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Seggs oder Leg Booty: Wieso schreiben die Leute auf Tiktok to merkwürdig?

Social-Media-Plattformen wie Tiktok entscheiden darüber, was ihre ­Nutzer konsumieren können. Gerade bei ­sexuellen und politischen Inhalten wird oft eine Null-Toleranz-Politik betrieben. Das lassen sich einige nicht gefallen und wehren sich: mit ­Algospeak.

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Mit Algospeak hat sich eine neue Form der internetgesteuerten Sprache entwickelt, die Nutzer verwenden, um diese von Algorithmen gesteuerten Moderationsfilter auf Social-Media-Plattformen wie ­Youtube, Instagram, Twitch und insbesondere ­Tiktok zu umgehen. (Foto: Ground Picture)


Im Tiktok-Kosmos gibt es viele Begriffe in den Video-Untertiteln, die bei Gelegenheitsnutzern Fragen aufwerfen: Was haben „SeGGS“, „Leg Booty“ oder „OF“ zu bedeuten – und warum wird, wenn es um Erwachsenen-Unterhaltung geht, oft der Emoji eines Maiskolbens verwendet? Die Antwort auf diese Fragen heißt ­Algospeak – die neue Geheimsprache der ­sozialen Netzwerke.

Nicht zuletzt durch die Corona­pandemie hat sich die ­Kommunikation immer mehr ins Digitale verlagert. Doch die Wortwahl wird im Internet auf vielen Plattformen durch algorithmische Inhaltsmoderationssysteme beeinflusst. Sie blockieren Inhalte, die sie als unangemessen einstufen.

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Algorithmen austricksen

Mit Algospeak hat sich eine neue Form der internetgesteuerten Sprache entwickelt, die Nutzer verwenden, um diese von Algorithmen gesteuerten Moderationsfilter auf Social-Media-Plattformen wie ­Youtube, Instagram, Twitch und insbesondere ­Tiktok zu umgehen. Algospeak ist dabei eine Kombination aus den Worten „Algorithm“ und „Speak“.

Ein wichtiger Treiber dieser Entwicklung war die Pandemie, denn diese namentlich auf Tiktok zu erwähnen, führte dazu, dass die Plattform ­entsprechende Videos herabstufte, um potenzielle Fehlinformationen herauszufiltern. Schnell fingen Nutzer an, Begriffe wie „Backstreet Boys Reunion Tour“ oder „Panda Express“ als Pandemie-Synonyme zu etablieren. Wer über Pornos reden will, nutzt das Mais-Emoji, denn das englische Wort „Corn“ reimt sich auf „Porn“.

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Diskussionen zum Ukraine-Krieg werden mit einem ­Sonnenblumen-Emoji gekennzeichnet. Plattformen haben ihre Algorithmen darauf trainiert, Posts nach ­bestimmten Vokabeln zu filtern, die als schädlich oder verboten eingestuft werden. In deutschsprachigen Ländern gehören dazu allerdings auch Wörter wie „schwul“, „LGBTQ“, „homosexuell“, und „Sex“. ­Nutzer um­gehen diese Einschränkung durch Wortneuschöpfungen wie „Seggs“ statt „Sex“ und „Leg Booty“ für „LGBTQ“.

Das Mais-Emoji steht für Porn, Seggs für Sex, Leg Booty für LGBTQ.

Warum Wörter wie „Sex“ überhaupt verboten werden, ist für Marcus Bösch nicht nachvollziehbar. Er forscht an der Hochschule für Angewandte ­Wissenschaften Hamburg zu Tiktok und Desinformationen. „Schließlich handelt es sich hier nicht um einen gefährlichen oder bedrohlichen Begriff, sondern um eine beliebte Tätigkeit, die für den Fortbestand der menschlichen Spezies nun mal notwendig ist“, betont er.

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Moderne Form des Geheimcodes

Algorithmen umgehende Sprache ist genau das, was unter dem Begriff des Codeworts zu verstehen ist. Und hat eine lange Geschichte: In vielen ­Religionen war es verboten, den Namen des ­Teufels auszusprechen. Was machten die Menschen also? Sie nutzten andere Wörter oder Abwandlungen zur Umschreibung. Den gleichen Weg gehen auch Personen, die in repressiven Regimen Tabuthemen diskutieren wollen. Sie erfinden Codewörter, die nur innerhalb der Community verstanden werden und die Staatsmacht rätseln lassen.

Auch beim Militär wird mit Euphemismen gearbeitet, die Kampfhandlungen weniger schlimm aussehen lassen. Gegnerische Soldaten werden nicht getötet, sie werden neutralisiert. Und wenn der Panzer Kettenfahrzeug genannt wird, klingt es doch gleich weniger nach Krieg. „Auch wenn wir uns an viele alltägliche Zensurmechanismen längst gewöhnt ­haben, ist das Phänomen, sich nicht frei auf Plattformen äußern zu können, die zudem täglich für einen Großteil der Kommunikation genutzt werden, schon bedenklich“, sagt Kommunikationsforscher Bösch.

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Interessant daran sei, „dass die Nutzung im quasi vorauseilendem Gehorsam von etwaigen Zensurgedanken gelenkt wird“. So würden die freie Meinungsäußerung und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit eingeschränkt und das nicht per Verordnung, sondern „perfide und unterschwellig“. Bösch findet dabei das Rennen von Mensch und Maschine spannend: „Die kreativen Möglichkeiten, die Zensur oder Über­wachung zu umgehen, passen sich ja jeweils an. Und dann kann ich mich über Wortneuschöpfungen wie ‚seggsy time‘ freuen, auch wenn der Anlass für diese Techniken schwierig ist.“

Die Schattenseiten

Genutzt wird Algospeak allerdings nicht nur von Influencern, die gerne über ihre Sexualität sprechen oder politische Debatten anregen wollen, sondern auch von radikalen Gruppen für Hetzkampagnen. Auf Facebook haben sich Impfgegner zusammengerottet und als Dinner-Party ausgegeben, um nicht ins Visier der Algorithmen zu geraten.

Auf Instagram werden geimpfte Menschen als „Schwimmer“ bezeichnet, da sie „blind dem ­System“ folgten. Algospeak kann auch schnell zu Missverständnissen führen. Wille Felix Zante vom Deutschen Gehörlosen-Bund gibt zu bedenken, dass Hörende parallel zum Text noch die Tonspur zur Überprüfung zur Verfügung haben, um zu erkennen, dass mit Worten wie „Seggs“ wohl „Sex“ gemeint sein wird. Für Gehörlose gibt es diese Möglichkeit nicht. „Deswegen müssen Untertitel eigentlich immer den genauen Wortlaut wiedergeben“, sagt Zante.

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„Allerdings muss auch gesagt werden, dass der Tiktok-Slang, der zurzeit dort entsteht, auch ganz eigene linguistische Merkmale hat und insofern eigentlich Bestandteil des Nutzererlebnisses ist.“

Wird Algospeak bald überflüssig?

Die einen freuen sich, dass sie den Algorithmus austricksen konnten, während die anderen aufgrund ­kryptischer Textbausteine irritiert auf ihren ­Smartphone-Bildschirm starren. Ein Blick in die nahe Zukunft zeigt, dass Algospeak ohnehin hinfällig werden könnte. 2024 soll der Digital Services Act der Europäischen Union in Kraft treten und Nutzern die Möglichkeit geben, Einspruch einzulegen, wenn ihre Inhalte gelöscht oder gesperrt werden.

Das wird die Plattformen zwar nicht davon abhalten, weiterhin ihre Inhaltsfilter anzuwenden, gibt Nutzern jedoch die Option, ihre Inhalte vor Gericht zu verteidigen. ­Vielleicht hat sich bis dahin aber auch schon Algospeak als Tiktok-­Sprache etabliert – und jeder weiß, was gemeint ist, wenn es um „Nip Nops“ und „Le Dollar Bean“ geht.

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