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Weiterbildung ist gut – aber auch eine Form der Realitätsflucht

Schon tauschen sich die ersten Menschen über ihre Homeoffice-Coronawinter-Projekte aus. Sie würden ihre Energie besser investieren, wenn sie sich dem Leben stellen, das sie schon haben.

4 Min. Lesezeit
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Weiterbildung? Geht heutzutage easy digital und von zu Hause aus! (Foto: Shutterstock.com)

So, Hand hoch beim Lesen: Wer hat während der vergangenen Corona-Wellen Bananenbrot gebacken? Einen Sprachkurs runtergeladen? Pamela-Reif-Sportvideos angeschmissen, ein Yoga-Buch gelesen, meditiert, gejoggt, Online-Kurse für Management-Strategien, neue Programmiersprachen oder Design gestartet?

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Danke, ihr könnt die Hände alle wieder runternehmen.
So.
Und?
Ist das Leben jetzt besser?

Mit der vierten Welle beginnt für einige Menschen die dritte Phase der Lockdown-Besinnlichkeit. Kinderlose sind gemeint. Und ein Teil der Menschen in den sogenannten systemrelevanten Jobs: Jene, die zwar zu Hause arbeiten dürfen, deren Kinder aber während der vergangenen Wellen trotzdem weiterhin Zugang zu pädagogischer Arbeit hatten, aka Notbetreuung.

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Mindestens ein bisschen ironisch

Während sich also die eine Hälfte der Bevölkerung in den kommenden Monaten wieder bis weit über die Belastungsgrenze heraus strecken muss, muss sich die andere Hälfte langsam fragen: Was mache ich mit der gewonnenen Freiheit? Abseits von Pendelzeit und sozialer Verpflichtung, früher bekannt als Freundschaft und Glühwein mit Kolleginnen und Kollegen, bleibt plötzlich wieder sehr viel Zeit übrig.

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In meinem Bekanntenkreis poppte schon die Frage auf, was die Menschen in diesem Winter lernen wollen. Es war mindestens ein bisschen ironisch gemeint, denn ich kenne fast nur noch andere Eltern und denen ist selten langweilig. Aber auch unter ihnen gibt es die Menschen, die sich mit Lernen ihre geistige Gesundheit erhalten wollen. Die Idee ist gar nicht schlecht. Lernen macht glücklich. Das gilt allerdings nur, wenn Arbeit und Familie in einem guten Verhältnis stehen, berichteten Wissenschaftler nach einer Befragung.

Machen wir uns nichts vor: Für viele Menschen klappt das mit der intellektuellen Selbstverwirklichung während der Pandemie nicht, sie haben schlicht zu viel damit zu tun, Land und Leute am Laufen zu halten. Aber wenn ich mich umschaue, würde ich sagen: Weiterbildung bleibt ein Thema. Und ich bin ein Fan. Nur zu Ende gedacht haben wir das nicht.

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Die meisten Projekte führen auf Umwegen ins Nichts

Ich hab es wissenschaftlich nicht untersucht, aber ich würde sagen: Die Bananenbrote haben nicht geholfen. Keller entrümpeln hat sicherlich ein bisschen geholfen, denn Ballast loswerden befreit auch die Psyche. Aber Italienisch lernen? Schon schwieriger: Beim Lernen bildet das Gehirn neue Verknüpfungen, der Effekt nennt sich Neuroplastizität und wirkt auch beim Lesen, Fernsehen, Nasebohren oder Seilspringen. Was immer wir tun: Es verändert das Gehirn. Lernen tut das aber auf eine Art, die potenziell glücklich machen kann. Die Gehirnzellen feuern effizienter, das ist eine gute Sache. Dagegenwirken könnte der Effekt, dass in dieser schwierigen Zeit auch Enttäuschungen entstanden sind: ständig abgelenkt worden, Kurs abgebrochen, anderthalb Jahre später immer noch keinen charmanten Italiener (m/w/d) geküsst. Schade.

Ähnliches gilt für berufliche Weiterbildungsprojekte: Sie sind eine nette Ablenkung vom frustrierenden Lockdown-Leben, sie werden wahrscheinlich auch nicht schaden. Aber gleichzeitig sind sie nur eine Flucht vor der emotionalen Realität. Sie helfen dabei, sich nicht zu sehr mit den eigenen Ängsten zu befassen. Die Ängste gehen davon aber nicht weg. Die Bedrohungslage auch nicht.

Der Online-Kurs ist ziemlich gut darin, von inneren Wahrheiten abzulenken: dass der Job vielleicht nicht der Richtige ist. Dass ein hübsches Zertifikat noch keine Beförderung bedeutet. Dass es längst Zeit wäre, bestimmte Menschen mal wieder anzurufen. Dass ihr noch immer in der Stadt wohnt, obwohl ihr alles daran hasst. Dass in nächster Zeit wahrscheinlich kein charmanter Italiener um die Ecke kommen wird, sondern ihr einige Stunden nach Süden fahren müsstet, um ein paar zur Auswahl zu haben.

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Online-Kurse sind eine schöne Idee, aber all die Theorie führt in der Praxis erst einmal nirgendwohin.

Erst denken. Dann aber auch handeln.

Kontaktbeschränkungen geben vielen Menschen mehr Freizeit und das mag sich unangenehm anfühlen. Gut genutzt ist diese Zeit nur dann, wenn sie nicht ausschließlich mit Ablenkung gefüllt ist. Wir werden nicht für immer so leben wie jetzt, aber sicherlich noch eine ganze Weile. Und irgendwann werden uns die Ideen ausgehen, irgendwann schwindet die Lust an der Weiterentwicklung und irgendwann müssen wir uns alle der Wahrheit stellen, dass wir unsere inneren Wahrheiten gar nicht so genau kennen. Gefühlt war mehr immer besser. Gefühlt war Aufstieg der Weg zum Berufsglück. Gefühlt kann ein neues Lernprojekt nicht schaden. So gehen Lebensweg und Karriere an den eigenen Bedürfnissen vorbei. Wenn der Standpunkt schon nicht passt, dann führt Weiterentwicklung in die falsche Richtung.

Die vierte Welle ist die dritte Chance auf Rückbesinnung. Auf Ruhe. Und bei all der lauten Stille können wir uns noch einmal fragen: Was will ich eigentlich? Die Antwort wird keiner von uns in einer Liste mit Online-Kursen, Sport-Videos oder Heimwerkerprojekten erscrollen. Sondern in sich selbst.

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Dafür brauchen wir keine Kurse. Dafür brauchen wir etwas Ruhe, uns dem Leben zu stellen, das wir schon haben. Und dann den Mut, die Ideen auch umzusetzen. Dies ist also mein Appell für den vierten Lockdown: Tut gar nichts! Und haltet das aus. Schaut euch an, was ist. Fragt euch, wie ihr das findet. Und dann überlegt euch, wohin ihr wirklich wollt. Auch diese Welle ebbt irgendwann ab. Ein klarer Blick auf das Selbst wird euch im Frühjahr besser leiten, als ein weiteres Zertifikat im PDF-Format.

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4 Kommentare
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Durchwinker

Respekt, dass ihr das ganze Lernthema doch auch mal hinterfragt.

Antworten
Isabell Prophet

Vielen Dank für Ihren Kommentar! Ich habe lange damit gehadert. Ich selbst mag Weiterbildungen sehr. Aber gerade in letzter Zeit wurde doch deutlich, dass sie oft nicht das bringen, was sie versprechen. Man kann für sich selbst lernen, für die Karriere – oder eben, um sich zu beschäftigen. Auch okay. Aber dann sollte man auch ehrlich zu sich sein.

Antworten
Pascal

Ein sehr mutiger und wertvoller Artikel!

Antworten
Michael

Mir ist bewusst, dass Ihr Artikel an einigen Stellen überspitzt und provokativ formuliert ist und im Grunde stimme ich Ihren Aussagen durchaus aus zu. Aber gleichzeitig möchte ich auch aus tiefstem Herzen widersprechen:
Selbstverständlich bietet die Pandemie und insbesondere die mit dem Lockdown einhergehende Distanzierung Herausforderungen unterschiedlichster Art für alle von uns. Selbstverständlich leisten gerade Eltern in Familien bemerkenswertes, um die Probleme der Pandemie für sich und Ihre Familie zu bewältigen. Selbstverständlich leiden auch die Kids in den Familien teils auf eine Art und Weise, die für den Großteil der Gesellschaft im Moment vielleicht noch gar nicht wirklich greifbar und spürbar ist. Und selbstverständlich wirkt das augenscheinlich unfassbare Maß an Freizeit und Freiheit der Kinderlosen, für die von uns, die sich im familiären Kontext bewegen, zunächst wie ein Luxusproblem.

Aber: In meiner Lesart wirkt es, als würden sie Projekte in erster Linie als Mittel zur Mitigation des durch Distanzierung und Lockdown ausgelösten Verlustes der eigenen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten darstellen.
Der Aussage „Die meisten Projekte führen auf Umwegen ins Nichts“ kann und möchte ich nicht zustimmen!
Selbstverständlich ist die Frage „und was war *diesmal dein* Corona-Winterprojekt?“ in einem gewissen Maße auch ironisch, vielleicht sogar sarkastisch gemeint. Denn es liegt auf der Hand, dass nicht jedes Projekt zum Erfolg führt und nicht jedes Experiment glückt.
Dennoch: Niemals hat das Lernen einer neuen Fähigkeit, niemals das Trainieren einer neuen Aktivität etwas negatives. Und ich behaupte, Insbesondere dann nicht, wenn unser Leben in vielerlei Hinsicht auf den Kopf gestellt wird. Ist das Lernen und die Weiterbildung *auch* Realitätsflucht? Selbstverständlich! Es ist der Versuch, die eigene Realität weiterzuentwickeln, zu verändern, zu optimieren. Ob ich jemals den Italiener oder die Italienerin finde, die ich mit meinen, während der Pandemie erworbenen italienisch-Kenntnissen, beeindrucken kann? Wer weiß das schon? Ist das denn nötig? Denn vielleicht werde ich feststellen, nachdem mein Italienisch auf einem soliden Niveau ist, dass mir das den Einstieg ins Spanische immens erleichtert hat? Und vielleicht finde ich dann den Spanier oder die Spanierin? Vielleicht stelle ich auch fest, dass Italienisch und Spanisch nicht nur als ein Mittel zum Zweck der Findung eines passenden Partners oder einer Partnerin zum Küssen gesehen werden können, sondern dass es sich dabei um richtige, echte gesprochene Sprachen handelt, anhand derer ich mich plötzlich mit Menschen in fremden Ländern austauschen und im privaten, wie auch beruflichen Kontext kommunizieren kann. Vielleicht stelle ich auch fest, dass Sprachen einfach nicht so mein Ding sind, hake das Thema ab und fokussiere mich auf Dinge dir mir mehr liegen.
Vielleicht ist das Bananenbrot-Backen nur ein Vehikel, um auszugleichen, dass ich während des Lockdowns nicht an drei Tagen die Woche die Restaurants meines Vertrauens aufsuchen und deren phantastisches Essen genießen kann. Aber vielleicht stelle ich während des Backens auch fest, dass es sich beim Kochen und Backen um Fähigkeiten handelt, die den Alltag bereichern und die es sich durchaus lohnt zu meistern – und das muss nicht notgedrungen beim Bananenbrot enden.

Ich stimme zu: all die mehr oder weniger coolen und mehr oder weniger spannenden Projekte, die wir während der Pandemie begonnen, beenden oder abgebrochen haben, sollten niemals ernsthafte, existentielle Probleme und Missstände kaschieren. Sie sind kein Ersatz für fehlenden Lebensinhalt und Lebenssinn. Aber:
Etwas Neues auszuprobieren und sich neue Fähigkeiten anzueignen hat niemals etwas negatives. Insbesondere dann nicht, wenn etablierte Fähigkeiten durch die Pandemie schlagartig an Relevanz verlieren können.
Sie betrachten des Thema Weiterbildung augenscheinlich differenziert und deshalb hatte ich auch durchaus Spaß beim Lesen Ihres Beitrages. Und ja, es mag sein, dass es nicht weit genug gedacht ist, Weiterbildungen und Projekte als reinen Selbstzweck zu betrachten. Aber ich empfinde es noch immer als zu kurz gedacht, von Weiterbildungen, Experimenten und neu zu entdeckenden Projekten einen unmittelbaren Output oder eine unmittelbare Veränderung zu erwarten. Manchmal ist die neue Aktivität einfach nur der erste Schritt auf einem Weg, dessen Ende wir noch nicht absehen können.

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