Deutschland verschenkt 90 Prozent seines digitalen Potenzials
Dass Deutschland trotz seiner aktuell guten wirtschaftlichen Ausgangslage beim Thema Digitalisierung jede Menge Potenzial verschenkt, haben schon mehrere Experten nachzuweisen versucht. Dass das Land allerdings nur zehn Prozent seines „digitalen Potenzials” ausschöpfen soll, klingt beunruhigend. Gleichwohl ist ebendies eines der zentralen Ergebnisse einer neuen Studie des McKinsey-Global-Institute (MGI) mit dem Titel „Das digitale Wirtschaftswunder – Wunsch oder Wirklichkeit?”. Der volkswirtschaftliche Think-Tank der Unternehmensberatung McKinsey hat dafür Deutschlands Position in der Welt anhand verschiedener Wirtschaftsfaktoren analysiert sowie Erfolge und Defizite in der Digitalisierung untersucht.
Nachholbedarf bei KI
Konkret seien Deutschland und Europa bei der künstlichen Intelligenz von China und den USA abgehängt worden. Dabei, heißt es, könnte die Produktivitätssteigerung, die sich aus der zügigen Einführung neuer Automatisierungstechnik ergibt, das jährliche Wachstum des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf bis 2030 um bis zu 2,4 Prozentpunkte erhöhen. Für jeden Einwohner bedeute das ein BIP-Plus von 15.750 Euro. Dieses Wachstum könnte, rechnen die Studienautoren vor, die Einbußen von jährlich 0,6 Prozentpunkten infolge der alternden Bevölkerung ausgleichen.
„Mit einem Wirtschaftswachstum von 1,9 Prozent und einer Rekordbeschäftigungsquote von 74 Prozent verfügt Deutschland über beste Voraussetzungen, um Trends wie den demografischen Wandel, den wachsenden weltweiten Wettbewerb und vor allem die Digitalisierung und Automatisierung aktiv zu gestalten”, sagt Cornelius Baur, Managing-Partner des deutschen McKinsey-Büros und Co-Autor der Studie. Der Druck zum Wandel und zur Absicherung der Wettbewerbsfähigkeit sei jedoch enorm.
In Deutschland können dem MGI zufolge beispielsweise bis zu 77 Prozent der Arbeitsstunden von Geringqualifizierten und 46 Prozent der Arbeitsstunden von Mittelqualifizierten automatisiert werden – bei den Hochqualifizierten dagegen nur 18 Prozent. „Das heißt nicht, dass diese Jobs ganz wegfallen – unsere Arbeitswelt wird sich aber dramatisch verändern”, sagt Baur. Und: Auf diesen Wandel sei Deutschland noch nicht ausreichend vorbereitet.
Weltweit führende deutsche Unternehmen fehlen
Dem Land fehle es zudem an im Weltmaßstab führenden Unternehmen im Bereich Consumer-Electronics und Onlineplattformen für Transaktionen, um globalen Giganten wie Apple, Alphabet und Alibaba die Stirn zu bieten, heißt es in der Studie. Entsprechend verzeichne Deutschland bei digitalen Dienstleistungen gegenüber den USA ein Handelsdefizit in Höhe von mehr als vier Prozent des gesamten Dienstleistungsverkehrs.
Angesichts dieser Zahlen und Entwicklungen sollten Entscheider in Politik und Unternehmen nach Einschätzung des MGI jetzt handeln, damit Deutschland im internationalen Wettbewerb nicht an Boden verliert. Dafür schlägt das MGI einen Zehn-Punkte-Plan mit je fünf Maßnahmen für Politik und Wirtschaft vor. Grundsätzlich gehe es darum, heißt es, dass die Politik ehrgeizige Digitalisierungsstandards anstrebe und gezielt in Bildung und Arbeitsmarkt investiere.
Im öffentlichen Sektor sollten messbare und ambitionierte Digitalisierungsziele für alle Regierungs- und Verwaltungsebenen festgelegt werden, raten die Studienautoren. Branchen mit geringerem Digitalisierungsgrad, wie etwa die Bauwirtschaft, Immobilien und Teile des Finanzsektors, sollten gezielt gefördert werden, damit diese zu den Vorreitern der Digitalisierung aufschließen können. Außerdem sei anzuraten, die Einwanderung hochqualifizierter Tech-Spezialisten sowie die Zusammenarbeit mit Unternehmen zu fördern, „um die besten Arbeitskräfte im Land zu halten”. Dies müsse flankiert werden von Bildungs- und Weiterbildungsprogrammen, um junge Menschen fit zu machen für den Arbeitsmarkt der Zukunft.
„Klare digitale Agenda” gefordert
Als vierten Punkt führen die Autoren den aus ihrer Sicht dringend notwendigen Ausbau der Breitbandnetze an und die ebenfalls notwenige Stärkung „innovativer Wirtschaftscluster“. Deutsche Unternehmen sollten alle Chancen der Digitalisierung systematisch prüfen, was auch erfordere, bisherige Arbeitsstrukturen zu verändern. Gelingen könne dies unter anderem durch die „Festlegung einer klaren digitalen Agenda durch die oberste Führungsebene”, durch die „Digitalisierung weiterer Stufen der Wertschöpfungskette”, wie etwa den Einsatz heute schon vorhandener Tools zur Produktivitätssteigerung in Marketing und Vertrieb, Herstellung und Lieferketten-Management.
Wichtig, schreiben die Studienautoren, sei auch der gezielte Aufbau neuer Wachstumsmärkte, „gerade auch außerhalb angestammter Geschäftsfelder”. Zudem müssten Einsparungen durch Digitalisierung direkt in Zukunftstechnologien reinvestiert werden. Neue technische Möglichkeiten würden die Kostenstruktur der Unternehmen verändern und schafften dadurch Spielraum für zusätzliche Investitionen in die Zukunft. Im Hinblick auf das Personal raten die Studienautoren zu flachen und agilen Arbeitsstrukturen. Starre Hierarchien und Methoden müssten angepasst werden an flexible Arbeitsmodelle, die „besser ins digitale Zeitalter passen”, wie es heißt. So würden Unternehmen schneller und beweglicher.
Das McKinsey-Global-Institute (MGI) erstellt als Forschungseinrichtung von McKinsey & Company regelmäßig Studien zu ökonomischen Fragen und Trends. Gegründet wurde der Think-Tank 1990 in Washington D.C.
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Mmmh. Wahlkampf? Haben wir nicht schon sowas wie eine „digitale Agenda“? Letztlich gibts soviele Ecken und Kanten, kein Mensch alleine kann das schaffen (und ich bezweifle ehrlich gesagt, dass unsere „digitalen“ Politiker dies schaffen)