Warum wir durch KI, Bots und Algorithmen eigentlich gar keine Zeit sparen
Automatisierung und Effizienzsteigerung begleiten die Menschheitsgeschichte seit Jahrmillionen. Unter dem Deckmantel der Effizienzsteigerung verbringen Menschen einen Großteil ihres Lebens mit dem Versuch, Zeit zu sparen. Messungen an mir selbst suggerieren, dass wir ungefähr die Hälfte der Zeit, in der wir nicht schlafen, mit der Suche nach Zeitsparpotenzialen verbringen. Fast jedes Werkzeug, das der Mensch erfunden hat, vom Faustkeil zum Messer, vom Rad zum Automobil, vom Pergament zum Smartphone, diente der Hoffnung, mehr Zeit zur Verfügung zu haben, um andere Dinge zu machen.
Das Problem mit Effizienzsteigerungen, Automatisierungen, effektiven Werkzeugen oder bahnbrechenden neuen Technologien ist, dass wir die Mühe, die Aufwände, die wir vor der Erfindung eines neuen Effizienzsteigerungsdings hatten, kurz nach erfolgreicher Implementierung vergessen. Wir gewöhnen uns so schnell an Verbesserungen, dass uns selbst eine Steigerung der Effizienz um 100 Prozent kurze Zeit später stark verbesserungswürdig vorkommt.
Selbst in unseren pfeilschnellen, perfekt gefederten und klimatisierten Automobilen fühlen wir uns nach fünf Stunden Fahrt und anderthalb Stunden Stau wie nach einer zweitägigen, ungefederten Postkutschenfahrt. Wir regen uns über Leute auf, durch die wir auf der Autobahn ein paar Kilometer lang nur 120 statt 160 Kilometer pro Stunde fahren können. Wir vergleichen Effizienz, Komfort oder allgemeine Machbarkeit nie mit dem vorherigen Zustand, sondern stets mit irgendeinem idealisierten Optimalwert.
Statt uns zu freuen, dass wir weder Kohlen schleppen noch anzünden müssen, sondern dass sich die Heizung automatisch zum richtigen Zeitpunkt selbst zündet, sitzen wir, optimal temperiert, auf dem Sofa und überlegen, wie man das effizienter machen könnte: Vielleicht die Heizung per App regeln?
Auch wenn uns moderne Transporttechnologien immer schneller von A nach B bringen, die Nettozeit, die wir mit dem Reisen verbringen, dürfte sich in den vergangenen Jahrhunderten wenig verändert haben. Weil wir schneller reisen, können wir weitere Strecken zurücklegen. Wir haben mehr Zeit, andere Orte zu besuchen, und nutzen die auch. Weil sich immer mehr Menschen Reisen leisten können, reduziert sich die gewonnene Zeit in Staus und Warteschlangen.
Eigentlich können wir gar keine Zeit sparen. Intuitiv, aus Erfahrung, wissen wir das. Irgendwas, irgendwer verbraucht die hinzugewonnene Zeit gleich wieder.
Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Fortschrittsdruck, das dauernde Hinarbeiten auf Optimierungen und Automatisierungen, die permanente Hoffnung auf bessere und schnellere Zustände (auch) ein Grund für unsere allgemeine Unzufriedenheit ist. Möglicherweise spüren wir Überfluss an Zeit und Zufriedenheit erst dann, wenn wir uns mit den Unzulänglichkeiten und Umständlichkeiten des Lebens abfinden und aufhören, immer Zeit sparen zu wollen.
Noch besser ist es aber vielleicht, wenn wir diese Ambiguität tolerieren und einfach zugeben, dass es uns Spaß macht, Zeit zu sparen, Routinearbeiten zu automatisieren, Details zu optimieren. Die Vermutung liegt nahe, dass der Drang zum Optimieren und Automatisieren in unserer Natur liegt und einer der Hauptantriebsmotoren für technischen (und gesellschaftlichen) Fortschritt ist. Immerhin erlaubt uns dieser Fortschritt, unsere Zeit so zu verschwenden, wie wir es gerne wollen – und nicht so, wie es die Umstände erzwingen.
Statt in der Heimat im Stau zu stehen, gewinnen wir die Möglichkeit, in New York im Stau zu stehen oder dort im Aldi-Süd-Ableger Trader Joe’s in der Kassenschlange zu stehen. Statt drei Tage mit der Postkutsche von Hamburg nach Berlin zu reisen, können wir uns nach acht Stunden Flughafenanfahrt, Sicherheitskontrollen, Boarding und Unboarding, Bus und Fährenfahrten immer noch anderthalb Tage mit tausenden anderen Touristen durch die Gassen von Venedig zwängen.
Möglicherweise dient der Fortschritt gar nicht dem Fortschritt, sondern lediglich der Umschichtung. Automatisierung spart keine Zeit, sondern verteilt sie einfach anders. Solange wir es aber schaffen, den Weg als das Ziel zu betrachten, ist das vielleicht sogar eine freudige Erkenntnis. Anders gesagt: Seit ich mich intensiver mit Automatisierung beschäftige, verstehe ich diesen Satz von Albert Camus endlich: Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.