Elmo für Flüchtlingskinder: Wie neue Lernplattformen den Kleinen durchs Trauma helfen sollen
Neulich spielten ein paar Vorschulkinder, sie wären eine ihrer Lieblingsfiguren aus der Sesamstraße – die Babyziege Ma’zooza, die runde Dinge mag. Und sie spielten mit Tomaten: Die Kinder zählten bis fünf, versteckten eine Tomate und legten sie anschließend wieder zurück.
Ein scheinbar ganz normaler Moment im Leben eines Kindes, in dem es um Formen, Zahlen und Fantasie geht. Nur dass diese Version der Sesamstraße – Ahlan Simsim (Willkommen Sesam) – speziell für syrische Flüchtlinge maßgeschneidert ist; für Kinder, die in Lagern im Libanon leben, sonst keinen Zugang zu einer Vorschule und oft nicht einmal genug zu essen haben.
Pandemien, Klimakatastrophen und Kriege haben seit 2020 die Ausbildung nahezu jedes Kindes auf der Erde betroffen. Nach Angaben von UNICEF wurden 43,3 Millionen Kinder durch Konflikte und Katastrophen aus ihren Häusern vertrieben – eine Zahl, die sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat.
Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 4/2024 von MIT Technology Review erschienen. Darin beschäftigen wir uns damit, wie wir uns besser für Katastrophen wappnen können. Hier könnt ihr die TR 4/2024 bestellen.
Und dennoch, so Sherrie Westin, Leiterin der gemeinnützigen Organisation Sesame Workshop, die die Sesamstraße produziert, „fließen weniger als zwei Prozent der weltweiten humanitären Hilfe in die ersten Lebensjahre“, insbesondere in die Unterstützung von Betreuung und Bildung.
Pandemien, Klimakatastrophen und Kriege haben seit 2020 die Ausbildung nahezu jedes Kindes auf der Erde betroffen.
Das Programm Ahlan Simsim ist die bisher größte humanitäre Maßnahme, die speziell auf die Entwicklung von Kleinkindern ausgerichtet ist. Sesame Workshop hat sich mit dem International Rescue Committee (IRC), einer gemeinnützigen Organisation für humanitäre Hilfe, zusammengetan. Gemeinsam wollten sie einen 100-Millionen-Dollar-Fördertopf der MacArthur Foundation gewinnen.
Das Programm kombiniert von Sesame produzierte Videoinhalte mit Dienstleistungen des IRC. Das setzt vor Ort eine Crew aus Freiwilligen aus der betroffenen Gemeinde und professionellen Lehrern und Elternerziehern ein, die mit den Familien arbeiten. In den letzten Jahren haben zwei Millionen Kinder und ihre Betreuer Ahlan Simsim gesehen und koordinierte Dienste in Anspruch genommen. Einige dieser Dienste wurden vollständig über Mobiltelefone bereitgestellt. Weitere 25 Millionen Kinder sahen sich einfach nur die Sendung an.
Hiro Yoshikawa und sein Forscherteam an der New York University haben das Projekt wissenschaftlich begleitet. In einer randomisierten, kontrollierten Studie nahmen syrische Flüchtlingskinder an einem elfwöchigen reinen Fernlernprogramm teil. Es kombinierte Ahlan-Simsim-Videos mit Live-Unterstützung durch örtliche Vorschullehrer über Mobiltelefone. Die Kinder machten laut der Studie durch das Programm Lernfortschritte, die mit Ergebnissen vergleichbar waren, die in einem Jahr normaler Vorschule vor Ort erzielt werden.
Und die gemessenen Lernfortschritte waren nicht nur akademischer Natur. Die Kinder machten Fortschritte in ihrer allgemeinen Entwicklung, in der Lese- und Schreibfähigkeit, im Rechnen, in der Motorik, in den sozial-emotionalen Fähigkeiten und sogar in der Qualität des Spiels – etwa, wenn sie die Rolle der Ziege Ma’zooza einnahmen.
Die Forschenden schlossen daraus: 100-prozentiges Fernlernen kann kleinen Kindern in Krisensituationen helfen. Allerdings ist die im Mai 2023 veröffentlichte Studie noch nicht von Fachleuten geprüft worden. Nichtsdestotrotz wurde das Format bereits erfolgreich kopiert und bei anderen Krisen eingesetzt.
„Ich bin ziemlich beeindruckt“, sagt Kathy Hirsh-Pasek, eine Expertin für frühkindliche Entwicklung an der Temple University, die nicht an der Studie beteiligt war. Verglichen mit der Vorschule vor Ort „hat das wahrscheinlich nicht den vollen Nährwert“, warnt sie. „Aber gut gemacht – Kindern in dieser Umgebung überhaupt etwas zu vermitteln, ist fantastisch.“
Sesame und IRC hoffen, dass diese Art der ganzheitlichen Intervention den schwächsten Kindern der Welt helfen kann, mit toxischem Stress umzugehen – der Art Stress, die, wenn sie nicht kontrolliert wird, die Architektur eines sich entwickelnden Gehirns verändern kann. „Wir sehen so viele Kinder, die allein aufgrund der Umstände ihrer Geburt – in einer Krise oder einem Konflikt – kaum Chancen haben, ihr volles Potenzial auszuschöpfen“, sagt Katie Murphy, Direktorin für frühkindliche Entwicklung und strategische Initiativen beim IRC. „Mit unserer Arbeit versuchen wir, diesen Abstand zu verringern.“
Diskriminierung, Konflikte und Hunger
In einem Flüchtlingslager im landwirtschaftlich geprägten Bekaa-Tal im Ostlibanon sitzen Amal, Hana und Mariam in einem fast leeren Zelt auf einem Teppich. Hanas vierjähriger Sohn kuschelt sich an sie. Die Flüchtlingsmütter tragen Kopftücher und bunt gemusterte Gewänder. Sie haben an dem Programm teilgenommen.
Da sich die Wirtschaftskrise hier verschärfe, berichten die Mütter, fühlten sie sich von ihren libanesischen Nachbarn zunehmend angefeindet und manchmal auch diskriminiert. Sie seien nervös, wenn sie mit ihren UNHCR-Hilfskarten – die sie als Flüchtlinge ausweisen – im Supermarkt Lebensmittel kaufen. Und auch ihre Kinder würden manchmal schikaniert.
„Es gibt einheimische Kinder, die sagen: ‚Oh, ihr seid Syrer‘, und wollen mit ihnen kämpfen“, erzählt mir Sou’ad, eine geflohene Frau mit vier kleinen Kindern unter sieben Jahren. Sie arbeitet ebenfalls als Freiwillige für das IRC. „Das Gefühl der Zugehörigkeit ist wichtig. Die Kinder wissen nicht, zu welchem Land sie gehören – zum Libanon oder zu Syrien. Sie sagen: ‚Das ist nicht unser Land – das ist das Land dieser anderen Kinder, und deshalb bekämpfen sie uns.‘“
Syrer sind die größte vertriebene Bevölkerungsgruppe der Welt. Sieben von zehn Menschen sind bei Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 geflohen oder wurden aus ihren Häusern vertrieben. Die Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sind seit etwa einem Jahrzehnt hier; ihre Kinder wurden im Libanon geboren, aber sie haben weder einen festen Wohnsitz noch gibt es für sie einen Weg in die Staatsbürgerschaft.
Im August 2020 verschlimmerte eine gewaltige Explosion im Hafen von Beirut die brutale wirtschaftliche und politische Krise im Libanon. Das Land ist derzeit ohne Präsidenten, und die Spannungen haben durch den Krieg zwischen Israel und der Hamas noch zugenommen. Im Oktober 2023 litt ein Viertel der libanesischen Bevölkerung unter Nahrungsmittelknappheit, einschließlich 36 Prozent der syrischen Flüchtlinge.
Dieser Tage, so erzählen mir die Mütter im Lager, reiche das Geld nicht einmal mehr für Milch oder Labne, die lokale Joghurtvariante, sondern nur noch für Reis, Fladenbrot und ein wenig Za’atar-Gewürz zum Bestreuen. Achtjährige müssten auf den Feldern arbeiten, um etwas zu essen zu bekommen.