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MIT Technology Review Interview

Beschädigte Internet-Datenkabel in der Ostsee: „Die Ummantelung reicht bei Weitem nicht aus“

Unfall oder Sabotage? Die zwei beschädigten Unterseekabel in der Ostsee werfen Fragen nach der Ursache auf. Aber es rückt auch in den Fokus, wie kritische Infrastruktur besser gegen Angriffe gesichert werden kann. Ferdinand Gehringer, Experte für Cybersicherheit, klärt auf.

7 Min.
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Internetkommunikationskabel auf dem Meeresboden. (Bild: JesperG / shutterstock)

Das Seekabel C-Lion1 zwischen Deutschland und Finnland ist am 18. November ausgefallen. Wenige Tage zuvor war bereits ein Datenkabel zwischen Litauen und Schweden beschädigt worden. Im Fall des litauischen Kabels geriet ein chinesischer Frachter in Verdacht, aber die genaue Ursache ist in beiden Fällen noch unbekannt. Ferdinand Gehringer, Referent für Cybersicherheit in der Abteilung Internationale Politik und Sicherheit an der Konrad-Adenauer-Stiftung, spricht im Interview über die Hintergründe.

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MIT Technology Review (TR): Halten Sie eine Sabotage für wahrscheinlich?

Ferdinand Gehringer: Für mich ist das noch nicht klar. Für wahrscheinlich halte ich einen Sabotageakt allerdings vor dem Hintergrund, dass Russland den Ostseeraum in den letzten Jahren extrem genau kartografiert hat. Dass es jetzt diese Kumulation von zwei beschädigten Unterseekabeln in ähnlichen Gewässern gibt, könnte ebenfalls dafürsprechen. Aber gesichert kann ich weder einen Unfall ausschließen noch einen menschlichen Fehler, beispielsweise durch einen mitgeschliffenen Anker. Aber Sabotage natürlich auch nicht.

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Wie das Unterseekabel in der Ostsee zum Schutz ausgestattet ist

TR: Mich überrascht, dass Unterseekabel so einfach beschädigt werden können.

Gehringer: Das liegt vor allen Dingen daran, dass wir den Schutz der Infrastruktur generell noch gar nicht mitgedacht haben. Die Kabel sind ungefähr faustdick, haben eine gewisse Stahlummantelung und darin dann sehr dünne Glasfasern, beim finnischen Kabel waren es 16 Stück. Aber die Ummantelung reicht bei Weitem nicht aus, wenn die Kabel beispielsweise von einem robusten Anker über mehrere Kilometer lang gezogen werden. Dann bricht es irgendwann auf. Künftig müssen wir bei jedem neuen Bauprojekt die Auflagen für eine robustere Ummantelung erhöhen, um die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls zu minimieren. Wenn es dann doch zu einem Schaden kommt, wissen wir schon eher, dass es Sabotage war.

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TR: Wäre ein solches Kabel nicht viel zu schwer? Wäre es nicht einfacher, es einzugraben oder abzudecken?

Gehringer: Das wäre noch aufwendiger. Es gibt Forschung am DLR, die Ummantelung ohne erhebliche Gewichtszunahme robuster zu machen. Man könnten Kabel auch in Regionen verlegen, wo der Schiffsverkehr von vornherein ausgeschlossen oder begrenzt ist, zum Beispiel in Naturschutzgebieten. Solche Überlegungen wurden bisher aber nicht angestellt, die Kabel wurden auf kürzestem Weg verlegt.

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TR: Wenn Sie selbst ein Kabel sabotieren wollten – wie würden Sie vorgehen?

Gehringer: Das kostengünstigste Szenario wäre: Ich schicke einen Schlepper dahin, der lässt seinen Anker fallen und zieht ihn eine ganze Weile mit. Ich weiß ja ungefähr, wo die Kabel liegen. Deutlich aufwendiger wäre es, beispielsweise ein Forschungsschiff zu nehmen, das durch das GUGI-Projekt getarnt ist. Das würde aber mehr der Logik der hybriden Kriegsführung – also die Verschleierung der Akteure – entsprechen.

TR: Was ist das für Projekt?

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Gehringer: Das ist eine Tiefsee-Forschungseinheit des russischen Verteidigungsministeriums, unter der ganz viele Forschungsschiffe zugelassen sind. Sie haben sehr moderne Technik an Bord, mit der sie Unterwasseranlagen scannen können. Wir wissen mittlerweile gesichert, dass viele Schiffe nur vorgeben, wegen der Meeresbiologie den Meeresboden zu kartografieren. Wollte ich eine Leitung sabotieren, würde ich von so einem Schiff ein unbemanntes U-Boot aussetzen und mit den Greifarmen Sprengsätze mit Fernzündern anbringen. Dann fahre ich wieder weg und alles sieht aus, als wäre nichts passiert. Keiner weiß, wann ich wo war. Dazu kommt, dass vor allem bei Forschungsschiffen bisher gewisse Berührungsängste vorherrschten.

Das Tracking von Schiffen

TR: Aber es gibt doch das AIS – das automatische Identifikationssystem für Schiffe. Oder Satellitenbilder. Damit muss man doch nachverfolgen können, welches Schiff zum fraglichen Zeitpunkt in der Nähe war.

Gehringer: Grundsätzlich ist das AIS für den internationalen Schiffsverkehr verpflichtend. Doch einige schalten es aus oder haben eine angebliche Störung. Auch in diesen Fällen können wir die Schiffsbewegungen übrigens zumindest grob nachvollziehen, weil die Schiffe immer im Abstand von vier bis sechs Stunden Wetterdaten senden. Aber ein abgeschaltetes AIS heißt ja noch lange nicht, dass jemand irgendwo Sabotageakte durchgeführt hat.

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TR: Zufällig zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle, und dann war zufällig gerade das AIS gestört – da hat man doch immerhin schon mal einen Verdächtigen.

Gehringer: Das Problem ist: Gerade im Ostseeraum haben wir eine Verschränkung von vielen verschiedenen Gewässern von vielen verschiedenen Ländern, und jedes Land überwacht nur für seinen Teil. Es gibt kein Zentrum, wo alle Daten zusammenfließen, wo sich dann verschiedene Köpfe zusammenstecken und sagen: Jetzt haben wir gerade ein Schiff auf dem Weg von Finnland beobachtet und drei Stunden später ist irgendwo ein Unterseekabel beschädigt. Auch beim verdächtigen chinesischen Schiff haben Forscher:innen und Journalist:innen über Open-Source-Daten wie beispielsweise Vesselfinder die Schiffsbewegungen getrackt.

TR: Warum fühlt sich offenbar niemand verantwortlich?

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Gehringer: Die richtige Aufteilung der Verantwortlichkeit ist noch nicht klar, aber es tut sich was. Wir haben die Rolle der Betreiber, die grundsätzlich für den Schutz der Kabel verantwortlich sind. Die staatliche Verantwortlichkeit ist dabei noch nicht mit der privaten in ein entsprechendes Verhältnis gebracht worden. Jeder Betreiber hat seinen eigenen Einblick in ein ganz kleines Puzzleteil des Lagebilds. Es geht also darum, welche Daten ein Betreiber an die staatlichen Behörden weitergeben sollte und müsste. Dieses gesamte Verantwortlichkeitskonstrukt aus Eigentümern, Betreibern und Staaten irgendwie so auszubalancieren, dass alle mitwirken und jeder seine Rolle hat, das ist gerade erst im Gange. Zudem sind Deutschland und die EU sehr abhängig von Big-Tech-Unternehmen. Praktisch alle neuen Kabel werden von Big-Tech-Unternehmen verlegt, weil die sich es leisten können. Es gibt bisher ganz wenige Kabelprojekte, bei denen wirklich die EU die Hand drauf hat, zum Beispiel die Verbindung zwischen Portugal und Brasilien.

Infrastruktur zu erneuerbaren Energiequellen

TR: Sind Stromkabel zu Offshore-Windparks genauso gefährdet?

Gehringer: Ja, absolut. Russland hat ja eine sehr große Abhängigkeit von fossilen Energieträgern. Also könnte es versuchen, die Verlagerung auf erneuerbare Energien anderswo zu stoppen oder zu verlangsamen, indem es einen Teil der Infrastruktur beschädigt, sodass wir wieder stärker auf fossile Energieträger angewiesen sind – gegebenenfalls auch aus dem Osten.

TR: Wie sieht es im Mittelmeer oder im Atlantik aus? Dort liegen die Kabel deutlich tiefer als in der Ostsee.

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Gehringer: Je tiefer die Kabel liegen, desto geringer das Schädigungspotential. Aber die Wasserfahrzeuge entwickeln sich so weiter, dass sie auch in großen Tiefen Schaden anrichten können. Vor allem vor der Westküste Irlands und vor Marseille landen sehr viele Kabelverbindungen an, die die Basis für Europas Datenverbindung bilden. Eine dortige Sabotage wäre zwar aufwendig, könnte aber für uns deutlich spürbare Verzögerungen oder Unterbrechungen der Datenverbindung bewirken.

TR: Wie können wir uns besser schützen?

Gehringer: Das ist ein Dreiklang: Wir müssen die Infrastruktur robuster machen. Wir müssen Parallelstrukturen aufbauen, zum Beispiel per Satellit. Und wir müssen die Reparaturkapazitäten erhöhen. Bisher haben wir sehr wenig Reparaturschiffe. Im Fall von Finnland lag das Reparaturschiff von Alcatel, dem Hersteller des Kabels, bei Calais. Von dort aus kommt man recht schnell in die Ostsee. Aber stellen Sie sich vor, wir haben einen Schaden vor der US-Küste und das Reparaturschiff ist in Calais, dann dauert es mehrere Wochen bis zum Beginn der Reparatur, und auch die Reparatur selbst dauert noch einmal rund zwei Wochen, weil das Kabel aus dem Wasser gehoben werden muss.

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Ein weiterer Gedanke: Wir müssen präsenter sein, wir müssen den jeweiligen Akteuren zeigen: Wir sind vor Ort, wir haben euch im Blick. Sensoren an den Kabeln könnten beispielsweise ein besseres Lagebild liefern und die Ursache eines Schadens viel schneller aufdecken. Aber wir sind momentan noch nicht auf diesem Trip. Und je weniger wir wissen, desto größer ist die Gefahr, dass etwas komplett falsch interpretiert wird und eskaliert.

Wie ein Sabotageakt an Infrastruktur zu bewerten ist

TR: Wenn ein Staat es gar nicht mehr für nötig hält, seine Sabotageakte zu verbergen – wäre das dann schon eine Vorform der Kriegserklärung? Wie würde der Westen darauf reagieren?

Gehringer: Ja, das wäre es. Aber darauf lassen sich die Staaten bewusst nicht ein, da sie keine unmittelbare militärische Konfrontation wollen. Der große Vorteil der hybriden Kriegsführung aus gegnerischer Sicht ist: Unser System, unsere ganzen Zuständigkeiten, kennen nur Krieg und Frieden. Wir haben nichts für einen Fall, der unterhalb der Schwelle eines gewaltsamen Angriffs liegt. Alles darunter ist quasi Friedenszustand. Das ist eine systemische Schwachstelle, die gegnerische Akteure ausnutzen. Es gibt in Finnland bereits die ersten Diskussionen, ob der Angriff auf maritime kritische Infrastrukturen als Beistandsfall der Nato nach Artikel 5 gelten soll. Die Nato hat noch nicht geschlossen auf diese Diskussion reagiert. Sabotagen könnten ein Versuch Russlands sein, die Beistandsklausel und die Geschlossenheit der Nato zu testen. Betroffen von den aktuellen Kabelschäden sind Schweden, Litauen, Finnland und Deutschland. Das sind alles Nato-Staaten. Wann fangen die an, so etwas wirklich als erheblichen Eingriff zu sehen mit möglichen Konsequenzen? Nicht, dass ich das jetzt für plausibel halten würde, aber diese Diskussionen gibt es.

TR: Na toll.

Gehringer: Ich hoffe, wir können das Interview auch mit einer positiveren Note enden lassen. Ich sehe es zum Beispiel positiv, dass wir mittlerweile merken: Wir sind extrem abhängig von dieser Infrastruktur. Beim aktuellen Fall stelle ich beispielsweise fest, dass sich die Kommunikation der politischen Entscheidungsträger verändert hat. Vor ein paar Monaten hätten sie in so einem Fall, ähnlich wie bei Nordstream 2, noch gesagt: Es gab eine Beschädigung, die Staatsanwaltschaft ermittelt, genaueres wissen wir nicht. Heute versuchen etwa die finnische Außenministerin Elina Valtonen oder der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sofort, einen möglichen Gesamtzusammenhang herzustellen. Das ist ein Fortschritt, weil es zeigt, dass wir mittlerweile um unsere extrem hohe Verletzlichkeit wissen – und das jetzt auch klar kommunizieren.

Ein weiterer Schritt ist, dass die EU-Kommission Empfehlungen für künftige Kabelprojekte gibt, welche Beschaffenheit die Ummantelung haben muss, und die NATO eine Koordinierungsstelle eingerichtet hat. In Deutschland haben das Verteidigungs- und das Verkehrsministerium das Thema ziemlich schnell aufgegriffen und sich überlegt, wie sich das alles besser vernetzen lässt, und ob das Maritime Sicherheitszentrum in Cuxhaven eine aktivere Rolle spielen sollte. Und es gibt die ersten Zusammenschlüsse zwischen den Anlieger-Staaten.

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