Videospiele und Veränderung: Wieso ihr den Magic Circle kennen solltet

Wer etwas verändern will, braucht neue Regeln. Und nirgends kann man neue Regeln so gut austesten und brechen wie im Spiel. Christian Stein ist Informatiker und Spieleforscher und erklärt, was es mit dem Magic Circle des Spiels auf sich hat. t3n: Seit Jahren reden wir nun schon über Gamification – doch scheint der Begriff immer schwammiger zu werden. Was ist denn der Kern der Gamification? Christian Stein: Im Spiel sind wir motiviert ohne eine extrinsische Motivation: Wir brauchen keine Belohnung, um spielend Höchstleistung zu geben. Wir sind konzentriert, denken strategisch, tauschen uns mit den Mitspielenden aus – alles intrinsisch motiviert, also aus uns selbst heraus. Dieses Moment wird in der Gamification genutzt, um über das Spiel hinaus einen Zweck zu erfüllen. Dabei trifft die Nicht-Spielewelt des Arbeitsplatzes auf den Magic Circle des Spiels. t3n: Magic Circle? Was bedeutet das? Dieser Begriff kommt aus der Spieleforschung. Der Magic Circle ist der Bereich, in dem die Regeln des Spiels gelten. Innerhalb dieses Circle haben die Spielenden einen Raum der Freiheit. Sie können neue Rollen ausprobieren, neue Beziehungen eingehen, können die Regeln befolgen oder brechen – ohne dabei Konsequenzen außerhalb des Magic Circle befürchten zu müssen. t3n: Am Arbeitsplatz müssen wir ja nun aber doch Konsequenzen befürchten, wenn wir Regeln brechen. Und eigentlich geht es in der Gamification der Arbeit ja immer nur um Produktionssteigerung – ist es nicht fast zynisch, hier von einem Spiel zu sprechen? Die entscheidende Frage muss immer sein: Wem nützt die Gamification? Wo Spielelemente nur benutzt werden, um Kontrollmaßnahmen bunt anzumalen, ist das ein Missbrauch der Technologie. Dann geht es nicht darum, die intrinsische Motivation zu erhöhen und ein interessantes Erlebnis zu kreieren, sondern mehr Geld aus den Menschen zu pressen. t3n: Nun leben wir in einer Gegenwart, in der sich nicht nur die Arbeitswelt rasend schnell verändert. Kann Spielen helfen, besser mit Veränderung umzugehen? Spiele sind die ideale Umgebung, um sich auf Veränderung vorzubereiten. Sie begleiten uns seit unserer Kindheit, wir wurden damit sozialisiert. Und die Erfahrungen, die wir im Spiel gemacht haben, nehmen wir mit in unser Leben. Das funktioniert auch im Erwachsenenalter noch. Denn eigentlich sind Spiele – egal ob nun Brettspiele, Videospiele oder frei erdachte Spiele – ja nichts anderes als die Simulation von Veränderung. [caption id="attachment_253079" align="alignnone" width="620"] Im Gamelab Berlin, das zur Humboldt-Universität gehört, beschäftigt sich Christian Stein mit den Chancen der Gamification. (Abbildung: Matters of Activity)[/caption] t3n: Wie meinen Sie das? Im Spiel werden wir in andere Welten hineingeworfen. Mit neuen Regeln, die wir kennenlernen und anwenden müssen. Dafür braucht es eine gewisse mentale Flexibilität. Besonders in Videospielen können wir so auch einen Feedback-Cycle austesten: Wir agieren im Spielen und das Spiel reagiert auf uns. Jeder Input hat auch einen Output – und jeder Input von uns verändert etwas im Spiel. Ich drücke einen Knopf und die Spielfigur springt. Oder ich baue eine Straße und der Verkehr fließt flüssiger. So kann das Spielen auch einen Trainingseffekt haben: Je öfter wir spielen, desto flexibler reagieren wir auf neue Gegebenheiten. Und das alles in einer viel höheren Geschwindigkeit als außerhalb des Spiels. t3n: Ist Geschwindigkeit wichtig? Nehmen wir den Klimawandel als Beispiel. In unserem Alltag bemerken wir Veränderungen oft nur sehr langsam – wenn überhaupt. Im Spiel aber kann Wandel beschleunigt werden. Die Auswirkungen sind dann direkt spürbar – wenn auch nur im Magic Circle. Aber wir können auch mögliche Veränderungen durch uns schneller spüren. Es kann deutlich werden, dass der Klimawandel stattfindet, er aber auch veränderbar ist, wenn wir die richtigen Schritte gehen. [crosslinks ids="252948,252896,252730"] t3n: Lässt sich diese Bereitschaft für und Freude an Veränderung denn einfach so auf die sogenannte Realität übertragen? Zum Beispiel im Berufsleben, wo eben meist alles regelkonform gehen muss. Der Eintritt in und der Austritt aus dem Spiel sind hier das Entscheidende. Wenn etwa Mitarbeitende in einem spielerischen Kontext lernen sollen, muss die Grenze zwischen Spiel und Arbeit sorgsam gestaltet werden. Im Spiel können sie Freiheit erleben, ausprobieren – auch den Effekt ihres Handelns erleben. Davor und danach gelten aber die alltäglichen Regeln. Und es geht auch nicht, das im Spiel gemeinschaftlich Erschaffene eins zu eins zu übertragen in das Nicht-Spiel. Aber das Gefühl, dass mein Handeln einen Effekt hat, muss es rausschaffen aus dem Magic Circle. Gerade dann, wenn es um Veränderungsprozesse geht. t3n: Wie kann der Einsatz von Gamification im Umgang mit Veränderung denn konkret aussehen? Haben Sie ein Beispiel? Wir arbeiten gerade an einem Projekt, das sich an Paare richtet, die in hochstrittigen Situationen sind. Kommunikation ist kaum noch möglich, selbst psychologische Hilfe hilft nur bedingt. Es ist zu viel Wut da. Wir setzen die Personen in zwei Räume und sie können zunächst nur Textbausteine nutzen, um miteinander zu kommunizieren. Die Einschränkung ist hier das Spiel. Sicherlich wollen diese wütenden Menschen eigentlich was anderes sagen – aber sie sind gezwungen, eine der ihnen gebotenen Optionen zu wählen. Allmählich werden aber mehr Möglichkeiten freigeschaltet, sodass die Kommunikation komplexer wird. Zwischendurch müssen die Paare beispielsweise Rätsel zusammen lösen, also gemeinsam im Spiel eine Lösung finden. t3n: Und so nähern sich die Parteien wieder an? Über mehrere Sitzungen laufend soll so erst mal eine Veränderung in der Kommunikation herbeigeführt werden. Ein Bewusstsein dafür, dass ein Austausch und sogar eine Zusammenarbeit trotz aller Differenzen möglich ist. Und wenn man so auf die Probleme unserer Zeit blickt, hapert es oft genau daran. Veränderung funktioniert nur durch möglichst spielerische Zusammenarbeit.