Geschäftesterben in den USA: Droht die „Retail-Apokalypse“ auch in Deutschland?
Rund 3.000 Geschäftseröffnungen in den USA in den ersten neun Monaten dieses Jahres, aber immerhin 6.800 Schließungen von Geschäften (beziehungsweise Filialen) sprechen eine deutliche Sprache: Dem stationären Einzelhandel geht es nicht gut – in den USA nicht und hierzulande auch nicht. Und das, obwohl die Wirtschaft brummt und zumindest der Online-Handel einen Rekord nach dem anderen feiert. Auch wenn der deutsche Einzelhandel in den letzten Jahren stets rund 2,5 bis drei Prozentpunkte Umsatzplus vermelden konnte, kommt in den Fußgängerzonen dieser Republik nur ein geringer Prozentsatz dessen an, ganz im Gegensatz zum Versandhandel, der beispielsweise 2015 stolze neun Prozent Zuwachs vermelden konnte.
Doch Amazon, Zalando und Co. für diese Situation alleine verantwortlich zu machen, wäre ebenso zu kurz gegriffen, wie das veränderte Kaufverhalten der Generation Y als Grund zu nennen. Es ist, wie so oft, eine Vielzahl von Gründen, die zum Geschäftesterben (der Begriff „Retail-Apokalypse“ hat es sogar bereits zu einem eigenen Wikipedia-Eintrag gebracht) in den USA beitragen. Viele Händler haben über die Jahre schlechter verdient und (vor allem in den USA, aber offenbar auch in vielen europäischen Standorten) Kredite angehäuft.
Hinzu kommt ein Überangebot an Geschäften, sowohl in den amerikanischen Vorstädten als auch in deutschen Einkaufsstraßen: gezählte fünf Optiker in einem mittelgroßen Einkaufszentrum einer deutschen Großstadt und mindestens sieben Möglichkeiten, wo man aktuelle Smartphones samt Vertrag erwerben kann. Das kann nicht mehr funktionieren in einer Zeit, in der ein nicht geringer Prozentsatz der Kunden seine Geschäfte über das Internet abwickelt.
Geschäftesterben aufgrund wachsenden Online-Handels
Gerade viele Einzelhändler haben sich auf der scheinbaren Gewissheit ausgeruht, dass ihrem Business dieses Internet ja nichts anhaben könne. Kleidung müsse man schließlich anprobieren, Brillen anpassen und Lebensmittel seien ja ohnehin nichts, was man sinnvoll und effizient verschicken könne. Alles falsch – es gibt im Prinzip kein Handelssegment, das nicht über kurz oder lang den Weg ins Netz finden kann, zumal Beratung per Chat und Video durchaus einen Großteil der Fragen des Kunden klären kann und sich für viele Anpassungen durchaus einzelne Vertragspartner vor Ort finden werden.
Hinzu kommen die Vorteile des Internethandels, gegen die der stationäre Handel nur schwer ankommen kann: schnelle Vergleichbarkeit von Produkten und Preisen, größere Auswahl als im Laden vor Ort, großzügige Möglichkeiten der Rückgabe und nicht zuletzt Flexibilität in den Öffnungszeiten. Gerade in dieser Hinsicht muten Diskussionen um einzelne verkaufsoffene Sonntage, wie sie von den Gewerkschaften geführt werden, erstaunlich an – legt man dem Einzelhandel in den Städten mit so etwas doch nur eine weitere Bürde und Gängelung auf.
Und so werden in den kommenden Jahren noch etliche Schließungen von Filialen anstehen, aktuell in den USA, in drei bis fünf Jahren in dieser gravierenden Ausprägung auch bei uns. Schulden in dreistelliger Millionenhöhe, wie sie kürzlich den Spielzeughändler Toys’R’Us zum Aufgeben zwangen, werden deutsche Retailer zwar kaum anhäufen, doch auch ihnen steht das Wasser oft bis zum Hals.
Service kann für den stationären Handel ein Unterscheidungsmerkmal sein
Dass nicht nur der Preis, sondern oft auch die Convenience ein guter Grund für den Kunden sein können, dem stationären Handel den Rücken zu kehren, beweist die Misere des Buchhandels: Aller Buchpreisbindung zum Trotz kann Amazon sein Geschäft in diesem Segment in Deutschland problemlos betreiben und wird auch in Zukunft weiter profitieren. Was bleibt in den Innenstädten? Einige wenige Fachgeschäfte und viele Ketten, die sich auf die Bestseller beschränken und somit gerade Buch-Enthusiasten nur ein müdes Lächeln entlocken. Dass man ein Buch bis zum nächsten Nachmittag bestellen könne, trauen sich viele Buchhändler inzwischen kaum noch anzubieten.
Am wenigsten wird das noch die Großstädte mit einem großen Einzugsbereich der Kunden betreffen. Hier werden die Kunden, sofern sie bereit sind, sich durch den Verkehr zu quälen und einen teuren Parkplatz zu suchen, auch weiterhin ein Mindestangebot vorfinden. Eng wird’s dagegen außerhalb der Ballungsräume. Dort werden sich Händler nur mit findigen Multichannel-Konzepten (auch wenn sie das Wort oft gar nicht kennen) helfen können: Der Modehändler, der den vor Ort gekauften und abgesteckten Anzug nach der Änderung dem Kunden nach Hause schickt, der lokale Buchhändler, der täglich per Lastenfahrrad in der Umgebung Bücher ausliefert, oder der Sportartikelhändler, der dank seines Zentrallagers mit angeschlossenem E-Commerce jede Jacke nur einmal pro Farbe und Größe zur Verfügung halten muss und dem Kunden nach der Anprobe das Tablet in die Hand drückt.
Interessanterweise wird der in den letzten Jahrzehnten weggesparte Service hier wieder zum USP oder Unterscheidungsmerkmal. Der Kistenschieber, der dem Kunden nicht mehr als die technischen Daten eines Smartphones sagen kann, hat da leicht das Nachsehen, der Angestellte, dem es egal ist, ob eine Ware schon mehrfach angefragt wurde, ebenso.
Einfacher haben es große Ketten, weil sie die Online-Offline-Verknüpfung effizienter gestalten können. Vorausgesetzt allerdings, es gibt dort keinen Graben mehr zwischen den einzelnen Kostenstellen und Abteilungen. Denn der Kunde verlangt nach optimalem Service und interessiert sich nicht für die Frage, ob der Umsatz jetzt der Filiale oder dem Webshop zugerechnet wird. Das sind aber, so albern das klingt, oftmals die Diskussionen, die innerhalb der Handelsketten auch 2017 noch geführt werden.
Deutsches Geschäftesterben droht, sobald die Konjunktur nachlässt
In welcher prekären Situation sie sich befinden, ist vielen Einzelhändlern offenbar noch gar nicht bewusst. Denn aktuell läuft die Wirtschaft (sowohl in den USA als auch bei uns) noch vergleichsweise rund. Doch das könnte sich ändern: Die Zahlen, die Bloomberg skizziert, malen ein deutlich düsteres Bild: Schon aktuell ist in den USA die Zahl der Schließungen alleine in einem Quartal höher als im ganzen vergangenen Vorjahr. Wie auch bei uns gibt es in den USA gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten, respektive Bundesländern.
Und auch wenn hierfür bestimmte Sondersituationen in den USA mitverantwortlich sind, werden wir Ähnliches wohl in den nächsten Jahren auch in Deutschland sehen. Dann wird es neben den kleinen Einzelhändlern auch die Filialen großer Ketten treffen, die, anders als Einzelhändler mit nur einer oder wenigen Filialen, Möglichkeiten zur Skalierung haben. Was bleibt, ist ein weniger dichtes Filialnetz und – zumindest, wenn man die Situation in den USA auf Deutschland projiziert– Versorgungslücken außerhalb der Ballungsräume. Das ist dank einem immer besser funktionierenden E-Commerce kein Beinbruch, es wird aber das Einkaufsverhalten vieler Deutscher verändern.
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