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MIT Technology Review Interview

Bahnfahren: „Die EU weiß nicht einmal genau, wo die Probleme überhaupt liegen“

Seit 2022 untersucht Jon Worth im Selbstversuch, wo es im europäischen Bahnsystem hakt und wie es sich verbessern ließe. Seine Erkenntnisse interessieren inzwischen auch die EU.

6 Min.
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Jon Worth überquert an manchen Tagen zehn EU-Binnengrenzen mit Zügen. (Foto: The NewYorkTimes/Redux/laif)

Der gebürtige Waliser Jon Worth wohnt im ländlichen Frankreich und arbeitet als Aktivist, Journalist, Blogger, Dozent und Experte für Europapolitik. Seit über zehn Jahren fährt er möglichst zu allen Terminen mit der Bahn – und sammelte reichlich frustrierende Erlebnisse. Mit der crowd-finanzierten Kampagne #CrossBorderRail will er die Probleme nun systematisch dokumentieren. 2022 überquerte er alle europäischen Grenzen mit der Bahn, und seitdem hat er seine Arbeit unvermindert fortgesetzt. Mit dabei ist meist ein „Birdy“-Faltrad, nahezu baugleich mit dem Birdy des Interviewers. Das verbindet und führt gleich zum „Du“.

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Dieses Interview ist zuerst in der Ausgabe 5/2023 von MIT Technology Review erschienen. Darin beleuchten wir die Frage, wie wir die Vielfalt im Verkehr erreichen können. Das Interview wurde auf den heutigen Stand aktualisiert.Hier könnt ihr die TR 5/2023 als pdf bestellen.

MIT Technology Review (TR): Über wie viele Grenzen bist du bisher gefahren?

Jon Worth: Seit dem Sommer 2022 habe ich insgesamt 288 internationale Bahnstrecken in Europa besucht. Irgendwann im Jahr 2025 werde ich es wahrscheinlich auf etwa 350 schaffen. Aber wenn man stillgelegte Strecken und Straßenbahnen mit einbezieht, gibt es in Europa fast 500 internationale Bahnstrecken – ich habe also noch einiges zu tun! Und ja, ich habe sie alle kartiert!

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TR: Warum machst du das?

Worth: Wir müssten alle wegen des Klimawandels mehr Bahn fahren und weniger fliegen. Die Frage ist: Wie tun wir das? Ich versuche zu zeigen, wo man mit wenig Aufwand viel verbessern kann.

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Vorbildliche Bahnen in Grenzregionen

TR: Wo läuft es schon gut?

Worth: Zum Beispiel zwischen Kopenhagen und Malmö. Da fährt alle 20 Minuten ein Zug. Die Leute haben das in ihren Alltag integriert. Viele wohnen auf der schwedischen Seite und arbeiten auf der dänischen. Ich habe sogar jemanden getroffen, der zum Zahnarzt nach Schweden gefahren ist. Es gibt nur wenige vergleichbare Regionen, etwa den Großraum Basel oder Genf. Oder zwischen Enschede in den Niederlanden und Gronau in Deutschland. Auch dort gibt es ganz viele Grenzpendler. Der Takt ist wie bei einer regulären Regionalbahn, der Zug verkehrt bis sehr spät abends. Generell funktioniert es auch zwischen Deutschland und Tschechien, Österreich und der Schweiz gut.

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TR: Und wo hakt es?

Worth: In manchen Orten ist es schwierig, irgendetwas zu verbessern, weil beispielsweise eine Brücke fehlt oder dort zu wenig Leute wohnen, die eine Verbindung nutzen könnten. Aber es gibt auch eine Reihe von Orten, wo wir zwar eine Strecke haben, aber kaum etwas verkehrt. Etwa beim französischen Lauterbourg. Dort fährt ein Zug im Stundentakt nach Wörth am Rhein. Aber von Lauterbourg nach Straßburg gehen nur neun Züge am Tag, das kann man für das alltägliche Pendeln nicht wirklich brauchen.

TR: Also fehlt es nicht an technischen Voraussetzungen, sondern am Willen, diese auszunutzen …

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Worth: Genau, etwa an der Fahrplankoordination oder den Echtzeit-Informationen. Oder ob man eine durchgehende Fahrkarte buchen kann. Für den Zug von Saarbrücken nach Straßburg etwa kann man ein Ticket online kaufen, aber dann muss man zu einem französischen Fahrkartenautomaten gehen, um es auszudrucken. In Saarbrücken gibt es die nicht. Solche blöden Situationen tauchen sehr regelmäßig auf.

Die Aufklärung des Mobilitätsaktivisten Jon Worth zeigt Wirkung

TR: Gibt es bestimmte Probleme, die typisch für bestimmte Ländergrenzen sind?

Worth: Schwierig ist es mit Frankreich und zum Teil auch mit Belgien. Zwischen Brüssel und Lille verkehren heute beispielsweise weniger TGVs als noch vor einem Jahrzehnt. Aber die gute Nachricht ist, dass einige der Probleme bei der Koordination des Fahrplans an den Grenzen – wie an der französisch-italienischen Grenze bei Ventimiglia und an der estnisch-lettischen Grenze bei Valga – behoben wurden, seit ich meine Arbeit aufgenommen habe. Das ist schön zu sehen! Aber diese Art von Problemen erkennt man ziemlich schnell, wenn man vor Ort recherchiert.

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Meist mit dabei auf Jon Worths Zugreisen: ein rotes Faltrad. (Foto: Jon Worth)

TR: Wer wäre dafür zuständig?

Worth: Bevor man über eine Kooperation zwischen den Bahnfirmen sprechen kann, braucht man eine politische Einigung, dass man die Situation vor Ort verbessern will. Die EU fördert hauptsächlich die Infrastruktur, aber nicht den Betrieb. Das bedeutet: Wenn eine Regionalbahn Unterstützung für den Betrieb braucht, muss sie die von Regionen auf beiden Seiten der Grenze bekommen. Zwischen Lettland und Litauen gibt es beispielsweise Streit um einen nur 20 Kilometer langen Streckenabschnitt – das könnte schließlich später im Jahr 2025 gelöst werden. Dabei geht es da nur um ein paar Liter Diesel.

„Fehlender politischer Wille für die Transport- und Verkehrspolitik“

TR: Warum hat sich die EU bisher so wenig für das Thema interessiert?

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Worth: Was mich stört, ist der fehlende politische Wille für die Transport- und Verkehrspolitik. Verkehrskommissar zählt nicht zu den höchstrangigen Posten der Europäischen Kommission. Die vorherige EU-Kommissarin für Verkehr, Adina Vălean, kümmerte sich herzlich wenig um diese Themen. Ihr Nachfolger Apostolos Tzitzikostas scheint entschlossener zu sein, sodass es ein wenig Hoffnung gibt.

TR: Was waren die Reaktionen auf deine Arbeit?

Worth: Wenn ich meine Schlussfolgerungen in Brüssel vorstelle, ist die deprimierende Erkenntnis, dass die EU meist nicht einmal genau weiß, wo die Probleme überhaupt liegen. Dann heißt es oft: Wie kann es sein, dass ein Blogger mit einem Crowd-finanzierten Projekt den EU-Institutionen erklären muss, wo etwas funktioniert und wo nicht? Wir brauchen eine Art Crossborder-Rail-Index, damit man weiß, wo es vorangeht und wo rückwärts.

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TR: Zeigt deine Aufklärungsarbeit schon Wirkung oder bist du eher pessimistisch?

Worth: In den letzten ein, zwei Jahren hat sich ein bisschen was geändert. Erfreulich ist zum Beispiel, dass die EU-Kommission im Jahr 2025 endlich damit beginnen sollte, die Probleme mit grenzüberschreitenden Bahntickets in der EU anzugehen.

„Alles ist dort auf Hochgeschwindigkeitsverkehr ausgerichtet“

TR: Als schlechtes Beispiel tauchte Frankreich jetzt mehrmals auf. Was ist dort anders als in anderen EU-Ländern?

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Worth: Ja. Alles ist dort auf Hochgeschwindigkeitsverkehr ausgerichtet. Man hat den Eindruck, Regionalbahnen interessieren weder den französischen Staat noch den staatlichen Zugbetreiber SNCF. Und die Regionen haben ziemlich wenig Geld für den internationalen Regionalverkehr. In Baden-Württemberg gibt es deutlich mehr Interesse an Verbindungen nach Frankreich als umgekehrt.

Zudem wollen sich Deutsche Bahn und SNCF keine Konkurrenz machen, obwohl die Kooperation auch nicht so richtig gut läuft. Die DB will zum Beispiel mehr Züge in den Süden Frankreichs fahren lassen, aber die SNCF nicht. Der geht es um Profit, also darum, eine möglichst hohe Prozentzahl der Sitze zu füllen. Das führt zu einem kaputten Bahnsystem. Ohne frühe Züge, ohne späte Züge, mit Lücken am Tag. Der Hochgeschwindigkeitsverkehr von Paris nach Brüssel ist zum Beispiel immer voll und irre teuer. Und obwohl die EU eine neue Strecke durch die Pyrenäen für 300 Kilometer pro Stunde ausgebaut hat, fahren nur zwei oder drei Züge am Tag von Paris nach Barcelona. Die Infrastruktur ist gut, aber es verkehren so wenig Züge. Es ist das genaue Gegenteil von Deutschland.

Unterschiede im Regional- und Fernverkehr

TR: In Deutschland schimpfen wir gerne auf die Bahn. Ist also unsere Wahrnehmung, dass in Deutschland alles schlechter ist, doch nicht so zutreffend?

Worth: Im Fernverkehr ist die Situation wirklich sehr schwierig. Ich hatte da schon viele Horrorfahrten. Aber der Regionalverkehr ist in Deutschland weitaus pünktlicher als der Fernverkehr, sagen die Statistiken. Die Fahrpläne sind dicht, die Züge sind modern. Auch der DB Navigator und die Echtzeitdaten sind vergleichsweise gut. Und die meisten Mitarbeiter haben gute Kenntnisse und sind kundenfreundlich. Wie viel Deutschland mit so wenigen Investitionen noch ausrichtet, ist im internationalen Vergleich irgendwie beeindruckend. Im europäischen Vergleich liegt das im oberen Mittelfeld.

TR: In Deutschland gibt es ja die Debatte um eine Trennung von Netz und Fahrbetrieb. Wie siehst du das?

Worth: Im europäischen Vergleich gibt es keine eindeutige Antwort. Es gibt zum Beispiel eine sehr klare Trennung in Spanien. Hat das wirklich geholfen? Ich weiß es nicht. In Österreich gibt es keine besonders strikte Trennung, aber da verkehren andere Betreiber ohne große Probleme auf den Hauptachsen. Ich bin eher für eine Trennung, aber nicht komplett überzeugt. Letztendlich ist entscheidend, wie viel Geld ein Land in seine Schieneninfrastruktur investiert, und Deutschland hat in den letzten zwei Jahrzehnten zu wenig investiert.

TR: Und wer führt für dich dein europäisches Bahn-Ranking an?

Worth: Österreich! Man merkt, dass alles vorankommt: Online-Tickets, Echtzeitdaten, Umbau von Bahnhöfen, neue Züge. Die sagen zum Beispiel: Okay, wir machen keinen riesigen Profit mit unseren internationalen Nachtzügen, aber unsere Kunden mögen sie. Es gibt also ausreichend Bedarf, dass wir sie ohne Verlust betreiben können. Diese Mentalität der ÖBB finde ich gut.

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