Sprachmodelle für Games: Warum die Zukunft der Computerspiele in der Vergangenheit liegt - t3n

Große Sprachmodelle sind verheißungsvoll für Computerspiele: Mit ihnen könnte es gelingen, dass sich die Geschichten hinter den Plots in Games ständig weiterentwickeln. Diese Idee hat bestechende Ähnlichkeiten mit der Urform aller Computergames. Spiele haben eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Büchern. Sie bieten eine Hintergrundgeschichte, Charaktere mit unterschiedlichen Zielen und einen sich entwickelnden Plot, basierend auf den Handlungen der Spieler:innen. Und wie in Büchern ist der Plot irgendwann auserzählt, das Spiel ist vorbei. Es noch einmal zu spielen, wäre reizlos. Aber das ändert sich gerade – dank KI. Denn große Sprachmodelle könnten schon bald einen alten Traum Wirklichkeit werden lassen: die Geschichten hinter den Games selbst zu etwas quasi Lebendigem, einem sich entwickelnden, sich ständig neu anpassenden Ding zu machen. Eine Geschichte, die sich selbst ihre eigene Geschichte erzählt. Der Ursprung dieser Idee ist weit älter als die heutigen KI-Systeme. Sie geht zurück auf die Urform aller Computergames: das Textadventure. Und sie schlägt darüber auch eine Brücke in die Zukunft. Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 8/2024 von MIT Technology Review erschienen. Darin rücken wir das Land Indien in den Fokus, denn es mausert sich zur technologischen Supermacht. Hier könnt ihr die TR 8/2024 bestellen. [tableofcontents] Computergeschichte: Zurück in die 1970er-Jahre Blicken wir zurück in die 1970er-Jahre. Unerschrockene Pionierinnen und Pioniere des Informationszeitalters hacken Code in klobige Textterminals von Großrechnern. Sie arbeiten am Arpanet, einem dezentralen Verbund dieser Großrechner, aus dem später das Internet werden wird. [caption id="attachment_1659562" align="aligncenter" width="620"] Eine PDP-10-Workstation von DEC aus den 1970er-Jahren. Viele dieser Computer, auf denen bis zu zehn Nutzer:innen gleichzeitig arbeiten konnten, waren im Arpanet vernetzt, dem Vorläufer des Internets. (Foto: Marcin Wichary, Wikipedia, CC-BY 4.0)[/caption] Einer von ihnen ist Will Crowther. Er arbeitet für das Unternehmen BBN an der Implementierung der neuen Netzwerkprotokolle auf einer PDP-10, einem Zentralrechner der Digital Equipment Corporation (DEC). Diese kleiderschrankgroßen Geräte sind an US-Forschungseinrichtungen extrem beliebt, weil sie vergleichsweise billig sind und sich gut miteinander im frühen Arpanet vernetzen lassen. Mitte der 1970er-Jahre verbringt Crowther jedoch nicht nur seine Arbeitszeit, sondern auch seine Freizeit am Computer. Denn er muss eine schwierige Phase in seinem Privatleben verarbeiten: die Trennung von seiner Frau Patricia, mit der er Höhlen erforscht hatte. Um das zu tun, schreibt er ein Computerspiel, in dem er die gemeinsamen Expeditionen mit Patricia in der großen Mammut-Höhle von Kentucky festhält. [caption id="attachment_1659566" align="aligncenter" width="620"] Die Mammut-Höhle in Kentucky diente als Inspiration für das erste Textadventure – den Urahnen moderner Computerspiele.(Foto: mauritius images / Danita Delimont / Alamy)[/caption] Das minimalistische Interface von Colossal Cave Adventure beschreibt die Umgebung und wartet dann auf Eingaben des Spielers oder der Spielerin. Es gibt keine Liste festgelegter Kommandos. Was man tun kann, wie man Gegenstände verwendet und sie gegebenenfalls miteinander kombiniert, findet man nur durch Experimente heraus. Crowther veröffentlichte das Spiel 1975 auf dem BBN-Computer, und über das Arpanet verbreitete es sich schnell weiter. Es geht los mit "Pen and Paper"-Rollenspielen Die Spielmechanik von Adventure war keine komplett neue Erfindung. Denn Crowther war nicht nur Programmierer und Höhlenforscher, sondern hatte in seiner Studienzeit auch begeistert Dungeons and Dragons gespielt. „Pen and Paper“-Rollenspiele wie Dungeons and Dragons sind so etwas wie die Urformen von Computerspielen. In diesen Spielen gibt es allerdings eine menschliche Spielleitung, die das tut, was später die Software übernehmen sollte: den Spielenden am Tisch zu sagen, wo sie sich gerade befinden und was aus ihren Handlungen folgt. Die Grundlage für solch ein Abenteuer ist ein sogenanntes Modul, das nur der „Dungeon Master“ kennt – ein schmales Heft, in dem das Szenario, die Raumpläne und alle Gegner:innen beschrieben werden. Je nachdem, wie die Spielenden agieren, wählt der Spielleiter oder die Spielleiterin aus verschiedenen alternativen Handlungssträngen, die das Modul vorsieht, die passende aus. Inspiriert von Adventure schuf ein Team junger Entwickler am MIT 1979 eine erweiterte Version des Spiels, ergänzt durch Fantasy-Elemente wie grimmige Zwerge und gefährliche, goldgierige Drachen: Zork. Der Name des Spiels ist übrigens ein reines Nonsenswort, das ursprünglich nur als Platzhalter für einen richtigen Titel dienen sollte. Das Team übertrug den Code 1980 auf die ersten Kleincomputer und gründete mit Infocom ein erfolgreiches Game-Studio, das 1986 von Activision gekauft wurde. [caption id="attachment_1659567" align="aligncenter" width="620"] Collosal Cave Adventure auf einem VT-100-Terminal. Da die damaligen Computerterminals nicht grafikfähig waren, lief alles über Text.(Foto: Autopilot / Wikipedia, CC-BY 4.0)[/caption] Bei diesen frühen Spielen gab es allerdings noch keine Interaktion mit anderen von Menschen gesteuerten Charakteren. Für die sorgten 1978 die Studenten Richard Bartle und Roy Trubshaw von der University of Essex. Sie entwickelten ein Spiel, das zwar äußerlich wie die bisherigen Textadventures daherkam, in das sich aber mehrere Spieler:innen über das Internet gleichzeitig einloggen konnten – daher nannten sie ihre Schöpfung Multi-User Dungeon 1 (MUD 1). Das Spiel ist wie seine Vorgänger eine Art Irrgarten mit Fallen und Monstern. Wer sich einloggt, wird begrüßt mit: „Dieses gemütliche Tudor-Zimmer ist der Ausgangspunkt für alle Abenteuer der British Legends. Die freiliegenden Eichenbalken und die weichen, mit Samt bezogenen Möbel bieten die ideale Atmosphäre, um sich zu entspannen, bevor man sich in dieses fremde, zeitlose Reich begibt … Es gibt Ausgänge in alle Richtungen, von denen jeder in einen wabernden, magischen Nebel mit offensichtlich teleportativen Eigenschaften führt …“ Alles beginnt harmlos, wird aber im Laufe der Zeit schnell unheimlicher. Wer wissen will, wie die Geschichte weitergeht, kann es immer noch online spielen unter www.british-legends.com. Spiel mit Identitäten Mit der Interaktion boten MUDs den Userinnen und Usern nicht nur eine neue, zusätzliche Dimension des Spielerlebnisses; plötzlich konnten sie sich zusammentun oder auch gegeneinander kämpfen. Die Spielenden konnten nun auch in Gruppen anderer Menschen Identitäten ausprobieren und mit Rollen spielen – andere Geschlechter annehmen oder zu Fantasiewesen werden. Zudem boten MUDs zum ersten Mal echte Persistenz: Das Spiel hörte nicht auf, wenn man sich ausloggte. Im höchsten Level schließlich, als „Wizards“, konnten Spielende sogar das Spiel selbst verändern, eigene Räume schaffen, Objekte hinzufügen und eigene Missionen für Spieler:innen erstellen. [caption id="attachment_1659568" align="aligncenter" width="620"] Roy Trubshaw von der University of Essex arbeitet am ersten Multi-User-Computerspiel der Welt: dem MUD 1.(Foto: Richard Bartle)[/caption] Durch diese neuen Möglichkeiten bildeten sich schnell Communities mit Feindschaften, Freundschaften und Beziehungen, Klatsch und Tratsch und Politik. Es gab leidenschaftliche Diskussionen über die ethische Bewertung virtueller Gewalt, den Ausschluss von Charakteren, die wiederholt gegen die Normen der virtuellen Gesellschaft verstießen, und den verantwortungsvollen Umgang mit nicht-menschlichen Charakteren (NPCs). All das lange vor World of Warcraft oder dem Metaverse – ohne Grafik, nur auf der Basis von Texten. Die Soziologin Sherry Turkle, die die Psychologie und Kultur der Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen untersuchte, schrieb 1994: „In den textbasierten virtuellen Realitäten, die heute bereits existieren, erkunden, konstruieren und rekonstruieren Menschen ihre Identität. Das tun sie in einer Umgebung, die von einem postmodernen Ethos getragen wird, das den Wert multipler Identitäten und des spielerischen Ausdrucks von Aspekten des Selbst betont. (…) Sie haben Gemeinschaften geformt, die privilegiert sind, über die sozialen, kulturellen und ethischen Probleme nachzudenken, die entstehen, wenn wir in programmierten Welten leben.“ [crosslinks ids="1658250,1657278,1648764"] Entwickler von Textadventures entdecken KI für sich Zwar gibt es immer noch MUDs und textbasierte Computerspiele. Doch neben Spielen mit immer aufwendigerer Computergrafik und auf Action getrimmten Risiken sowie komplexen Fantasiewelten existieren sie nur noch in einer winzigen Nische. Es ist jedoch kein Zufall, dass zu den ersten, die die neuen Möglichkeiten großer Sprachmodelle für Games erkannten, die Entwickler:innen eines neuen Textadventures gehörten. Bei AI Dungeon übernahm eine KI die Rolle des Dungeon-Masters. Sie startet von einem Basisszenario und entwickelt die Geschichte nach den Vorgaben der Userin oder des Users ständig weiter. Allerdings hatten weder die Entwickler:innen noch OpenAI damit gerechnet, dass für manche Fans der Reiz eines solchen Spiels darin liegen könnte, die KI dazu zu bringen, besonders bizarre Szenarien zu entwerfen – voller Sex und Gewalt. Nachdem OpenAI zwischenzeitlich den Zugang komplett gesperrt hatte, nutzt AI Dungeon nun eine gefilterte Version von GPT-3.5. Parallel hat das Unternehmen eigene Sprachmodelle entwickelt. Woran es bei KI-gesteuerten Charakteren hapert Doch der Verlauf solcher KI-generierten Spiele ist oft inkonsistent, das Verhalten der KI-gesteuerten Charaktere unvorhersehbar. Verschiedene Forschungsgruppen experimentieren daher mit autonomen KI-Agenten, die frei in dem Spielszenario agieren. Diese Interaktion treibt die Geschichte voran und bestimmt die Richtung – die Zwerge können sich mit unzufriedenen Bauern zusammentun, um den Prinzen zu töten, oder sie schürfen brav weiter nach Gold. Auch diese Agenten werden von Sprachmodellen gesteuert, die sich gewissermaßen die Geschichte in verschiedenen Rollen gegenseitig erzählen. Um zu verhindern, dass die Charaktere untypisch handeln, bekommen sie über den Prompt Kontextinformationen zu übergeordneten Zielen und Motiven ihres Spielcharakters. Erste Forschungsarbeiten dazu zeigen das Potenzial dieses Ansatzes. Allerdings sind die Szenarien noch immer nicht sonderlich komplex, da die Sprachmodelle nur begrenzten Kontext verarbeiten können. Vor allem aber zeigen sie: Hübsche Grafik und die Spielmechanik sind nur die Kirschen auf der Sahne. Der Kern eines guten Spiels bleibt die erzählte Geschichte. Wird die lebendig und dynamisch, entwickelt sich ein völlig neues Spielerlebnis.