James-Webb-Teleskop und Satelliten: Warum sie die besten kosmischen Parkplätze besetzen

Das James-Webb-Weltraum-Teleskop ist am Lagrange-Punkt L2 positioniert. (Foto: Steve Sabia/NASA Goddard)
Zurzeit gibt der Himmelskörper SIMP 0136 den Astronom:innen Rätsel auf. In welche Kategorie lässt er sich einordnen: Planet oder Stern? Oder etwas dazwischen? Klar ist, er dreht sich unheimlich schnell um sich selbst und ausgehend von seiner Masse 13-mal so groß wie Jupiter. Was man über ihn bisher weiß, verdanken die Wissenschaftler:innen dem James-Webb-Teleskop, das seit dem Januar 2022 an seinem Bestimmungsort, dem Lagrange-Punkt L2, angekommen ist. Von dort lieferte es bereits beeindruckende Bilder von Galaxien in einer bisher ungeahnten Detailschärfe. Denn die Strahlung von Sonne, Erde und Mond kommt hier stets aus einer Richtung, von „innen“. Auch die Weltraumteleskope Gaia (ESA) und Spektr-RG von Deutschland und Russland mit dem vom Max-Planck-Institut entwickelten Röntgenteleskop eROSITA kreisen gegenwärtig um L2.
Was macht die Lagrange-Punkte so interessant?
L2 liegt 1,5 Millionen Kilometer außerhalb der Umlaufbahn der Erde um die Sonne und eignet sich besonders für astronomische Beobachtungen. Außer L2 gibt es noch den Lagrange-Punkt L1 im Sonne-Erde-System, er liegt 1,5 Millionen Kilometer innerhalb der Erdbahn. Von dort können Satelliten ungestört die Sonne beobachten, so macht es das europäische Sonnenobservatorium SOHO seit 1996. Auch die Tagseite der Erde hat man stets im Blick, das nutzen Missionen wie das amerikanische Deep Space Climate Observatory. Mitten im Sonnenwind, der von der Sonne kommend auf das Magnetfeld der Erde trifft, forscht der NASA-Satellit WIND um L1.
Lagrange-Punkte sind Orte im Weltraum, an denen sich die Gravitationskräfte zweier Himmelskörper so ausgleichen, dass ein Flugkörper dort einfach „parken“ kann. Ohne weiteren Antrieb umkreist er an diesem Punkt den größeren der beiden Himmelskörper. Und dies so schnell wie der kleinere Himmelskörper den größeren umkreist.
Lagrange-Punkte hinter dem Mond
Auch im Mond-Erde-System gibt es Lagrange-Punkte. Sie haben aber weniger wissenschaftliche Bedeutung, denn strategische beziehungsweise militärische. Im Januar 2019 landete zum ersten Mal ein menschgemachtes Objekt auf der Mondrückseite: der Lander und Rover Jadehase 2 der chinesischen Mission Chang’e 4. Da die Rückseite immer von der Erde abgewandt ist, ist niemals direkter Funkkontakt möglich. Daher postierte China den Relaissatelliten „Queqiao“ am Lagrange-Punkt L2, 65.000 Kilometer hinter dem Mond. Von dort aus konnte er die Signale des Rovers auffangen und zur Erde weiterleiten.
Der am Lagrange-Punkt L2 parkende Queqiao dreht sich also zusammen mit dem Mond um die Erde, nur etwas weiter außen. Exakt am Punkt L2 ist der Satellit allerdings nicht postiert, sondern in einer Umlaufbahn um L2. Direkt an L2 wäre er instabil, würde wegdriften. Innerhalb einer kugelförmigen Sphäre, dem „Halo“, umrundet er den L2 jedoch mit geringen Kurskorrekturen auf immer wieder versetzten Bahnen und hat Funkkontakt zur Mondrückseite und zur Erde.
Der Wettlauf um den Mond weckt Begehrlichkeiten der Militärs
Auch das US-Militär hat den Lagrange-Punkt im Visier. Und seinen Counterpart, L1, der rund 58.000 Kilometer vor dem Mond liegt. Der 2024 gestartete „Defense Deep Space Sentinel“-Satellit soll mit einem solarelektrischen Antrieb aus einem geostationären Erdorbit heraus in verschiedene Mondumlaufbahnen und um die Lagrange-Punkte manövrieren.
Um einen der beiden Lagrange-Punkte soll ab 2025 die ebenfalls militärische Mission „Cislunar Highway Patrol System“ fliegen. Und die DARPA, Forschungsabteilung des Pentagon, will einen thermonuklearen Antrieb für schnelle Manöver zwischen Erde und Mond testen. Hauptziele sind die Überwachung und Kontrolle des cislunaren Raums und die Verfolgung dort stattfindender Flugbewegungen.
Cislunar nennen Militärs den Raum, in dem sie bisher kaum aktiv sind: zwischen der geostationären Erdumlaufbahn in 36.000 Kilometern Höhe, bis zu der erdnahe Raumfahrt stattfindet, und dem im Mittel 384.000 Kilometer entfernten Mond, inklusive des L2-Raums hinter der Rückseite. Da die Nasa im Rahmen ihrer Programme „Artemis“ und „Lunar Gateway“ die permanente, bemannte Rückkehr zum Erdtrabanten plant, will das US-Militär die künftige zivile Forschung um und auf dem Mond schützen. Augenscheinlich vor China, die nach den Erfolgen ihrer unbemannten Mondmissionen – vor allem Chang’e 4 mit dem lange funktionstüchtigen Rover auf der Rückseite und Chang’e 5 mit der Rückholung von Bodenproben – mit Hochdruck an weiteren Missionen arbeitet. Den Aufbau einer Mondstation will die Volksrepublik deutlich früher als geplant beginnen und dazu mit Russland zusammenarbeiten.
Die USA hingegen schwören seit Oktober 2020 in ihren „Artemis Accords“ Partnerstaaten auf gemeinsame Standards bei der Monderforschung ein. Dazu zählt auch die völkerrechtlich umstrittene Einrichtung von Sicherheitszonen, um kommerzielle Interessen zu schützen. Experten wie der Politikwissenschaftler Michael Byers und der Astronom Aaron Boley sehen in dem neuen Wettlauf Risiken und warnen vor militärischen Aktivitäten am Mond und den Lagrange-Punkten. „Die Grenze zwischen den Erdumlaufbahnen und dem cislunaren Raum stellt eine klare Linie dar, auf der eine Verpflichtung zur Entmilitarisierung gegründet werden könnte“, schreiben sie in einem Beitrag für das Bulletin of the Atomic Scientists.
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Lagrange-Punkte um Sonne, Jupiter und Science Fiction
Insgesamt kennt die Physik fünf Lagrange-Punkte. Da sie zwischen allen möglichen Himmelskörpern liegen, existieren in unserem Sonnensystem zahllose L-Punkte. So kreisen um L4 und L5 im System Sonne-Jupiter die „Trojaner“-Asteroiden, die die am 16. Oktober 2021 gestartete Nasa-Sonde Lucy erforschen wird. Science-Fiction-Autor:innen lieben den L3-Punkt Sonne-Erde. Da er sich permanent hinter der Sonne versteckt, könnte dort ein unentdeckter Planet, eine Gegenerde oder eine feindliche Alien-Streitmacht lauern. Ersteres schließen Wissenschaftler:innen mittlerweile klar aus, letzteres wohl ebenfalls.