Physical AI: Wie dieses Startup KI in die echte Welt bringen will - t3n

KI ist mehr als ein Chatbot, sagt Ivan Poupyrev. Mit seinem Startup Archetype AI hat er eine sogenannte physische KI gebaut – sie soll ihre Umwelt beobachten und daraus lernen. Was vorerst für Unternehmen gedacht ist, soll uns am Ende dabei helfen, das Universum zu verstehen. Künstliche Intelligenz schreibt Texte für uns oder fasst sie zusammen, erstellt Bilder und Videos, kann Inhalte personalisieren und medizinische Daten auswerten. Alles praktisch, keine Frage, aber alles auch ziemlich digital. In der physischen Welt findet KI derzeit kaum statt. Physical AI soll durch Beobachtung lernen Das wollen Ivan Poupyrev und sein Team von Archetype AI ändern. Sie haben – so nennen sie es – eine physische KI mit Namen Newton entwickelt. Das Modell soll wie ein Mensch durch die Beobachtung seiner Umgebung lernen und eigenständig Rückschlüsse daraus ziehen, die es dann in natürlicher Sprache ausgibt. [crosslinks ids="1659006,1644226,1641327"] In kurzen Videosequenzen auf der Website von Archetype AI sieht das durchaus vielversprechend aus: Ein Mensch kocht eine Kanne Tee, während die KI jeden seiner Schritte korrekt identifiziert und in Untertiteln benennt. In einem anderen Beispiel verfolgt Newton den Weg eines Päckchens und verzeichnet, wenn es sich bewegt oder fallen gelassen wird. Die Idee scheint anzukommen: Amazon gehört zu den Investoren in das gerade einmal ein Jahr alte Startup, bei Infineon und Volkswagen wird bereits mit Newton gearbeitet. [caption id="attachment_1660827" align="alignnone" width="620"] Ivan Poupyrev (Mitte) und sein Team arbeiten an einer physischen KI, die durch Beobachtung lernen soll. (Foto: Archetype AI)[/caption] So ist es wohl auch kein Wunder, dass Poupyrev, CEO und CTO von Archetype AI, derzeit viel herumkommt. Wir treffen ihn Mitte September 2024 am Rande der Next Conference auf der Hamburger Reeperbahn – „wo sind wir denn hier gelandet?“, fragt er sichtlich amüsiert. Kurz darauf meldet er sich aus Seattle: Dort fand das Kickoff-Event des Generative AI Accelerators von Amazons Cloud-Sparte AWS statt, in den Archetype AI aufgenommen wurde. t3n: „KI ist heute auf einen Chatbot reduziert. Dabei sind die größten Probleme der Welt physischer und nicht digitaler Natur“, so steht es auf der Website von Archetype AI geschrieben. Was genau meinen Sie damit? Ivan Poupyrev: Zunächst möchte ich sagen, dass die Technologie hinter künstlicher Intelligenz sehr mächtig ist. Seit über 60 Jahren wird daran geforscht – aber für viele Menschen kam KI wie aus dem Nichts. Plötzlich gab es da etwas, das alle ausprobieren konnten. Aber das ist für die allermeisten eben nur ein Chatbot. t3n: Das ist doch aber nichts Schlechtes, oder? Nein, aber es bedeutet, dass die KI von heute auf den Informationen beruht, die wir im Internet finden, und die digitale Kommunikation findet in einer Sprache statt, die auf Text und den verschiedenen Modellen basiert. Das ist jedoch eine sehr begrenzte Weltsicht, denn in der echten Welt passieren ja viel mehr Dinge, die es nie ins Digitale schaffen. Die Modelle von heute können uns nur das sagen, was wir bereits wissen. t3n: Wie kann KI also in der echten Welt helfen? Sie kann uns helfen, das zu verstehen, was wir bisher nicht verstehen. Das reicht von den ganz großen Problemen wie dem Klimawandel über das Monitoring von Fabriken oder Wohnhäusern bis zu dem, was in unseren Körpern vor sich geht. Um das wirklich zu verstehen, muss man die echte Welt analysieren, Daten auswerten und miteinander verbinden und Wissen anwenden, das man vielleicht nicht im Internet findet. Weil es um ganz individuelle und einzigartige Situationen geht: Mein Problem ist nun mal mein Problem, das kann niemand sonst für mich lösen. t3n: Das erinnert an digitale Zwillinge und Predictive Maintenance, der vorausschauenden Wartung von Maschinen. Der Unterschied zu dem, was wir bauen, ist, dass das vertikale Modelle sind – sie sind gut in dem, was sie tun, aber sie können auch nur das, was sie tun. Jedes steht für sich. Wir hingegen arbeiten an einem horizontalen Modell, das skalierbar ist. t3n: Das klingt sehr abstrakt … Nehmen wir Google als Beispiel. Google hat keine Suche nur für medizinische Anfragen oder nur für Shopping gebaut, sondern eine Suchmaschine für alles, was Sie wissen wollen – das ist ein horizontales Modell. Das macht den Wert Googles aus. t3n: Sie haben Newton entwickelt, ein Large Behavior Model. Damit wollen Sie eine ähnliche Bandbreite wie Google abdecken? Ja, genau. Wir wollen eine Plattform bauen, die, sagen wir, 90 Prozent der Bedürfnisse von Unternehmen abdeckt. Den Rest erledigen die Unternehmen dann im Finetuning; dafür statten wir sie mit den entsprechenden Tools aus, damit sie das Modell für ihre Zwecke anpassen und trainieren können. „Unsere Vision ist es, dass die KI direkt von ihrer Umwelt lernt.“ t3n: Welche Bedürfnisse haben Unternehmen denn? Ganz wichtig ist, Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammenzubringen und auszuwerten, zum Beispiel einen abfotografierten Text, ein Video und ein paar Notizen auf einem Zettel. Unternehmen wollen aber auch menschliche Absichten und Handlungen verstehen, das spielt in der Mensch-Maschine-Interaktion eine große Rolle. Momentan läuft da noch vieles über Touchpads und Buttons – Services könnten viel intelligenter werden. t3n: Eine von Newtons Stärken soll es sein, „die versteckten Muster aufzudecken, die sich unserer Wahrnehmung entziehen.“ Welche Muster hat die KI denn schon gefunden? Okay, das ist vielleicht etwas ehrgeizig formuliert. Unsere Vision ist es, dass die KI direkt von ihrer Umwelt lernt, genauso wie Menschen durch Beobachtung lernen. Daher kommt auch der Name Newton: Der hat seine Umgebung beobachtet, den Apfel, der ihm auf den Kopf fiel, und daraus die Schwerkraft abgeleitet. Wir Menschen haben aber begrenzte Fähigkeiten, wir haben einen sehr eingeschränkten Blickwinkel und sind oft Experten für nur eine Sache. t3n: Da kommt das ins Spiel, was Sie Datenfusion nennen. Richtig. Newton bringt verschiedene Arten von ähnlichen Daten in Verbindung und untersucht, wie sie zusammenhängen. So sollen diese versteckten Muster zutage treten. Wir haben erste Experimente durchgeführt und in einem Paper veröffentlicht – die Ergebnisse lassen hoffen. t3n: Was haben Sie herausgefunden? Unsere KI erkennt zum Beispiel, wenn jemand kurz einen Raum verlässt, und stoppt dann automatisch den Film, der gerade läuft. Das funktioniert ohne menschlichen Input, Newton kann also durch Beobachtung lernen. t3n: Wie genau läuft das ab? Wir haben das Konzept der Fields, also Felder, eingeführt. Um jedes smarte Device herum gibt es ein Feld, und sobald sich jemand in dieses Feld begibt, sind bestimmte Interaktionen möglich. t3n: Das klingt praktisch – und ein bisschen gruselig. Wie sieht es mit dem Datenschutz aus? Datenschutz hat meiner Meinung nach zwei Dimensionen: Das eine sind die Trainingsdaten. Das andere ist die Inferenz, also die neuen Daten, auf deren Grundlage die KI Vorhersagen trifft. Das sind unterschiedliche Anwendungsgebiete, und es gibt mehrere Wege, an diese Daten zu gelangen. t3n: Wie kommt Archetype AI an Daten? Wir nutzen nur Daten, die keine persönlichen Informationen enthalten, und wir machen öffentlich, mit welchen Datensätzen wir arbeiten. Natürlich sammeln wir auch selbst Daten, vor allem für spezifische Sensoren. Und weil es dabei oft um physische Systeme, um Maschinen, geht, spielt der Datenschutz auch gar keine so große Rolle. Außerdem können wir auch viel mithilfe unserer Modelle simulieren. Aber es kommt immer auf den Use-Case an. t3n: Inwiefern? Wenn es zum Beispiel um die Arbeitssicherheit in einer Fabrik geht, ist es wichtig, die Menschen, die sich dort aufhalten, zu sehen. Nur so kann man sicherstellen, dass es keine Unfälle gibt oder jemand zu Tode kommt. Geht es um bestimmte Abläufe in oder zwischen Maschinen, spielen die Menschen keine Rolle und müssen auch nicht erfasst werden. „Ich hoffe, dass wir in Zukunft mithilfe von KI das gesamte Universum verstehen können.“ t3n: Ein großes Problem bei Chatbots oder Large Language Models sind Halluzinationen. Hat Newton dieses Problem auch? Um ehrlich zu sein, mag ich den Begriff „Halluzinationen“ nicht besonders, ich finde ihn etwas irreführend. t3n: Das müssen Sie erklären. Wenn man ein KI-Modell trainiert, kommt man früher oder später immer an den Punkt, an dem es keine oder eine falsche Antwort gibt. Das passiert überall in der Wissenschaft, dass Ergebnisse auch mal falsch positiv oder falsch negativ sind. Dort bezeichnen wir das aber nicht als Halluzination. Das Problem bei den LLM ist, dass sie rekursiv sind, Aufgaben also in kleine Teile zerlegen, um sie zu lösen. Wenn dabei ein Fehler passiert, vervielfältigt sich das und wirkt sich auf das Gesamtergebnis aus – das Modell halluziniert. Dabei spielt allerdings auch der Mensch eine Rolle. t3n: Welche denn? Prompts können vage sein, fehlerhaft, verwirrend, sich selbst widersprechen. Wir Menschen sind nicht gut darin, uns präzise auszudrücken. Das wirkt sich dann natürlich auch auf das KI-Modell aus, und es kommt zu Fehlern. Um Ihre Frage zu beantworten: Wir arbeiten mit der echten Welt, und da gibt es feststehende Gesetzmäßigkeiten. Solange wir sicherstellen können, dass die Datensätze korrekt und präzise sind, sind Halluzinationen kein Problem. t3n: Ein anderer Kritikpunkt an LLM und KI im Allgemeinen ist, dass sie sehr viele Ressourcen verbraucht. Wie umweltfreundlich ist Newton? Newton ist für Unternehmen ausgelegt, und die wollen das Modell für einen ganz bestimmten Zweck einsetzen, es muss also nicht alles können; es genügt, wenn es für die gewünschten Use-Cases zur Verfügung steht. Für den Betrieb genügen ein paar KI-Prozessoren, die gibt es schon für ein paar Tausend Dollar. Beim Kunden kommt nie das gesamte Newton-Modell zum Einsatz, sondern nur das, was er wirklich braucht. Das senkt den Energieverbrauch erheblich. t3n: Lassen Sie uns zum Schluss in die Zukunft blicken. Welche Rolle wird KI da spielen? Neben der Automatisierung sehe ich vor allem Human Augmentation, also die Verbesserung des Menschen durch Technik und künstliche Intelligenz. Wir haben fünf Sinne: hören, schmecken, riechen, fühlen und sehen. Mit KI können wir unsere Wahrnehmung deutlich verbessern, und das wiederum kann dabei helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, weil wir viel mehr Informationen zur Verfügung haben. Ich hoffe, dass wir in Zukunft mithilfe von KI das gesamte Universum verstehen können.