So will Indien eine digitale Supermacht werden - t3n

Indien ist ein Land der großen Chancen, das seinen Weg zwischen Fortschritt und staatlicher Kontrolle sucht. Das bevölkerungsreichste Land der Welt erlebt derzeit einen beispiellosen digitalen Wandel, der es technologisch an die Weltspitze befördert. Mit einem QR-Code die Autorikscha bezahlen, per WhatsApp-Chatbot das Metroticket lösen und die Sicherheitskontrolle am Flughafen per App mit Gesichtserkennung passieren – so sieht der Alltag im digitalen Indien aus. Vieles läuft über das Smartphone. Indien hat in seiner digitalen Transformation den Schritt zum Heimcomputer weitgehend übersprungen. „Mobile First“ lautet die Devise. Millionen Menschen haben erst mit Mobiltelefonen Zugang zum Internet erhalten. Seit 1995 ist die Zahl der Mobilfunkanschlüsse auf 1,12 Milliarden gestiegen, die meisten nutzen mobiles Internet und das Ende des Wachstums ist noch nicht erreicht. In Metropolen wie Mumbai, Delhi oder Bengaluru wird das Überleben ohne Smartphone, den indischen Identitätsnachweis „Aadhaar Card“ oder digitale Bezahlsysteme immer schwieriger. QR-Codes von GPay, PayTM oder PhonePe finden sich an fast jedem Laden oder Essensstand in der westindischen Millionenstadt Mumbai. Viele Gemüsehändler:innen haben einen QR-Code an ihrem Stand auf einen Aufsteller gedruckt und die Kundschaft überweist über den Code der Zahlungsschnittstelle „Unified Payment Interface“ (UPI) direkt auf das Bankkonto der Verkäufer:innen. Indien ist aber nicht nur zum Vorreiter im digitalen Zahlungsverkehr geworden. Auch in etlichen anderen Bereichen der Digitalisierung ist das Land mittlerweile Vorreiter. Dabei zeigt sich: Der Grat zwischen digitalem Fortschritt und staatlicher Überwachung ist schmal. Dieser Text erscheint in der kommenden Ausgabe 8/2024 von MIT Technology Review. Der Schwerpunkt der Ausgabe ist das Land Indien. Ab dem 8.11. ist die Ausgabe im gut sortierten Bahnhofsbuchhandel erhältlich. Ab dem 7.11. könnt ihr das Heft bereits online bestellen. [tableofcontents] Der Reiz des indischen Markts Indiens digitale Revolution begann Ende der 1990er-Jahre, als Firmen wie Texas Instruments in die Stadt Bengaluru kamen, die sich fortan als „Backoffice der Welt“ einen Namen machte. Die zunehmende Vernetzung übers Internet machte digitale Arbeitsteilung möglich. Und Bengaluru lockte mit strategischen Vorteilen: qualifizierten, aber im weltweiten Vergleich günstigen Fachkräften durch die dortige Bildungsinfrastruktur; einer unternehmensfreundlichen Politik der Lokalregierung, die etwa die Landvergabe erleichterte, sowie an Kooperationen interessierten Unternehmen. Heute gibt es vor allem im Süden Indiens Hunderte globaler Innovationszentren internationaler Unternehmen. Tech-Giganten wie Apple, Microsoft, NVIDIA oder Alphabet haben Niederlassungen vor Ort. Aber auch nationale Unternehmen spielen eine wichtige Rolle – wie der 1981 gegründete IT-Riese Infosys. Co-Gründer und IT-Milliardär N.R. Narayana Murthy gilt als Vater des boomenden IT-Sektors und wird manchmal als „Indiens Bill Gates“ bezeichnet. Apple verlagert bereits seit 2017 seine iPhone-Produktion schrittweise nach Indien, um sich über China hinaus zu diversifizieren. Zulieferer Foxconn produziert etwa im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu. Und 2023 reiste Apple-Chef Tim Cook persönlich nach Mumbai und Delhi, um die ersten beiden Apple Stores zu eröffnen. Im Geschäftsjahr bis März 2024 wurden in Indien iPhones im Wert von 14 Milliarden US-Dollar zusammengebaut, was 14 Prozent der weltweiten Produktion entspricht. In den kommenden vier Jahren soll ein Viertel aller Apple-Telefone in Indien produziert werden. Dass iPhones in Südindien hergestellt werden, ist kein Zufall. Unternehmer Vishnu Ramdeo vom Indo-German Young Leaders Forum (IGYLF) beschreibt die dortige Arbeitskultur als zielorientiert. Das habe mit der Mentalität der Menschen dort zu tun. Aber auch mit Anreizen der Lokalregierungen. Insgesamt sei die Entwicklung in den südlichen Bundesstaaten gemessen am Index der menschlichen Entwicklung höher als in einigen Teilen des Nordens oder Ostens. Zudem stünden dank zahlreicher technischer Schulen und Universitäten qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung – gerade für den Bereich IT, so der Wirtschaftswissenschaftler. „Das südindische Bengaluru war der erste große Ausgangspunkt für den IT-Sektor, aber wir haben das Potenzial für drei bis vier indische Silicon Valleys“, sagt Ramdeo, „Gurugram, Hyderabad und Chennai haben ein ähnliches Potenzial.“ Unternehmen wie Bosch und Siemens haben Bengaluru zu ihrer Heimat für globale Forschungs- und Entwicklungszentren gemacht, während BASF und SAP in Westindien angesiedelt seien. Die Bandbreite der ansässigen Unternehmen ist vielfältig. „Es sind Unternehmen wie Mercedes-Benz, die in Indien die Mobilitätslösungen von morgen entwickeln“, so Ramdeo. Oder Inderinnen und Inder gründen Finanztechnologie-Start-ups in Deutschland und erhoffen sich darüber einen besseren Zugang zum europäischen Markt. Das Spektrum der Startups in Indien umfasst Dienstleistungen/SaaS, Fintech, E-Commerce, den Gesundheitsbereich, aber auch Deep Tech und Künstliche Intelligenz, einschließlich der Entwicklung autonomer Drohnen in verschiedenen Bereichen. Kevin Kleber etwa entwickelt in seinem Startup Suind KI-basierte Drohnen für Automatisierung in der Landwirtschaft. Er ist gerade zu Besuch in Bengaluru und erzählt, dass es in der Nachbarschaft einige Startups im Bereich der Drohnentechnologie gibt. Suind hat er zusammen mit seinem Studienkollegen Kunal Shrivastava erst in der Schweiz und dann in Indien gegründet. Im Obergeschoss eines unscheinbaren Gebäudes am Rande der Metropole schraubt ein Mitarbeiter an einer Drohne. In dieser Werkstatt schlummere die Zukunft der Landwirtschaft, sagt Kleber: Was hier erprobt wird, soll vor allem die Erträge auf schwierigem Gelände verbessern, wenn es nach ihm geht. Ein großes Testfeld haben sie in Indien gefunden, doch die Technologie soll später auch der Landwirtschaft in Europa zugutekommen. Sein Motto: „Wenn es in Indien funktioniert, funktioniert es überall.“ Die KI-gesteuerten Drohnen werden zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt. Mit speziellen Sprühköpfen verteilen sie gezielt Pflanzenschutzmittel. „Auf einer Kautschukplantage in Kerala konnten wir bei unseren Tests den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln um 60 Prozent reduzieren und gleichzeitig die Wirksamkeit verdoppeln“, sagt Kleber, „was zu einer direkten Steigerung der Ernte führte“. Erste Fördergelder erhielten die beiden in der Schweiz und konnten dann in Indien ihre erste Investitionsrunde einwerben. Aadhaar: Die Schnittstelle für alles Doch nicht nur der Privatsektor expandiert seit den 90ern. Auch der öffentliche Sektor hält mit großen Schritten auf die digitale Zukunft zu – mit einem digitalen Identitätssystem Aadhaar. Infosys-Mitbegründer Nandan Nilekani verließ das Unternehmen 2009 und brachte als Vorsitzender der Unique Identification Authority of India (UIDAI) maßgeblich die Einführung des Aadhaar-Projekts voran. Aadhaar wurde ins Leben gerufen, um benachteiligte Bevölkerungsschichten zu erfassen und ihnen den Zugang zu Sozialleistungen zu vereinfachen. Eine eindeutige Personennummer bleibt lebenslang gültig und dient als Identitätsnachweis (nicht aber als Nachweis der Staatsbürgerschaft). Aadhaar ist mit einer Vielzahl von Daten verknüpft – von Fingerabdrücken über einen Iris-Scan und Passfoto bis hin zu Geburtsdatum, Wohnort und Steuernummer. Mehr als 1,38 Milliarden Aadhaar-Nummern wurden bislang ausgestellt. Damit deckt das System 98 Prozent der Bevölkerung ab und soll Identitätsdiebstahl durch biometrische Verifizierung erschweren. Und gleichzeitig verfügt Indien damit über die größte biometrische Datenbank der Welt. Obwohl die Registrierung freiwillig ist, wird es zunehmend schwerer, sich ihr zu entziehen. Aadhaar ist unverzichtbar für alltägliche Erledigungen geworden, wie der Eröffnung eines Bankkontos, der Registrierung einer SIM-Karte oder dem Zugang zu Sozialleistungen, die direkt auf das mit der Aadhaar-Nummer verknüpfte Konto überwiesen werden. So erhalten die Empfänger:innen die Gelder ohne Abzüge und Umwege – was Korruption in mancher Sicht tatsächlich eingedämmt hat. Darüber hinaus bildet Aadhaar das Rückgrat des India Stack, eines digitalen Ökosystems, das zahlreiche öffentliche und private Dienstleistungen bündelt. Der deutsche Unternehmensberater Jan Künne, der zwischen Bengaluru, Nürnberg und San Francisco pendelt und den Bayerischen Rundfunk zu Digitalisierung beraten hat, vergleicht den India Stack mit Lego. „Die Aadhaar-Nummer ist meine Lego-Grundplatte, auf der alles aufbaut.“ Der große Unterschied zu Europa sei, dass Indien eine eindeutige Nummer für den Identitätsnachweis verwende, was vieles einfacher mache. Die Aadhaar-Nummer preist er nicht nur als Identifikationsinstrument an, sondern auch als „Zugang zur digitalen Welt“. Die rasche Akzeptanz sieht er in den Vorzügen, von denen gerade die ärmere Bevölkerung profitiere. Aadhaar sei zum Türöffner geworden. Tatsächlich hat sich unter der seit 2014 amtierenden rechtskonservativen Regierung von Narendra Modi der Zugang zu Bankkonten auf Basis von Aadhaar und einem Förderprogramm stark verbessert. Auch die Geschlechterlücke in der finanziellen Inklusion schließt sich allmählich. Das India-Stack-Ökosystem „Auf den India Stack können bestimmte Bausteine aufgelegt werden und wenn diese immer dieselbe Sprache sprechen, wird das System durchlässig“, erklärt Künne. So könne man mit der Zahlungsschnittstelle UPI (Unified Payment Interface) sofort zwischen Bankkonten ohne Zwischenanbieter zahlen. Das erleichtere auch den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen und dem Finanzsystem. „Internationale Firmen wie Alphabet haben sich mit GPay an UPI drangehängt“, sagt er. Und das „Unified Health Interface“ (UHI) biete eine einheitliche Gesundheitsschnittstelle. Das Aadhaar-System vernetzt das gesamte Leben der Nutzerinnen und Nutzer. Und natürlich gibt es dazu eine App: DigiLocker. Darin werden persönliche Dokumente gebündelt – eine Art digitales Archiv oder Brieftasche. Trotz der Vorteile des India Stack gibt es Bedenken. David Medine, Datenschutzexperte und Berater beim Think Tank Center for Global Development, warnt: „Riesige Datenbanken bieten auch Regierungen ein Instrument zur Verfolgung und Überwachung ihrer Bürger.“ Er schließt nicht aus, dass die Regierung zu Zwecken der „nationalen Sicherheit“ auf Aadhaar-Datensätze zugreift. Privatwirtschaftliche Akteure könnten über „nationale Identifikatoren wie Aadhaar die Verknüpfung von Datenbanken erleichtern und ein Profil der Finanz-, Reise-, Beschäftigungs- und Social-Media-Aktivitäten einer Person erstellen“, so Medine. Unternehmensberater Künne sieht dagegen die positive Seite: „Die digitale öffentliche Infrastruktur ist in Indien – im Gegensatz zu Deutschland – sehr weit entwickelt.“ Ihn zieht es wie Tausende andere daher zu den zahlreichen Tech-Events in Bengaluru wie dem TIA Summit, zu dessen Beratungsmitgliedern er gehört. Bei der Start-up-Konferenz der Plattform Yourstory zeigt sich dagegen, wie Indien jenseits von Sicherheitsbedenken tick(er)t: Das berufliche Speeddating beginnt schon am Eingang per WhatsApp. Mit der Registrierung für die Messe werden die Daten gleich für ein Matching genutzt, sofern man mit dem Scan eines QR-Codes zustimmt. Und so sucht der Algorithmus von Introbat.ai nach passenden Gesprächspartnerinnen und -partnern. Papierlos am Flughafen Da ist es nur konsequent, dass Aadhaar auch beim Anflug von und nach Bengaluru eine zentrale Rolle spielt – in Form der Ende 2022 eingeführten App DigiYatra. Am Flughafen muss die App nicht einmal geöffnet werden. Voraussetzung ist nur die Registrierung mit der Aadhaar-Nummer und einem Livebild. Nach dem Web-Check-in wird das Ticket in die App hochgeladen. Am Eingang des Flughafenterminals für DigiYatra erfassen biometrische Scanner automatisch das Gesicht der Reisenden und gleichen die biometrischen Daten ab. Das soll das Reisen leichter und schneller machen. Doch rechtfertigt dieser Komfort das Sammeln sensibler biometrischer Daten? Disha Verma von der indischen Internet Freedom Foundation (IFF) findet das Erfassen biometrischer Daten ohne Zustimmung an Flughäfen höchst beunruhigend und fordert die vollständige Abschaffung von DigiYatra. „Studien zeigen, dass etwa 30 Prozent der Passagiere am Flughafen in der Hauptstadt Delhi nicht wussten, dass sie sich für DigiYatra angemeldet hatten, was den zwanghaften Charakter des Dienstes verdeutlicht“, sagt sie. Das System erfasse und speichere biometrische Daten, wenn auch nur vorübergehend, um die Identität der Passagierinnen und Passagiere zu überprüfen. Wie lange, sei aber unklar, sagt die Datenschützerin. „Das Hauptproblem ist, dass es sich um sehr sensible und anfällige Daten handelt, die zu den wichtigsten Identifikatoren gehören“, sagt sie. Allerdings fehle es in Indien bisher an einem Gesetz, das ein höheres Maß an Schutz regele. DigiYatra ist nicht ihr einziges Sorgenkind. „Seit 15 Jahren kämpfen Menschen gegen Aadhaar“, sagt Verma. Darunter ihr Kollege Kiran Jonnalagadda. Der Datenschützer kritisiert, dass Aadhaar praktisch zur Pflicht gemacht wurde und Behörden, Privatunternehmen sowie Schulen bei Anmeldungen unreflektiert die Aadhaar-Nummer verlangten. Im Gegensatz zu DigiYatra, wo es vor allem um Bequemlichkeit gehe, sieht Verma in Aadhaar jedoch ein legitimes Anliegen. Für Abhinav Mishra, Gründer des Agrartechnik-Start-ups UGT TECH in Bengaluru, ist die Digitalisierung vor allem eine praktische Lösung, um alltägliche Verwaltungsprobleme zu verringern. Er stieg auf die Verwaltungs-App für Aadhaar DigiLocker um, als er 2019 sein Führerschein-Dokument verlor. „Anstatt Tage damit zu verschwenden, zur Zulassungsstelle zu gehen, um mir einen neuen physischen Führerschein ausstellen zu lassen, habe ich meinen Führerschein in die DigiLocker-App geladen“, sagt er. Dieser werde von der Regierung als gleichwertig mit dem physischen Führerschein angesehen, so Mishra. Seitdem nutzt er die App für Aadhaar oder die Steuerkarte PAN. Die Digitalisierung von Behördendiensten habe die Geschwindigkeit der Regierungsarbeit verändert, in einigen Fällen sei sie die schnellste der Welt, meint er. Datenschutz, Privatsphäre und Kontrolle Was den Digitalexperten Udbhav Tiwari auf der technischen Ebene beunruhigt, ist, dass Indien zur Authentifizierung auf Einmalpasswörter (OTP) per SMS setzt. Dies sei per se unsicher. Hinzu komme, dass die Mobilfunkverbindungen zwischen Telefon und Funkmast in Indien oft sehr schlecht oder gar nicht verschlüsselt seien. „Das größte Sicherheitsrisiko von DigiLocker ist die schwache Authentifizierung“, sagt er. Dennoch sieht er in der digitalen Brieftasche DigiLocker ein Beispiel, an dem Europa von Indien lernen kann – im Positiven wie im Negativen. Auch dass die Aadhaar-Nummer in Indien mit der Telefonnummer, der Steuernummer und dem Bankkonto verknüpft werden müsse, habe die Mehrheit der Bevölkerung erst nach mehreren Fristverlängerungen akzeptiert, so Tiwari, denn „es stimmt nicht, dass sich Menschen in Indien nicht für Datenschutz interessieren“. Solche Argumente würden jedoch genutzt, um schlechte Datenschutz- und Datensicherheitspraktiken zu rechtfertigen. „Der Oberste Gerichtshof Indiens hat sehr deutlich gemacht, dass es ein Grundrecht auf Privatsphäre gibt“, sagt er. Aber im Alltag siegt oft die Zweckmäßigkeit.„Es gibt viele Anwendungsfälle, in denen die Risiken in Bezug auf Sicherheit, Privatsphäre, Integration und Ausgrenzung größer sind als die Vorteile“, so Tiwari. Er verweist auf Betrugsfälle, bei denen von Bankkonten gestohlen wurde, die mit dem Aadhaar-System verknüpft waren – oder Menschen wichtige Sozialleistungen verweigert wurden. Eine weitere Kehrseite der rasanten Digitalisierung des Landes ist der zunehmende Zugriff auf die Meinungsfreiheit durch die Regierung. Während der dreifache indische Premierminister Narendra Modi (BJP) gerne betont, Indien sei „die größte Demokratie der Welt“, und er einer der meistgefolgten Politiker der Welt in sozialen Medien ist, ist das Land auf der Rangliste der Pressefreiheit von Platz 80 (2002) auf Platz 159 (2024) zurückgefallen. Plattformen wie Altnews, die Fake News im Netz aufdecken, stehen unter Beschuss. Initiativen wie die US-amerikanische Plattform Hindutva-Watch, die Übergriffe auf Angehörige religiöser Minderheiten dokumentiert, wurden zwischenzeitlich gesperrt. Immer wieder versuchten Regierungen in Indien, die Meinungsfreiheit einzuschränken, und das vermehrt im Digitalen. „Die Politik in Indien ist heute zutiefst digital“, sagt die Journalistin Barkha Dutt. Und das auf mehreren Ebenen. Sie nennt Indiens Premierminister den „Patriarch des virtuellen Universums“, auf der anderen Seite werden die Gesetze restriktiver. Die Regierung ist befugt, den Zugang zu Online-Inhalten zu sperren, wenn diese als Bedrohung für die Souveränität, nationale Sicherheit oder öffentliche Ordnung Indiens angesehen werden. Social-Media-Plattformen und Anbieter digitaler Angebote sind in Indien verpflichtet, eine Beschwerdestelle einzurichten, die als problematisch eingestufte Inhalte entfernen muss. 2021 kam es deshalb zum Eklat: Der damalige IT-Minister ging gegen Twitter vor, da nach Ansicht der Regierung nicht die notwendigen Maßnahmen gegen Profile ergriffen wurden, die angeblich gegen das Gesetz verstießen. Zudem können in Indien Mitarbeiter:innen von Social-Media-Plattformen für Inhalte, die von Nutzerinnen und Nutzern geteilt werden, haftbar gemacht werden. Ergänzt wird das um eine staatliche Faktenüberprüfungsstelle, die „gefälschte, falsche oder irreführende“ Inhalte im Netz nach eigenen Richtlinien identifizieren und melden kann. Im März 2024 wurde ein Artikel von Al Jazeera über das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz CAA als „irreführend“ gekennzeichnet, da er das Gesetz als „anti-muslimisch“ bezeichnete. Zwar wurde die Faktenprüfung gerichtlich vorübergehend ausgesetzt. Die Regierung stoppt hier aber nicht: So sollen Influencer:innen durch ein neues Gesetzesvorhaben (Broad Cast Bill) als „digitale Nachrichtenvermittler“ eingestuft werden. Damit wären sie verpflichtet, sich bei der Regierung zu registrieren und ein Gremium zur Bewertung ihrer Inhalte einzurichten. Regierungskritische YouTuberinnen und YouTuber wie The Deshbhakt, der fünf Millionen Abonnent:innen hat, befürchten, ihre Kanäle schließen zu müssen. Das hat Widerstand und eine Debatte über Internetfreiheit ausgelöst. Problem: Internetabschaltungen in Indien Neben Ansätzen von Zensur ist aber noch eine andere Art staatlicher Eingriffe problematisch: Internetabschaltungen. Zwischen 2016 und September 2024 gab es in Indien über 800 davon. Darunter auch in Krisenregionen wie im Bundesstaat Manipur, in dem es zu Ausschreitungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Begründet werden sie oft damit, Falschnachrichten und damit Panik verhindern zu wollen, aber auch um das Durchsickern von Prüfungsunterlagen einzudämmen: Im Februar 2023 wurde im Bundesstaat Rajasthan etwa eine Woche lang von 6 Uhr morgens bis 18 Uhr abends die mobile Internetverbindung gekappt, da Prüfungen für angehende Lehrkräfte stattfanden. So sollte verhindert werden, dass Teile von Klausuren und Lösungen im Netz landen. In Vorjahren wurden Prüfungen nach Leaks bereits abgesagt oder verschoben. Laut der NGO Access Now führt Indien im sechsten Jahr in Folge die Zahl der weltweiten Abschaltungen an. Und selbst wenn das Internet funktioniert und Datensicherheit beiseitegeschoben wird, steckt der Teufel oft noch im Alltags-Detail: So hofft Haushälterin Sunita Mahadik nicht nur auf eine stabile Internetverbindung, wenn sie vor dem Laden mit der Lebensmittelausgabe steht. Sie erhält wie rund 800 Millionen Inderinnen und Inder monatlich Lebensmittelzuschüsse, die heute an ihre Aadhaar-Nummer gekoppelt sind. Daher spürte sie damals Druck, sich registrieren zu lassen. „Bevor ich 2020 meine Aadhaar-Karte beantragt habe, hatte ich nur meine Geburtsurkunde und die Lebensmittelkarte, um mich auszuweisen“, sagt sie. Biometrische Daten, wie in diesem Fall ihr Fingerabdruck, sollen das System effizienter machen. Aber im Alltag funktioniert das nicht immer reibungslos. „Manchmal dauert es etwas, bis die Fingerabdrücke registriert werden“, sagt sie. Dann kann es zu einer langen Schlange kommen. Zwar erkennt das kleine silberne Lesegerät Mahadiks Daumen heute schon beim zweiten Auflegen, doch noch muss sie zur Sicherheit ihre physische Lebensmittelkarte mitbringen, die sie im Laden für den Monat abzeichnen lässt. Dieser Artikel stammt von der Journalistin Natalie Mayroth.