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Interview
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Wirtschaftsphilosoph: „Wir brauchen ein neues ökonomisches Betriebssystem“

Wir haben mit dem norwegischen Philosophen Anders Indset über künstliche Intelligenz, den Unterschied zwischen echt und virtuell und über Karl Marx gesprochen.

Von Frank Puscher
6 Min. Lesezeit
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„Da müssen wir uns trauen, die Arbeiten von Karl Marx zu lesen und für das 21. Jahrhundert neu zu interpretieren“, findet Anders Indset. (Foto: Kurier Jeff Mangione)

Anders Indset ist der Auffassung, dass wir ein neues Gesellschaftssystem brauchen, um die Entwicklungen im Bereich KI beherrschen zu können. Wir können schon heute nicht mehr unterscheiden, was real und was virtuell ist. Und wir haben keine Maßstäbe und emotionale Reaktion dafür, wie wir damit umgehen, was da auf uns zurollt.

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t3n: Anders, du bezeichnest dich als Optimist, entwirfst aber ein düsteres Bild der Zukunft mit künstlicher Intelligenz. Wie passt das zusammen?

Anders Indset: Es ist der Irrglaube, wir könnten Gottähnlichkeit, Unsterblichkeit und Glückseligkeit in einen externen Algorithmus packen. Das würde uns überflüssig machen oder unsere Lebensgrundlage zerstören. Ich bin positiv und gehe immer vom Menschen aus. Wir kommen aus einer fatalen Informationsgesellschaft. Alle wachen wir jeden Tag ein wenig dümmer auf. Die Summe an Informationen, das was wir wissen könnten, steigt täglich exponentiell. Hinzu kommt, dass die letzten IQ-Tests aus Norwegen sogar zeigen, dass nach vielen Jahrzehnten des Anstiegs mit dem sogenannten Flynn-Effekt auch der IQ nun leicht zurückgeht.

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Wir wollen das nun mit einer Wissensgesellschaft kompensieren, indem wir alles auf eine Maschine übertragen. Die Maschine wird das auch gut machen, aber in einem künstlichen Korsett, das der Mensch vorgibt.

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Für mich liegt der Fokus auf der Entwicklung der Gesellschaft. Wenn wir die Disziplinen noch viel stärker untereinander vernetzen, können wir eine Gesellschaft des Verstandes entwickeln. Wir verstehen dann, was wir uns gerade technologisch bauen. Der Fokus muss auf den alten philosophischen Fragen bleiben.

t3n: Fragen wie: Was ist echt und was virtuell?

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Bisher konnten wir ganz klar zwischen Computer und Mensch trennen. Jetzt sehen wir die ersten Züge der Verschmelzung. Virtuelle Charaktere treten uns entgegen als Roboter oder Avatare. Aber das ist ja nur der Anfang. Wir werden es zunehmend schwerer haben, virtuell und echt zu unterscheiden, denn was wir heute als echt bezeichnen, sind ja Geschichten, auf denen wir unser Verständnis von Realität aufgebaut haben. Für uns ist echt, was wir sinnlich begreifen können oder die Menschheit gelernt hat. Wenn die KI irgendwann selbstständig wird, reicht das nicht.

Dann können wir nur von der subjektiven Wahrnehmung her kommen. Denk zum Beispiel an dieses Telefongespräch. Vor wenigen Jahren noch war eindeutig: Da sprechen Menschen. Heute weiß ich nicht mit Sicherheit, ob du ein Bewusstsein hast oder ein Avatar bist. Ich kann nur das aufnehmen, was bei mir ankommt und wie es wirkt. Das liegt auch daran, dass wir nur unser eigenes Bewusstsein wahrnehmen. Wir können nur mit dem Gefühl umgehen, wie es sich anfühlt, irgendetwas zu sein, aus der eigenen Perspektive betrachtet.

Insofern sind die Konzepte von Singularität oder Posthumanismus dystopische Reisen, die wir nicht machen müssen. In Zukunft geht es nicht mehr um die Frage „Was machen diese Maschinen mit uns?“, sondern wir müssen uns überlegen: Was wollen wir eigentlich? Wie wollen wir leben? Welche Zukunft ist für uns erstrebenswert? Noch können wir den Maschinen ja auch Grenzen setzen.

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t3n: Es ist also gleichgültig, ob ein Influencer im Netz wirklich existiert oder ob er erfunden ist?

Für mich ist es völlig irrelevant, ob es sich um einen Menschen oder Avatar handelt, der mir etwas erzählt. Wenn ich etwas spüre, wenn ich mich begeistern lasse, dann nehme ich das als echt wahr. Natürlich wird die KI irgendwann den Turing-Test bestehen. Das kann in fünf oder 500 Jahren soweit sein. Aber ist das dann der perfekte Mensch oder ist es nur besser darin, den Menschen in allen Belangen nachzuahmen? Das ist eine Frage der Perspektive.

Ich sehe keinen Nachteil darin, wenn ein virtueller Influencer zur Aufklärung beiträgt. Ich nehme hier nur etwas Abstand vom Begriff Influencer. Das, was wir heute als Influencer sehen, sind Werbeträger, die uns zum Kauf von Produkten manipulieren wollen. Aber es wachsen Mentoren heran oder Aufklärer. Das sehen wir in den USA schon. Da gibt es nächtelang in Podcasts sehr tiefgründige Diskussionen. Die Bedeutung der Werbe-Charaktere, die wir heute Influencer nennen, wird dramatisch schnell zurückgehen, weil es die Menschen langweilen wird.

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Wenn wir nur auf das Jetzt schauen, greift die Analyse zu kurz. Jetzt geht es viel um Marketing und Geldmacherei. Aber was passiert in zehn Jahren? Wo geht die Gesellschaft hin? Welchen Einfluss haben virtuelle Charaktere auf Bildung, auf Politik?

t3n: Wenn es gute Mentoren im Netz gibt, wird das Bildungssystem angegriffen.

Das gesamte Lernsystem wird kollabieren. Wir können auf Youtube heute mehr lernen als in Universitäten. Aber das ist kein Nachteil. Die virtuellen Charaktere von morgen wissen so viel mehr als wir. Sie vernetzen sich mit vielen anderen Systemen und werden jeden IQ-Test mit Leichtigkeit bestehen. Für das bestehende Bildungssystem geht es darum, das Lernen zu lernen – die Neugierde und die Kreativität zu fördern – sowie das Lernen zu lehren.

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Stand heute sagt aber ein virtueller Influencer das, was der Mensch dahinter vorgibt. Ein Bewusstsein hat der 3D-Avatar nicht. Keine Selbstwahrnehmung. Er spürt keine Begeisterung, wenn er viele Likes bekommt. Von einem Verständnis von Bewusstsein sind wir ohnehin weit entfernt, aber eine gewisse Selbstwahrnehmung wird KI und folglich Avatare vermutlich in absehbarer Zeit entwickeln können.

Das ist der Status quo. Der Mensch ist einfach und daher manipulierbar. Google, Amazon und Alibaba interessieren sich nicht für das Individuum, sondern für den statistischen Zwilling. Es gibt sicher ganz viele bunte Vögel wie mich auf der Erde. Und man könnte mir problemlos die auf mich perfekt abgestimmte KI gegenübersetzen, die zum Beispiel auch auf philosophische Fragen interessant reagiert, für mich also ein Gesprächspartner ist.

In diesem Kontext müssen wir virtuelle Influencer heute sehen. Das ist eine Zwischenstufe. Der technologische Tsunami wird so stark sein, dass es schon in zwei oder drei Jahren digitale Avatare geben wird, die ein Eigenleben führen. Und das werden wir nicht mehr verstehen, weil es jenseits unserer Kategorien passiert. Und erst dann können wir sehen, wo wir Grenzen ziehen müssen.

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t3n: Willst du ein digitales Double haben?

Da bin ich nostalgisch. Ich bin nicht ökonomisch getrieben, sondern durch Neugier. Ich will lernen. So sehe ich auch meine Bühnenauftritte, nämlich als lautes, kollektives Denken.

Aber wenn es darum geht, eine Botschaft zu vermitteln, dann wäre die Technologie super. Man müsste sich physikalisch nicht bewegen, man würde die Umwelt nicht schädigen. Gleichzeitig könnte ich viel mehr Menschen erreichen. Damit wäre ich einverstanden.

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t3n: Muss man dem User klar zeigen, dass es sich um einen virtuellen Charakter handelt?

Nein. Wenn ich einen Orgasmus habe und stelle hinterher fest, dass das inspiriert war durch eine Maschine – ist es dann nicht echt? Es gibt keine Grenzbereiche. Wenn eine Maschine Empathie ausstrahlt, auch wenn sie keine hat, aber wenn ich das spüre, dann ist das genauso real, als wenn es von einem Menschen kommt.

Offenlegung würde uns nicht helfen, denn das wäre der Versuch, Menschen vor etwas zu schützen, was wir in anderen Bereichen längst akzeptiert haben. Worum es aber geht, ist, global zu diskutieren, wie wir leben wollen, und dafür vielleicht sogar ein Regelwerk zu entwickeln.

t3n: Wenn wir eine historische Persönlichkeit vollständig nachbauen könnten. Wen würdest du wählen?

Wenn es uns gelingen würde, den gesamten Kontext nachzubauen, dann würde ich sehr gerne in einem Gespräch zwischen Physiker Niels Bohr und Albert Einstein sitzen und mit denen verbal Pingpong spielen. Aber eigentlich würde ich die Zeitreise vorziehen, damit ich mit den echten Menschen sprechen kann. Hegel oder Nietzsche sind auch spannend. Oder ein Dinner mit Laotse und Zarathustra.

t3n: Karl Marx wäre auch spannend, weil wir so viel Umbau in der Gesellschaft vor uns haben.

Ja, wenn wir Karl Marx lesen und uns nicht von den sozialistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts blenden lassen, dann stehen wir vor einer Oligarchie der Technokraten. Es wird frustrierte junge Männer zwischen 25 und 40 geben, die keine Freunde auf Facebook haben und die Welt hassen. Sie werden gegen das System und die Politik sein, weil die ja „schuld“ sind.

Und auf der anderen Seite wird es viele spirituelle Menschen geben, die sich zurückziehen und außerhalb der Gesellschaft leben. In der Mitte wird es eine riesige Masse an Menschen geben, die eine Perspektive brauchen. Es werden viele Menschen ohne Jobs dastehen. Da müssen wir uns trauen, die Arbeiten von Karl Marx zu lesen und für das 21. Jahrhundert neu zu interpretieren.

t3n: Da schließt sich der Kreis. Samsung hat in seiner Präsentation von Neon, einer Plattform für virtuelle Charaktere, peinlich genau darauf geachtet, nicht über Jobverlust zu sprechen.

Dabei ist doch sonnenklar, dass das passieren wird. Viele sogenannte Experten sagen immer, dass die KI auch neue Jobs schafft, aber das sind weniger Jobs und vor allem solche mit hohen Qualifikationen. Und wenn Unternehmen mit KI Kosten sparen und mehr Geld verdienen, werden sie es doch nicht freiwillig an die Arbeitslosen weitergeben.

Wir brauchen ein neues Betriebssystem für die Wirtschaft.

t3n: Vielen Dank für dieses Gespräch.

 

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Anti Marx

„Ja, wenn wir Karl Marx lesen und uns nicht von den sozialistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts blenden lassen“
Genau, lasst euch nicht blenden von den 100Mio Toten. Lasst es uns endlich nochmal probieren.

Wirklich schade, dass eine der beiden tödlichsten Weltanschauungen aller Zeiten überlebt hat.

Antworten
Titus von Unhold

Schade dass es noch immer verblendete Spezialexperten gibt die versuchen Marx Dinge in die Schuhe zu schieben für die er nichts kann. Übrigens hat der Kapitalismus viel mehr Tote auf der Strichliste als die Irren Knallköppe die sich auf Marx und Lenin berufen haben.

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