Mehr Freiheit für Twitter: Markus Beckedahl über Alternativen zum blauen Vogel
Wenn ich mich zwischen Facebook und Twitter entscheiden müsste, würde meine Wahl auf den Kurznachrichtendienst fallen. Ich kann mir schwer ein Arbeitsleben ohne Twitter vorstellen. Wenn ich morgens aufstehe und das Smartphone in die Hand nehme, schaue ich erst einmal, was bei Twitter passiert ist.
Der Kurznachrichtendienst feierte im Frühling seinen zehnten Geburtstag, fast ebenso lange begleitet er auch mich. Bei unserer ersten re:publica 2007 konnte Twitter nicht nur in Deutschland einen ersten Durchbruch verbuchen, sondern auch bei mir. Seitdem ist der blaue Vogel fest in meinem Onlineleben verwurzelt.
Was ich im Gegensatz zu Anbietern wie Facebook schätze: Dass ich alles in einer Timeline chronologisch lesen kann, es aber nicht muss. Niemand filtert intransparent für mich vor. Und dank Hashtags sowie Tools wie Tweetdeck habe ich zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren und von Informationen überschwemmt zu werden. Gleichzeitig hat Twitter mich gelehrt, zuzuspitzen und das Wesentliche in 140 Zeichen rüberzubringen.
Wenn es Twitter nicht gäbe, müsste man es erfinden. Nur anders.
Sowohl das fehlende Geschäftsmodell als auch die Monopolstellung des Konzerns stellen eine Gefahr dar. Als Dauer-Übernahmekandidat mit Dauer-Minusgeschäften weiß niemand, ob die Plattform nächstes Jahr noch existiert. Oder ob sie noch so funktioniert, wie wir Heavy User der ersten Stunde sie kennen und lieben gelernt haben.
Gleichzeitig mache ich mich als Journalist von einer US-Plattform abhängig, deren Allgemeine Geschäftsbedingungen ich nie wirklich gelesen habe. So sehr ich Twitter auch schätze: Ich hoffe eigentlich jeden Tag, dass irgendwann eine Infrastruktur bereit steht, die mir denselben Service wie Twitter bietet, dafür aber vertrauenswürdiger ist.
Eine Alternative sollte frei von kommerziellen Interessen und damit auch frei vom Druck durch die Shareholder sein. Bei Twitter ist das derzeit nicht der Fall. Der Kurznachrichtendienst weiß, wo wir mit unserem Smartphone waren und kann aus diesen Daten sogar prognostizieren, wohin wir morgen gehen. Er weiß, wofür wir uns interessieren, wie unsere Netzwerke aussehen, worauf wir wann klicken. Der Anspruch: uns so genau wie möglich zu kennen, um uns gebündelt als Zielgruppe an werbetreibende Unternehmen verkaufen zu können.
Dank Edward Snowden wissen wir, dass es mit dem Einfluss von Werbekunden nicht aufhört: Die NSA und andere Geheimdienste haben einen Direktzugriff auf die Datenbanken der großen US-Firmen – und zu denen gehört auch Twitter. Was der Kurznachrichtendienst weiß, weiß also theoretisch auch die NSA.
Aber was wäre die Alternative? Als geschäftliches Vorbild könnte Wikipedia dienen: Das Onlinelexikon wird von der Wikimedia Foundation betrieben, die sich wiederum vor allem durch Spenden finanziert. Statt dem Druck der Shareholder wäre Twitter dann allein der Allgemeinheit verpflichtet.
Früher war Twitter zudem sehr offen, ein API bot viel Flexibilität und Innovationsraum für externe Entwickler. Das ist heute nicht mehr so. Der Kurznachrichtendienst muss sich wieder stärker öffnen. Vorbild kann hier das Mailsystem sein: So wie man seinen eigenen Mailserver aufsetzen, aber auch Dienstleister beauftragen kann, müsste es auch bei Twitter sein. Über ein offenes Protokoll könnte man dann zu jedem Account weltweit Kontakt aufnehmen. Was utopisch klingt, wird heute schon von alternativen sozialen Netzwerken wie Diaspora, pump.io oder gnusocial ausprobiert.
Dass ich trotz dieser Alternativen Twitter treu bleibe, liegt daran, dass die bisherigen Konkurrenz-Ansätze einfach nicht annähernd so gut sind. Sie haben das Problem, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass alles wirklich in Echtzeit stattfindet.
Und vor allem besteht ein Henne-Ei-Problem: Kaum jemand nutzt die Plattformen, also sind sie auch nicht relevant. Der große Vorteil von Twitter besteht ja nicht nur in der Echtzeit-Kommunikation, sondern auch in der Größe: Auf der Plattform tummeln sich sehr viele wichtige Menschen und Medien. Das ist für mich als Sender wichtig: In der Regel kann ich mich darauf verlassen, dass ein Tweet theoretisch innerhalb von Sekunden bei meinen 250.000 Followern ankommt, bei Privatleuten, Politikern, Journalisten.
Auch wenn er in der Praxis meistens nur fünf Prozent meiner Follower erreicht, hat er damit eine Dynamik, die andere Plattformen (noch) nicht bieten können.