbeit helfen. Die Struktur, die Gemeinschaft, die Arbeit an einem Ziel, all das kann helfen, schwere Zeiten zu überstehen. Anders ist es, wenn die Betroffenen sich kaum aufraffen können. Auch emotionale Arbeit, bei der bestimmte Gefühle gezeigt werden müssen, kann eine zusätzliche Belastung sein. Und wer überreizt oder tatsächlich krank ist, der wird ein unruhiges Arbeitsumfeld vielleicht kaum aushalten können.
Wir brauchen also Wahlfreiheit. Sich psychisch angeschlagen zur Arbeit zu schleifen ist in etwa so effektiv, wie dies mit einer Erkältung zu tun: gar nicht. Es kostet mehr, als es nützt. Es ist längst altes Wissen, dass Menschen mit mehr Wahlfreiheit besser arbeiten. Sie machen weniger Fehler, sind kreativer, sie leisten mehr und strahlen das aus. All das ist nur schwer möglich, wenn die Psyche angeschlagen ist. Darauf müssen sich Unternehmen einstellen – und unsere völlig veraltete Gesundheitskultur braucht auch mal ein Update. Krank zur Arbeit war noch nie heldenhaft. Es war immer schon teuer und ein Ausdruck von mangelnder Kompetenz.