Das Dilemma hinter Online-Bewertungen: „Will ich ehrlich oder gut sein?“

Online-Bewertungen sind Fluch und Segen zugleich. Eigentlich zur Orientierung gedacht, lösen sie bei unserer Kolumnistin ein Dilemma aus. Will sie ehrlich oder ein guter Mensch sein? Als ich diese Kolumne zum Thema „Fluch und Segen von Onlinebewertungen“ angekündigt habe, rührte das ursprünglich von meinem vergeblichen Versuch, anhand von Bewertungen ein Schlagzeug zu kaufen. Jetzt, wo ich den Text schreibe, sitze ich allerdings in einem Airbnb in Georgien und habe ein ganz anderes Problem. Vor einem Monat dachte ich noch: ich Glückspilz. Da habe ich eine Unterkunft für einen ganzen Monat gesucht und noch relativ last minute eine 5-Sterne-Unterkunft gefunden. 5 von 5! Nicht 4,73, nicht 4,98. Das muss man erst mal schaffen bei 108 Bewertungen. Streng genommen fast schon ein bisschen verdächtig, oder? Nun sitze ich hier also an Tag vier in meinem offenbar tadellosen Heim und fühle es einfach nicht. Keine 5 von 5, zumindest für mich nicht. Und ich frage mich: Bin ich jetzt die Erste, die dem vermeintlichen Idyll ein Ende setzt, wenn ich die ganze Bewertungsskala ausschöpfe? Fünf Sterne oder einer – dazwischen lange nichts Genau hier liegt doch der Hase im Pfeffer. Schon von den Uninoten kennt man das: Eine schlechte Note ist nicht etwa eine 3,6. Stattdessen gilt eine 2,3 schon als wirklich mies. Bei einer 3,6 hat der Professor schon ein persönliches Problem mit dir. [crosslinks ids= "1671463,1620940,1637096"] Oder man denke an Booking.com: Wer in einem Hotel mit einer 7,3 übernachtet, hat meines Erachtens die Kontrolle über sein Leben verloren. 7,3 – das ist im besten Fall nur Schimmel, vermutlich aber irgendwas zwischen nächtlichen Besuchen vom Hotel-Creep und Bettwanzen. Bewertungen bestehen oft zu mehr als 90 Prozent (komplett ausgedachte Zahl, aber meine Schätzrate ist üblicherweise zu 90 Prozent (ebenfalls ausgedacht) korrekt) aus 5-Sterne- und 1-Sterne-Bewertungen. Das führt zu zwei Problemen. Erstens: gefälschte 5-Sterne-Bewertungen. Es ist schwierig, herauszufiltern, welche echt sind. Zweitens: Eine Sache stimmt nicht, und das Produkt oder die Dienstleistung erhält sofort nur einen Stern. Die Kunst ist es also, sich ein Bild aus den 1-Sterne-Bewertungen zu machen und diese neu zu bewerten. Wer hatte hier ein ernst zu nehmendes Problem (Holzwürmer, die nachts von der Decke aufs Bett fallen) und wer ist einfach ein Idiot (kein Fernseher in einer Hütte im peruanischen Regenwald) und letztlich: Wer hat’s mal wieder nicht gerafft, im Verhältnis zu bewerten. Online-Rezensionen: Es geht ums Verhältnis Wer eine Zwei-Euro-Luftmatratze kauft, die nach dem dritten Mal kaputtgeht, muss doch mindestens 4 Sterne geben. Für zwei Euro war ja eigentlich maximal eine Anwendung zu erwarten. Dreimal würde bei mir vermutlich sogar stabile 5 bekommen. Wer dagegen eine Matratze für 30 Euro kauft, hat jedes Recht, einen Stern zu vergeben. Bei Unterkünften sieht man das oft bei der Bewertung zur Lage. Wie kommt da bitte eine 2 von 10 zustande? Ja, Franzi, dann buch halt nichts im Naturschutzgebiet, wenn du Party machen willst. Die Frage müsste ja vielmehr sein: War die Unterkunft an der angegebenen Stelle? Stimmten die verdammten Koordinaten? Aber kommen wir zurück zu meinem Dilemma. Was mache ich jetzt mit Giorgio, meinem Airbnb-Host? Denn seien wir ehrlich, bei 108 Bewertungen waren sicher nicht alle mit allem zu 100 Prozent zufrieden. Doch sie wissen, dass nur die volle Punktzahl ihre Wertschätzung für den Gastgeber ausdrückt. Zumindest in dieser Hinsicht ist das System zuverlässig. Mein Gastgeber muss erstklassig gewesen sein oder ein Meister des Guilt-Trippings. Wobei Letzteres ja schon vom System an sich vorgegeben wird. Guilt-Tripping und Granatäpfel Wir alle wissen, dass wir Existenzen mit unseren Bewertungen zerstören können. Und hier funktioniert auch die Broken-Windows-Theorie: Kleine Anzeichen von Unordnung wie zerbrochene Fenster führen zu mehr Kriminalität, weil sie ein Gefühl von Vernachlässigung vermitteln und weitere Straftaten begünstigen. Bei Bewertungen bedeutet das: Wenn ich jetzt das erste Fenster einschmeiße, fühlt sich bald der Nächste okay damit, die Dinge zu benennen, die ihm nicht gefallen haben. Und schon bald hat mein lieber Gastgeber nur noch 4,93 Sterne – gerade noch okay. Will ich also ehrlich oder gut sein? Während ich dies schreibe, kommt Giorgio mit Granatäpfeln für mich um die Ecke. Egal, 5 von 5. Denn ich will definitiv Granatäpfel.