Abwasserbier und Zellfleisch: Ein Besuch in Singapur, dem Land der neuen Lebensmittel

Singapur ist ein Vorreiter im Bereich der neuartigen Lebensmittel, auch Novel Foods genannt. Dort steht auf der Speisekarte, was in Europa noch undenkbar wäre, zum Beispiel aus Zellen kultiviertes Fleisch und Bier, gebraut aus Abwasser. Wir waren da. Ein Dienstagabend in Singapur im Dezember 2022, das Thermometer zeigt 28 Grad. In einem Szenerestaurant mit Blick auf Singapurs Wahrzeichen, das Marina-Bay-Sands-Resort, werden vegane Burger gereicht, dazu Trüffelpommes und Bier, das erfrischend und fruchtig schmeckt. Nie würde man auf die Idee kommen, dass es sich dabei um ein Getränk aus Abwasser handelt. Doch genau das ist es. Das New Brew von der Singapurer Craftbeer-Brauerei Brewerkz wird aus sogenanntem New Water hergestellt, aufbereitetem Abwasser, das durch einen Recyclingprozess verzehrfähig gemacht wird. Inzwischen werden 40 Prozent von Singapurs Wasserbedürfnis durch New Water gestillt. Ein kleiner Teil davon fließt auch ins Leitungswasser. Als Novel-Food-Hub wurde Singapur spätestens im Dezember 2020 bekannt, als es als erstes Land weltweit Fleisch aus dem Labor – auch kultiviertes Fleisch genannt – zum Verzehr und Verkauf zuließ. Davon können die Menschen in Europa bislang nur träumen. Wo steht Europa? Zwar arbeiten Unternehmen wie Mosa Meat aus den Niederlanden oder Rügenwalder Mühle aus Deutschland ebenfalls an Fleisch aus Zellkultur, bei der Europäischen Kommission ist mit Stand vom Januar 2023 allerdings noch kein Antrag auf Zulassung von In-vitro-Fleisch gestellt worden. [crosslinks ids="1459924,1534540,1539395,"] Auch ein Abwasserbier gibt es bei uns noch nicht, dabei ist das laut Braumeister Marten Schmidt, Gründer von Craft Beverages, in der Theorie möglich – solange das aufbereitete Wasser den Anforderungen für Trinkwasser entspricht. Ein europäisches Projekt, das einen ähnlichen Ansatz verfolgt wie Brewerkz, stammt von der Carlsberg Group. Diese hat 2021 im dänischen Fredericia eine Wasseraufbereitungsanlage eröffnet, durch die 90 Prozent des beim Brauen verwendeten Abwassers wiederverwendet werden sollen. Doch an aufbereitete öffentliche Abwässer wie in Singapur traut sich auch Carlsberg nicht heran. Woher kommen also diese Risikobereitschaft und Innovationsfähigkeit? Not macht erfinderisch Singapur gilt als Vorreiter in der Produktion und dem Vertrieb von neuartigen Lebensmitteln. Das ist auch seiner Geschichte geschuldet, denn aufgrund seiner geopolitischen Lage ist der asiatische Stadtstaat seit jeher stark auf Importe angewiesen. Bis vor rund 20 Jahren mussten in Singapur nahezu alle Lebensmittel importiert werden, selbst Trinkwasser. Um die Abhängigkeit von anderen Ländern zu reduzieren, hat sich Singapur ein „30 by 30“-Ziel gesetzt: Das Land will bis 2030 insgesamt 30 Prozent seiner Nahrungsbedürfnisse selbst decken. Auf Singapurs Weg zu mehr Nachhaltigkeit und Unabhängigkeit in der Lebensmittelproduktion haben die Behörden neben der New-Water-Initiative beispielsweise Finanzierungsprogramme eingeführt, um das Wachstum und die Expansion lokaler Lebensmittelproduzent:innen zu unterstützen. So wurde 2021 ein mit 60 Millionen Singapur-Dollar (umgerechnet rund 42 Millionen Euro) ausgestatteter Fonds eingerichtet, um landwirtschaftliche Betriebe finanziell beim Auf- und Ausbau ihrer Produktionskapazitäten zu unterstützen. Zudem wurden über 23 Millionen Singapur-Dollar für Forschung und Entwicklung im Bereich der nachhaltigen städtischen Lebensmittelproduktion bereitgestellt. Angst vor einem Shitstorm „Die Angst vor einer negativen Reaktion der Öffentlichkeit ist immer groß“, sagt Wee Tuck Tan über die Markteinführung neuartiger Lebensmittel. Tan ist der Eigentümer und Executive Director von Brewerkz und hat den New-Brew-Launch federführend begleitet. New Brew sei entwickelt worden, um die Akzeptanz für das aufbereitete New Water zu erhöhen, denn „wie kann man die Genussfähigkeit von aufbereitetem Wasser besser unter Beweis stellen als mit Bier?“, meint Tan. 2018 hatte die Regierung dafür im Rahmen der Messe Singapore International Water Week zum ersten Mal mit Brewerkz zusammengearbeitet. Damals wurde nur eine kleine Menge für die Konferenzteilnehmer:innen produziert. [caption id="attachment_252220" align="aligncenter" width="620"] Wee Tuck Tan und sein Bruder Wee Han. (Foto: Brewerkz)[/caption] Die New-Brew-Neuauflage im Jahr 2022 anlässlich des 20. Geburtstags der New-Water-Initiative war deutlich größer: 10.000 Liter umfasste die limitierte Auflage, die in drei farbenfrohen Dosen-Designs verkauft wurde. Um möglichst viele Menschen zum Probieren zu bewegen, wurde der Preis subventioniert. Eine Dose Craftbeer kostet in Singapur regulär rund sieben Dollar (umgerechnet knapp fünf Euro), die Dose Abwasserbier wurde im Supermarkt für 4,50 Dollar verkauft (rund drei Euro). „Kultiviertes Fleisch wird ein Grundnahrungsmittel werden“, sagt Peter Yu von der APAC-Society for Cellular Agriculture. Das weltweite mediale Interesse am New-Brew-Launch sei enorm gewesen, erinnert sich Tan. Er sagt: „Die Menschen, die nicht aus Singapur kommen, waren geschockt.“ Für Singapurer:innen hingegen sei aufbereitetes Wasser „nichts Neues“. Gleichzeitig seien sich alle Seiten einig gewesen, dass die Wasseraufbereitung das einzig Logische in einer Welt sei, in der Trinkwasser zunehmend knapp wird. Tan begrüßt die Diskussion: „Wir müssen die Menschen dazu bringen, über die Verwendung von recycelten Lebensmitteln zu sprechen, um ihre Abneigung zu entkräften.“ Das New-Brew-Experiment habe gezeigt, dass die Menschen ihre Hemmungen gegenüber aufbereitetem Wasser verlieren, je mehr Informationen sie zu dem Thema haben. Das Mindset von Kiasu Auch anderen neuartigen Lebensmitteln gegenüber scheinen die Menschen in Singapur aufgeschlossener als anderswo. Mark Chong von der Singapore Management University erklärt das mit einem Konzept namens Kiasu. Der chinesische Begriff beschreibt „im Wesentlichen den Wunsch, nicht zurückzubleiben oder anderen voraus zu sein“, sagt Chong. Der Grund für die Offenheit sei das damit verknüpfte positive soziale Image, erläutert der Wissenschaftler, der Kommunikationskonzepte in Verbindung mit neuartigen Lebensmitteln untersucht. „Während es in vielen anderen Ländern psychologische Hürden gegenüber neuartigen Lebensmitteln zu geben scheint, gilt ihr Verzehr bei Menschen in Singapur nicht nur als normal, sondern sogar als etwas Erstrebenswertes.“ Chong hat sich auch die Einstellungen von Verbraucher:innen aus anderen Ländern zum Verzehr von kultiviertem Fleisch angeschaut: „Überraschenderweise sind die Verbraucher:innen in Singapur offener für Fleisch aus dem Labor als beispielsweise amerikanische Verbraucher:innen“, sagt er. Neben Kiasu sei das große Vertrauen in die Regierung ein weiterer Grund für die große Offenheit der Singapurer:innen gegenüber neuartigen Lebensmitteln. Als im Dezember 2020 das erste im Labor gezüchtete Hühnerfleisch in einem Singapurer Restaurant angeboten wurde, bezeichnete Josh Tetrick, CEO von Eat Just, das gegenüber der New York Times als „einen historischen Moment im Lebensmittelsystem“ und ergänzte: „Wir essen schon seit Tausenden von Jahren Fleisch, und jedes Mal, wenn wir Fleisch aßen, mussten wir ein Tier töten – bis jetzt.“ Hergestellt wurde das kultivierte Fleisch von Good Meat, einer Untermarke des in Kalifornien ansässigen Foodtech-Unternehmens Eat Just. Inzwischen kann man das kultivierte Fleisch in Singapur auch bei ausgewählten Metzgereien kaufen. Für die Massenproduktion hat Good Meat im Januar einen wichtigen Meilenstein erreicht: In Singapur darf der Hersteller auch Zuchtfleisch ohne tierisches Serum produzieren. Für das kommende Jahr plant das Unternehmen dort die Eröffnung einer neuen Produktionsanlage mit dem nach eigenen Angaben bislang größten Bioreaktor in der Kulturfleischindustrie. Novel Foods können Treibhausgase reduzieren und Ressourcen einsparen. In den USA, der Heimat von Good Meat, ist man dagegen noch nicht so weit. Im November 2022 wurde zunächst entschieden, ein Hühnerfleischprodukt aus Zellkultur für den Verzehr weiter zu prüfen. Und zwar nur ein bestimmtes vom US-Wettbewerber Upside Foods. Dieser hofft nach eigener Aussage darauf, noch 2023 die ersten Produkte in US-Restaurants anbieten zu können; bis es das Laborfleisch in amerikanische Supermarktregale schafft, könnte es allerdings 2028 werden. Europa hinkt hinterher Entwickelt wurde das erste Produkt aus zellbasiertem Fleisch dabei nicht in Singapur oder den USA, sondern in Europa. Im August 2013 präsentierten Professor Mark Post und sein Team von der Universität Maastricht den ersten kultivierten Rindfleischburger. Herstellungskosten: 250.000 Euro. Post arbeitet mit seinem Unternehmen Mosa Meat daran, In-vitro-Fleisch marktfähig zu machen. Perspektivisch soll der Preis auf unter zehn Euro pro Burger fallen. Zu den Investoren von Mosa Meat gehören Google-Mitgründer Sergey Brin sowie der deutsche Pharmakonzern Merck. Im Dezember 2022 gab das Unternehmen bekannt, dass die Produktionsanlage in den Niederlanden ausgebaut wird. Mit einer Größe von über 7.000 Quadratmetern soll dort der „größte Campus für kultiviertes Fleisch“ entstehen. [caption id="attachment_252204" align="alignnone" width="1200"] Foodtech-Unternehmen nutzen Singapur als Testfeld für ihre Produkte: von Bier aus Abwasser bis zu Hühnchen aus dem Labor. (Abbildung: Good Meat)[/caption] Wann es das Fleisch von Mosa Meat im Supermarkt zu kaufen geben wird, ist allerdings noch immer offen. In Deutschland arbeitet beispielsweise die Rügenwalder Mühle, auf europäischer Ebene die Stiftung Respectfarms an einer Machbarkeitsstudie zur Herstellung von zellbasiertem Fleisch. „Hersteller von Laborfleisch bereiten sich darauf vor, […] erste Schritte in Richtung EU-Zulassung zu unternehmen. Bis sich entsprechende Produkte im Markt finden lassen, werden aber sicher noch einige Jahre vergehen“, schätzt Bernhard Burdick von der Verbraucherzentrale NRW. Das liegt am komplexen Zulassungsprozess von neuartigen Lebensmitteln. In Europa fällt kultiviertes Fleisch als Lebensmittel aus Zell- und Gewebekulturen unter die sogenannte Novel-Food-Verordnung – sofern es nicht im Einzelfall als gentechnisch veränderter Organismus eingestuft werde, wie Florian Kuhlmey vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit erläutert. Die Novel-Food-Verordnung ist einmalig in der Welt. Einmalig strikt. Bis es zur Zulassung von neuartigen Lebensmitteln kommt, müssen eine Reihe kritischer Tests bestanden werden. Und das dauert. Laut Kuhlmey müssen Hersteller mit einer Bearbeitungszeit von rund zwei Jahren rechnen. Die Genehmigung eines neuartigen Lebensmittels erfolge nur, wenn dessen gesundheitliche Unbedenklichkeit festgestellt werden kann. „Ich persönlich glaube, dass Europa bei der Zulassung von In-vitro-Fleischprodukten hinter den USA und Asien zurückbleibt“, sagt Peter Yu, Program Manager bei der in Singapur beheimateten APAC-Society for Cellular Agriculture. „Obwohl die EU Pionierarbeit bei der Ansiedlung großer Unternehmen in der Branche geleistet hat, rechne ich damit, dass asiatische Länder wie Korea, Japan und möglicherweise China die Führung bei den regulatorischen Entwicklungen übernehmen werden – nach dem Vorbild von Singapur.“ Klimachance Novel Foods Dabei haben Novel Foods großes Potenzial, Treibhausgase zu reduzieren und einen Beitrag zum Erreichen der Klimaziele zu leisten. Eine im August 2022 veröffentlichte Studie der Universität Oxford, in der mittels Algorithmus die Umweltfolgen von mehr als 57.000 verarbeiteten Lebensmitteln untersucht wurden, zeigte beispielsweise, dass Fleischersatzprodukte in der Regel nur ein Zehntel bis ein Fünftel der Umweltauswirkungen ihrer fleischbasierten Äquivalente aufweisen – bei gleichzeitig besseren Werten im Nutrition Impact Score, also der Bewertung, wie nahrhaft ein Produkt ist. Für den Vergleich wurden allerdings keine kultivierten Fleischprodukte, sondern Fleischersatzprodukte aus Soja, Weizen oder Pilzfasern verwendet. Neben geringeren Umweltauswirkungen kann Fleisch aus dem Labor auch Ressourcen einsparen. „Fleisch war schon immer ein Produkt, das eine enorme Menge an Rohstoffen erfordert. Um ein Kilogramm Fleisch herzustellen, braucht es bis zu zehn Kilogramm Getreide. Jetzt, in Zeiten der Knappheit, fordert das seinen Tribut“, erklärt Pablo Moleman von der niederländischen Nichtregierungsorganisation Proveg. „Auf lange Sicht wird kultiviertes Fleisch ein Grundnahrungsmittel werden“, sagt Peter Yu von der APAC-Society for Cellular Agriculture. „Aber es braucht Zeit, um das Lebensmittelsystem zu verändern.“ Und Geld. Denn derzeit seien die kleinen Produktionsmengen noch deutlich energieintensiver und damit teurer als herkömmliche Fleischproduktion. Yu schätzt, dass es neben kultiviertem Fleisch auch viele Hybridformen geben werde. Singapur hat sich jedenfalls vorgenommen, das Innovationstempo im Novel-Foods-Bereich hoch zu halten. Im zweiten Halbjahr 2023 soll dort ein sechs Millionen US-Dollar teures Innovationszentrum für Hybridfleisch eröffnen. Investitionen in das Projekt stammen von dem niederländischen Unternehmen Meatable und der Singapurer Pflanzenfleischerei Love Handle. Bis 2024 wollen sie ihre hybriden Fleischprodukte wie Schweinebauch, Frikadellen, Aufschnitt und Pasteten auf die Speisekarten der lokalen Restaurants bringen. Bis 2025 sollen die Produkte im Supermarkt verkauft werden. Und das Abwasserbier? Aufgrund der positiven Resonanz will Brauer Tan für Nachschub sorgen. Bis auf eine kleine Restmenge sei das Bier nach kurzer Zeit ausverkauft gewesen.