Virtuelle Realität zum Greifen nah: Wearable-Technologie erweckt den Tastsinn

In einer Welt, in der visuelle und auditive Technologien uns mit hochauflösenden Displays und immersivem Surround-Sound verwöhnen, hinkt die Simulation des Tastsinns bisher deutlich hinterher. Die meisten haptischen Feedback-Systeme, von Smartphones bis zu Game-Controllern, beschränken sich auf einfache Vibrationen – ein schwacher Abklatsch dessen, was unsere Haut tatsächlich wahrnehmen kann.
Denn die menschliche Haut ist ein Wunderwerk der Natur, ausgestattet mit unzähligen winzigen Sensoren, die Druck, Vibration, Dehnung, Temperatur und Textur differenziert erfassen. Diese Komplexität nachzubilden, war bisher eine enorme technologische Hürde.
Doch nun haben Ingenieur:innen der Northwestern University im US-Bundesstaat Illinois einen entscheidenden Durchbruch erzielt. Sie präsentieren eine neuartige tragbare Technologie, die diese Lücke schließen könnte. Ihr kompaktes, kabelloses Gerät, detailliert beschrieben in einer aktuellen Studie im Wissenschaftsjournal Science, ist in der Lage, präzise Bewegungen auf der Haut auszuführen und so ein breites Spektrum komplexer Berührungsempfindungen zu imitieren.
Mehr als nur Vibration: Ein neuer Aktuator für den Tastsinn
Das Herzstück der Innovation ist ein sogenannter „Full-Motion Actuator“ (FOM). Im Gegensatz zu herkömmlichen Systemen, die die Haut meist nur eindrücken (vibrieren lassen), kann dieser winzige Aktuator Kräfte in jede Richtung ausüben. Er kann die Haut nicht nur anstupsen, sondern auch schieben, ziehen, verdrehen und gleiten lassen.
„Fast alle haptischen Aktoren stoßen nur an die Haut“, erklärt John A. Rogers, ein Pionier der Bioelektronik an der Northwestern University, der die Entwicklung leitete, in einer Pressemitteilung. „Aber die Haut ist empfänglich für viel komplexere Berührungssinne. Wir wollten ein Gerät entwickeln, das Kräfte in jeder Richtung ausüben kann.“
Das nur wenige Millimeter große Gerät nutzt ein cleveres Design: Ein winziger Magnet interagiert mit einem System aus ineinander verschachtelten Drahtspulen. Fließt Strom durch die Spulen, erzeugt das entstehende Magnetfeld eine Kraft, die den Magneten präzise bewegt.
Durch die Anordnung mehrerer solcher Aktuatoren in Arrays können komplexe Empfindungen wie Kneifen, Dehnen oder Klopfen simuliert werden. „Damit können wir das komplexe Gefühl der Berührung auf vollständig programmierbare Weise fein steuern“, fügt Rogers hinzu.
Die Entwicklung, an der neben Rogers auch der Maschinenbauprofessor Yonggang Huang und der Haptik-Pionier J. Edward Colgate maßgeblich beteiligt waren, baut auf früheren Arbeiten der Labore auf. Die Herausforderung lag nicht nur in der Mechanik, sondern auch in der Optimierung.
„Ein kompaktes Design und eine hohe Kraftausbeute sind entscheidend“, betont Huang, der die theoretischen Modellierungen leitete. Sein Team entwickelte Berechnungsmodelle, um sicherzustellen, dass jeder Bewegungsmodus seine maximale Kraft entfaltet, ohne unerwünschte Nebeneffekte zu erzeugen – etwa ein ungewolltes seitliches Rutschen bei einem gewollten Drücken.
Intelligent und vielseitig: vom virtuellen Raum zur realen Anwendung
Das Gerät ist nicht nur klein und leicht, es soll auch energieeffizient arbeiten und wird dabei von einer kleinen wiederaufladbaren Batterie gespeist. Die drahtlose Verbindung via Bluetooth ermöglicht die Kopplung mit Smartphones, VR-Headsets oder anderen Systemen.
Ein integrierter Beschleunigungssensor verleiht dem System zusätzliche Intelligenz. Er erkennt die Ausrichtung des Geräts im Raum – zum Beispiel, ob die Handfläche nach oben oder unten zeigt – und kann Bewegungen wie Geschwindigkeit und Drehung verfolgen. Diese Fähigkeit zur Bewegungserfassung eröffnet faszinierende Möglichkeiten.
„Wenn man mit dem Finger über ein Stück Seide streicht, hat es weniger Reibung und gleitet schneller, als wenn man Cordsamt oder Sackleinen berührt“, erläutert Rogers und beschreibt einen möglichen Anwendungsfall: „Man kann sich vorstellen, dass man Kleidung oder Stoffe online kauft und die Textur fühlen möchte.“
Das System könnte die Reibung und damit das Gefühl unterschiedlicher Oberflächen auf einem flachen Bildschirm simulieren, indem es die Bewegung des Aktuators an die virtuelle Textur anpasst.
Mögliche zukünftige Anwendungen
Die potenziellen Anwendungsfelder dieser Technologie sind enorm vielfältig:
- Virtuelle und erweiterte Realität: Gamer:innen könnten nicht nur den Rückstoß einer virtuellen Waffe spüren, sondern auch die Textur eines Objekts, das sie in der VR-Welt aufheben – oder den sanften Druck einer virtuellen Hand auf ihren Schultern. Die FOM-Aktuatoren könnten VR-Erlebnisse auf ein gänzlich neues Immersionslevel heben.
- Barrierefreiheit: Menschen mit Sehbehinderungen könnten durch gezielte taktile Hinweise auf der Haut – etwa Richtungsangaben oder Warnungen vor Hindernissen – sicherer durch ihre Umgebung navigieren.
- E-Commerce: Das „Anfassen“ von Produkten vor dem Online-Kauf wird möglich. Kunden könnten die Textur von Stoffen, die Oberfläche von Möbeln oder die Beschaffenheit von Materialien virtuell erfühlen.
- Telemedizin: Ärzte könnten bei Fernuntersuchungen taktiles Feedback erhalten oder dem Patienten gezielte Berührungsreize zur Diagnose übermitteln.
Eine Brücke zwischen der digitalen und der physischen Welt
Die Erfindung des Haptik-Wearables könnte einen signifikanten Fortschritt darstellen, um die bisher vernachlässigte Dimension des Tastsinns in unsere digitale Welt zu integrieren. „Ein Grund dafür, dass die haptische Technologie in ihrer Reichhaltigkeit und Realitätsnähe hinter Video und Audio zurückbleibt, ist, dass die Mechanik der Hautverformung kompliziert ist“, sagt Co-Autor J. Edward Colgate. „Der FOM-Aktor ist das erste kleine, kompakte haptische Gerät, das die Haut berühren oder dehnen, langsam oder schnell arbeiten und in Arrays verwendet werden kann.“
John A. Rogers blickt optimistisch in die Zukunft: „Wir glauben, dass unser System dazu beitragen könnte, die Lücke zwischen der digitalen und der physischen Welt weiter zu schließen. Durch das Hinzufügen eines echten Tastsinns können sich digitale Interaktionen natürlicher und ansprechender anfühlen.“
Diese Technologie verspricht, nicht nur unsere virtuellen Erlebnisse zu bereichern, sondern auch reale Herausforderungen in Bereichen wie Barrierefreiheit und Fernkommunikation zu meistern.
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