Ganz kurz konnte man daran glauben, dass alles gut würde mit dem deutschen Rentensystem. Menschen über 60 arbeiteten länger, zahlten ihre Beiträge und blieben ihren Betrieben als Fachkräfte erhalten. So begann das neue Jahrtausend. Zu früh gefreu, denn heute sehen wir: Wenn die Menschen nicht müssen, dann arbeiten sie jenseits der 60 nicht mehr lange. Darauf deuten Zahlen des Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) hin. Das Rentenalter ist in den vergangenen Jahren recht konstant geblieben: Zwischen 63 und 64 Jahren hören viele auf.
Bundeskanzler Olaf Scholz’ Lösung für das Phänomen: „Es gilt, den Anteil derer zu steigern, die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können.“ So sagte er es den Funke-Zeitungen und der französischen Zeitung Ouest-France. Das ist interessant. Er hat recht – aber er löst damit das Problem nicht, denn das Problem spielt sich zwischen dem freien Willen der Menschen und der Gerechtigkeit in der Gesellschaft ab.
Gesundheit ist ein Faktor der Ungleichheit
Es wäre eine Errungenschaft, mehr gesunde Lebensjahre zu haben. Wer länger arbeiten möchte, bislang aber nicht kann, hätte dann die Wahl. Die verbleibende Lebenserwartung der 65-Jährigen stieg in den Zeiträumen 1971/1973 und 2009/2011
- bei Frauen von 15,3 auf 20,7 Jahre
- und bei Männern von 12,1 auf 17,5 Jahre.
So berichtet das Robert-Koch-Institut (RKI). Das ist viel. Wir sehen in diesen Zahlen aber auch die Erfolge von Medizin und Pflege. Bei der Zahl der gesunden Lebensjahre gibt es tatsächlich Handlungsbedarf. Noch einmal das RKI: „Im mittleren Lebensalter ist die gesundheitliche Ungleichheit stark ausgeprägt, was sich unter anderem an einem höheren Erkrankungs- und vorzeitigen Sterberisiko bei Personen mit niedrigem Sozialstatus festmachen lässt.“ Bildung hilft Menschen, Geld zu verdienen und gesund zu leben. Aber sie ist ungleich verteilt. Bildung ist ein Faktor, an den wir ranmüssen, aber sie ist keine schnelle Lösung.
Wer Geld hat, lebt länger, gesünder und freier
Wir können das so zusammenfassen: Menschen, die weniger verdienen, sind im Alter mit größerer Wahrscheinlichkeit körperlich nicht mehr in der Lage, ihren Job zu machen. Oder sie sind es noch, haben aber weniger gesunde Lebensjahre vor sich. Wer dagegen höher qualifiziert ist, ist von diesen Faktoren weniger abhängig. Das führt uns zur Wahlfreiheit und damit zum Geld.
Schauen wir auf die Ersparnisse: Laut DIW haben 15 Prozent der Menschen gar kein Vermögen. Der Median liegt bei 26.000 Euro. Ältere haben mehr als Jüngere, denn sie hatten mehr Zeit zum Sparen. Insgesamt sehen wir an der DIW-Studie, dass die Vermögen in allen Altersgruppen steigen. Jeder spart so viel er kann. Und das müssen wir auch. Ich bin 36 Jahre alt und erwarte nicht, von meiner staatlichen Rente überleben zu können. Also bereite ich mich vor, so gut es geht. Das versuchen fast alle – aber nicht für jeden ist es möglich. Bei den einkommensärmsten 20 Prozent steigen die Vermögen laut DIW nicht, bei den einkommensstärksten 10 Prozent steigen sie dagegen stark. Hier spielen auch Kapitalerträge eine Rolle, also Vermögen, das aus Vermögen erwächst.
Die Ungerechtigkeit ist unerträglich – und hilft nicht einmal
Wer besser bezahlt wird, kann die Entscheidung über das Ende der Erwerbsarbeit freier treffen. Er oder sie ist weniger von der staatlichen Rente abhängig. Wer das nicht kann, muss in härteren und schlechter bezahlten Jobs länger ran und ist dabei mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht mehr gesund. The winner takes it all. Dieses Ausmaß an Ungerechtigkeit ist unerträglich.
Wem also dient die Politik der späten Rente? Zwei Argumente werden häufig herangezogen: der Fachkräftemangel und das unterfinanzierte Rentensystem. Die Idee eines höheren Rentenalters klingt wie eine vernünftige Lösung, scheitert in der Praxis aber am freien Willen der Bürgerinnen und Bürger. Wer Fachkräfte im Job binden will, müsste sie folglich so arm halten, dass sie nicht aufhören können. Klappt aber auch nicht, denn dafür steigt die Marktmacht der Arbeitnehmenden zu sehr – Fachkräftemangel halt.
Nun könnte die Regierung positive Anreize schaffen, um Menschen dazu zu bringen, länger zu arbeiten. Kleine Warnung: Auch das wird wahrscheinlich nix. Mussten sich Arbeitnehmende zuletzt zwischen Freizeit und Geld entscheiden, dann haben sie in der Regel die Freizeit gewählt, zum Beispiel bei der Einzelhandelskette Globus oder der Deutschen Bahn. Ein Installateur bei mir um die Ecke wirbt mit „3 Tage Wochenende“. Als ich das neulich einer Führungskraft in der Pflege vorschlug, lachte er mich aus. Mit reduzierter Arbeitszeit wirbt er schon seit Jahren um Personal, während gleichzeitig ältere Kolleg:innen gehen – sie können einfach nicht mehr.
Schon jetzt sehen wir an den BiB-Daten, dass Menschen auch Abzüge in Kauf nehmen, um in Rente zu gehen. Die Zeit wird zeigen, ob dies ein Kulturwandel ist, der später auch das Renteneintrittsalter betrifft. Wollen wir wetten? Ich tippe auf Ja.
Der Konstruktionsfehler der Rente
Als die Altersrente im 19. Jahrhundert eingeführt wurde, stand sie Arbeiter:innen ab 70 zu, wenn sie länger als 30 Jahre lang Beiträge gezahlt hatten. Das hätte aber bedeutet, dass die Älteren jener Zeit nichts bekommen hätten, was gesellschaftlich nicht gewollt war. Viele von ihnen hatten nie die Chance gehabt, zu sparen. Deshalb gab es eine Übergangsregelung: Wer über 70 war und drei Jahre lang Beiträge gezahlt hatte, wurde von der Gemeinschaft versorgt. So fing alles an.
Später folgten Versicherungen für Angestellte und ihre Hinterbliebenen, sie erhielten ihre Rente ab einem Alter von 65 Jahren. Das Ausstiegsalter für Arbeiter:innen wurde gesenkt. Bis ungefähr 1980 sank es auch in der Praxis, stagnierte dann eine Weile und stieg seit der Jahrtausendwende wieder – liegt für Männer aber bis heute unter dem Wert der 1960er.
In mehr als 130 Jahren wurden die Bestimmungen des Rentensystems immer wieder angepasst und der Kreis der Berechtigten erweitert. Nur der ursprüngliche Konstruktionsfehler wurde nie behoben: Beitragszahlende zahlen für die Rentner:innen der Gegenwart. Man nennt das „Umlagefinanzierung“. Beim Verfahren der „Kapitaldeckung“ zahlen Menschen dagegen für ihren eigenen Ruhestand. Das Geld soll so investiert werden, dass es möglichst vor Inflation geschützt ist.
Umlagefinanzierung schützt zum Beispiel vor Börsencrashs: Weil nur geringe Rücklagen gebildet werden, ist sie nicht so anfällig für Wertverlust. Das funktioniert, wenn viele Menschen für wenige zahlen. Werden aber weniger Kinder geboren und wird diese Veränderung nicht durch Zuwanderung oder Steigerung der Reallöhne ausgeglichen, dann zahlen wenige für viele. Und das funktioniert nicht.
Gute Lösungen finden alle doof
Fast 13 Millionen Menschen erreichen laut Statistischem Bundesamt in den kommenden 15 Jahren das Rentenalter. Höchstens 8,4 Millionen Jüngere rücken in den Arbeitsmarkt nach. Das reicht nicht. Arbeiten Ältere länger, dann hilft uns das, aber es rettet uns nicht. Wir brauchen mehr Leute und wir müssen die Rente anders finanzieren. Es muss mehr Geld ins System.
Eine breitere Finanzierungsbasis gepaart mit dem Start in die Kapitaldeckung kann langfristig helfen. Beitragszahlende können nicht gleichzeitig für die riesige Masse der Babyboomer bezahlen und für sich selbst vorsorgen. Das Geld muss also auch aus Einkommen kommen, für die keine Rentenbeiträge gezahlt werden. Kapitalerträge wären ein Beispiel unter vielen möglichen. Deren Besteuerung ist aber unpopulär bei vielen Menschen mit Geld aka Einfluss.
Jetzt wird’s teuer – aber es muss sein
Das deutsche Rentensystem hätte geändert werden müssen, als die Geburtenzahlen runtergingen. An dieser Stelle gehen Grüße raus an die Politiker:innen der 70er-Jahre und alle, die nach ihnen kamen – schönen Dank auch. 50 Jahre Angst vor dem Wahlergebnis kommen uns jetzt teuer zu stehen. Und ihr wusstet, dass es so kommen würde. Aus damaliger Sicht sah es so aus, als müssten spätere Generationen – also wir jetzt – „nur“ mehr bezahlen und das war für das Wahlergebnis natürlich egal. Nun fehlt es auch an Fachkräften, um konkurrenzfähig zu bleiben. Also schönen Dank auch für die restriktive Zuwanderungspolitik und dafür, dass der Bildungserfolg bis heute stark vom Elternhaus abhängt. All dies war vorhersehbar.
Jetzt ist die Zeit, sich dieses Scheitern einzugestehen und in Lösungen zu investieren. Die Politik muss den Mut haben, diese Investitionen einzuleiten und zu erklären. Der Preis des Zögerns wird schon jetzt so hoch sein, dass die Folgen kaum zu stemmen sind. Weiter wegducken hilft uns dabei aber auch nicht.
Sehr geehrter Autor des Artikels „Warum das deutsche Rentensystem endgültig gescheitert ist“ ,
ein sehr informativer Artikel.
Leider wurde noch eine weitere Tatsache vergessen: als in den „guten“ 80er und 90er Jahren die Rentenkassen gut angefüllt waren, wurde mehrfach vom Staat Geld für Infrastrukturmaßnahmen oder sonstige Haushaltsdefizite mit Entnahmen von Geld aus der Rentenkasse finanziert.
Mir ist nicht bekannt, dass diese „Zwangskredite“ aus der Alterssicherung auch wieder zurückgezahlt wurden. Dann würde es in der Rentenkasse sicherlich zumindest etwas besser aussehen.
Aber vielleicht läßt sich das ja aufklären.
Das solidarische Rentensystem ist nicht gescheitert.
Es ist nur nicht weiter entwickelt worden und hat sich den Gegebenheiten nicht entsprechend verändert. Zu viele Einflüsse, zu viele Ansprüche und vor allem Angriffe von an anderen Strukturen Interessierten bringen das System an seine Grenzen.
Dabei ist aktuell die Situation so, dass es seit dem Bestehen dieses Systems noch nie so viele sozialversicherungspflichtige Einzahler gegeben hat wie jetzt. Und genau das ist letztendlich entscheidend.
Eine Ursache steht mitten im Artikel: „… und der Kreis der Berechtigten erweitert…“. Es werden ja nicht nur die Renten derer aus dem Topf bezahlt, die and der Umlagefinanzierung auch aktiv beteiligt waren, sondern es wurden auch immer wieder Wählergeschenke an bestimmte Wählergruppen gemacht, ohne dass diese aus Steuermitteln wieder aufgefüllt wurden. Ich finde den Sozialstaat grundsätzlich eine gute Idee, aber er sollte auch von der Allgemeinheit finanziert werden.
Dr. Gerhard Schick forderte bereits in seinen Zeiten als MdB und finanzpolitischer Sprecher der Bündnis-Grünen die ‚Bürgerrente‘. Nach seiner Mandats-Niederlegung als MdB zum 31. Dezember 2018 ist er jetzt übrigens mit der Bürgerbewegung „Finanzwende“ für ein gerechteres Finanzsystem unterwegs.