Trump, Musk oder Weidel: Wir müssen die Beschämung wieder produktiv machen

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Im Weißen Haus hängt jetzt Donald Trumps Mugshot an der Wand, und zwar gerahmt. Das Foto also, das von ihm gemacht wurde, als er kurzzeitig im Gefängnis saß. In einer besseren Welt könnte man das als Akt politischer Selbstkritik verstehen: eine Erinnerung daran, dass hier ein vorbestrafter Mann die Geschicke der USA lenkt. Doch in so einer würdevollen Welt leben wir nicht. Das Verbrecherporträt hängt nicht als Schandmal, sondern als Trophäe des Präsidenten an der Wand. Und passt damit gut zu einem Präsidenten, der gerne andere Staatsführer in der Öffentlichkeit demütigt.
In Deutschland verkündet Alice Weidel derweil, dass sie die Abschiebung zigtausender Menschen gerne Remigration nenne – sie benutzt also freimütig einen Begriff, gegen dessen Verwendung hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen sind. Ihr Co-Chef bezeichnet den ukrainischen Präsidenten Selenskyj als „Bettelpräsidenten“ und Weidel stimmt dem bei Markus Lanz auch noch zu. Von Musks konstanten Schamlosigkeiten, etwa wenn er genüsslich Menschen arbeitlos macht, gar nicht zu sprechen.
Diese politischen Personen stellen ihre Schamlosigkeit zur Schau, zelebrieren sie als politischen Akt: Eure Moral, eure Wertvorstellungen, eure Ideen von Demokratie sind uns doch egal. Und jede Empörung über diese Verschiebung verabredeter Diskursgrenzen scheint wirkungslos zu verpuffen. Wie konnte es so weit kommen?
„Scham“ von Matthias Kreienbrink. (Bild: Penguin Random House)
Matthias Kreienbrink beschäftigt sich in seinem Buch „Scham: Wie ein machtvolles Gefühl unser Leben neu prägt“* mit den persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Folgen einer teils destruktiven Emotion.
Produktive Schamlosigkeit
Um diesen Paradigmenwechsel nachzuvollziehen, ist ein Verständnis davon wichtig, was Scham überhaupt ist. Heruntergebrochen ist sie im Kontext des gesellschaftlichen Zusammenlebens primär ein Signal – sie zeigt uns, dass wir eine Grenze überschritten haben. Jemandem nahezutreten, uns in der Öffentlichkeit danebenbenehmen, die Würde eines anderen verletzen. Im besten Fall wirkt die Scham dann produktiv. Sie lässt uns innehalten und hinterfragen, wieso wir uns gerade schämen oder wieso wir jemand anderen beschämt haben.
So werden wir sozialer Normen gewahr und können dann entscheiden, ob wir sie tatsächlich anerkennen wollen oder nicht. Ohne diese regulierende Funktion der Scham kann ein gesellschaftliches Zusammenleben nicht gelingen.
Zur Geschichte der Menschheit gehört jedoch auch die Schamlosigkeit. Und auch sie kann nützlich sein. Die sogenannte sexuelle Befreiung etwa, oder die queere Emanzipationsbewegung musste schamlos sein, indem sie die gegebenen gesellschaftlichen Normen nicht akzeptierte, sie bewusst überschritt und so auch die Grenzen des Vorstellbaren und Akzeptablen verschob. Die Schamlosigkeit kann also auch eine Form von Gegenwehr gegen eine politische und gesellschaftliche Beschämung sein.
Diese politisch-subversive Schamlosigkeit wird jetzt schon seit Jahren pervertiert. Vor allem von Menschen, die nicht für den Abbau von Marginalisierung kämpfen, sondern für eine verstärkte Ausgrenzung von Randgruppen. Die ihre Schamlosigkeit nutzen, um die Verwundbarsten einer Gesellschaft zu schaden. Menschen „remigrieren“ wollen oder politische Gegner ins Gefängnis schmeißen.
Destruktive Beschämung
Das Perverse dieser Schamlosigkeit ist also, dass sie nicht Normen und Grenzen verändern will, um mehr Menschen an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Sondern den Ausschluss sucht. Nun ist das allerdings kein Selbstläufer. Die Reaktion auf eine Schamlosigkeit zeigt, wie sehr sich eine Gesellschaft oder Bevölkerungsgruppen selbst noch ihrer eigenen Normen und auch Werte bewusst ist.
Szenen wie die von Weidel, Trump oder Musk, der den Hitlergruß zeigt, sorgen inzwischen aber kaum noch für relevante Empörung. Es hilft auch nicht mehr, sie zu beschämen und uns damit selbst unserer gesellschaftlichen Regeln zu vergewissern. Ein gewichtiger Grund dafür ist der Modus, in dem wir gesellschaftliche Debatten nun schon seit Jahren größtenteils verhandeln: beschämend.
Vor allem in den Sozialen Medien ist in den letzten Jahren ein Instrumentarium neuer beschämender Worte entstanden – ausgerechnet auf den Plattformen also, die zu größten Teilen ziemlich schamlosen Tech-Milliardären gehören. „Boomer“, „Woke“, „Gendergaga“ – für jede Identitätszugehörigkeit und politische Orientierung gibt es einen abwertenden Begriff. Die Beschämung hat hier nicht zum Ziel, einen Konflikt zu lösen oder einen komplizierten Sachverhalt zu entschlüsseln. Sie will die Beschämenden vielmehr von den Komplexitäten dieser Welt erlösen.
Wieso auf die Argumente eines Gegenübers eingehen, wenn er doch ein Boomer ist? Wieso sich mit sozialen Ungerechtigkeiten auseinandersetzen, wenn ihre Befürworter doch alle woke sind? Die Scham gibt uns besonders im Digitalen ein mächtiges Instrument an die Hand: Mit ihr erheben wir uns über andere, verorten sie auf der „falschen Seite“, während wir uns selbst auf der „richtigen“ positionieren.
Unterdessen ist uns jedoch die Bedingung verloren gegangen, die Scham produktiv machen kann: das Innehalten und Überdenken. Denn dafür braucht es zunächst das Verständnis, welche Grenze man denn überschritten hat. Wofür man also beschämt wird. So sehen wir den Diskurs in den Sozialen Medien vorwiegend auf zwei Weisen ablaufen. Ein Beschämungs-Pingpong, in dem die so oft beschriebenen Fronten entstehen. Auf Beschämung erfolgt Gegenbeschämung. Oder aber der Rückzug. Menschen, die sich dieser Scham nicht mehr aussetzen wollen und den Diskurs fortan meiden.
Stillstand und Abnutzung
Damit kann gesagt werden: Souverän ist, wer andere beschämen kann. Das gilt in den Sozialen Medien ganz besonders. Es ist hier geradezu ein Genuss, in der Undurchsichtigkeit und Komplexität moderner Probleme so für Eindeutigkeit zu sorgen. Die Beschämung teilt ein und sortiert in Richtig und Falsch. Alle Zwischenräume werden geschlossen. Diese Räume braucht es aber, um die Komplexität unserer Gegenwart zu verhandeln – und Lösungen zu finden.
Das ständige Beschämen ist aber auch eine Vorbedingung für den Erfolg derer, die die Schamlosigkeit pervertieren. Die stehen daneben und lachen. Denn sie haben in diesem beschämenden Getöse immer die einfachsten Antworten. Und damit Erfolg – aus zwei Gründen.
Erstens: Scham nutzt sich ab. Nahezu jede unserer gesellschaftlichen Debatten wird inzwischen emotionalisiert geführt. Maßnahmen gegen Klimawandel gehen unter in Schuldzuweisungen. Minister, die den armen Bürgern die Heizungen aus dem Keller reißen wollen. Oder Superreiche, die mit ihren Yachten und Flugzeugen die Welt brennen sehen wollen. Bürgergeld-Beziehenden wird Fleiß und Leistung abgesprochen.
Und in der Migrationsdebatte geht es nicht mehr um Menschen, sondern um Zustrom, der in unsere Sozialsysteme einwandern will. In diesen Diskursen versucht jeder und jede eine Position einzunehmen, von der aus es am einfachsten ist, dem Gegenüber böse Absichten zu unterstellen – und damit souverän zu werden.
Nicht nur tritt dadurch Stillstand in viele gesellschaftliche Debatten. Das gegenseitige Beschämen ersetzt die inhaltliche Auseinandersetzung. Vielmehr können Populisten und Faschisten dieses Getöse nutzen, um ohne größeren Aufruhr all das zur Schau zu tragen, wofür sie vor einigen Jahren noch beschämt worden wären – und das damals womöglich sogar effektiv. Wenn die Beschämung sich bereits so sehr abgenutzt hat, dass sie nur noch abgeklärt und ritualisiert erscheint – damit also nicht mehr produktiv ist – dann sind die Provokationen der AfD eben auch nur das: eine weitere Schamlosigkeit in einem Reigen gegenseitiger Unterstellungen und Finten.
Trump oder Weidel sind Beispiele für Menschen, die ihre Schamlosigkeit nutzen, um die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Sie werden zu Richtern, die die Leute freisprechen, die nun endlich das sagen „dürfen“, was sie vielleicht schon lange dachten. Die nun auch an der genussvollen Schamlosigkeit teilnehmen können. Ohne eine Gesellschaft, deren vorwiegend digitaler Diskurskorridor sich auf gegenseitiges Beschämen verengt hat, wäre diese Verschieben aber wohl nicht so einfach gewesen.
Ohne Empörung
Der zweite Grund für den Erfolg der Schamlosen folgt aus dieser Verengung. Die perverse Schamlosigkeit ist kalkuliert, sie übertritt die gesellschaftlichen Grenzen nicht aus Versehen. Sie lässt sich auch nicht belehren. „Wie kannst du nur?“ wirkt nicht bei Menschen, die eigentlich noch weit mehr als das können wollen. Sie tun jede Kritik an sich ab, indem sie darauf verweist, dass man ohnehin gar nichts mehr sagen kann, ohne beschämt zu werden.
Kurzum: wer die Schamlosigkeit bewusst und kalkuliert für seine Zwecke einsetzt, kann nicht beschämt werden. Und damit geht das Instrument verloren, auf das wir uns seit einigen Jahren, befeuert durch die Sozialen Medien, am meisten stützen, um vermeintliche Ordnung in unsere Diskurse zu bringen. Aus dieser diskursiven Sackgasse führt daher wohl nur ein Weg: weniger empörte Aufgeregtheit.
Jede „Entlarvung“ der Populisten und Faschisten in Talkshows oder auf anderen Bühnen, wird fehlschlagen, wenn sie als rein beschämender Sprechakt daherkommt. Jede empörte Verurteilung der tatsächlichen Feinde der Demokratie bleibt stumpf, solang Entsetzen, Empörung und Unterstellung statt des Sacharguments die erste Wahl in der diskursiven Auseinandersetzung bleibt – und damit die wohlfeilste und einfachste.
Wie wir diskutieren, wie wir streiten, ist also mehr als nur eine Frage des guten oder schlechten Tons. Die Scham im öffentlichen Diskurs muss in unserer Gesellschaft wieder produktiver werden. Die Beschämung als diskursive Waffe wieder geschärft. Nur dann wird es möglich sein, die Schamlosen, die am Abbau der Demokratie arbeiten, zu treffen. Wenn sie wieder merken: unsere Schamlosigkeit fällt auf.
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