Immersion geht durch die Nase: Wann können wir in VR endlich riechen?

Virtuelle Welten wollen uns eine alternative, selbst gewählte Lebenserfahrung bieten. Unsere Avatare können wir bis ins kleinste Detail auf uns abstimmen. Doch eine zentrale Sache fehlt: Wir riechen nichts. Auf der Spielemesse Gamescom 2016 hat es ordentlich gerochen. Nicht nur, weil sich Hunderttausende Menschen bei hochsommerlichen Temperaturen durch die Messehalle schoben. Nein, an einem Stand war der Geruch besonders penetrant. Das Spiel „South Park: Die rektakuläre Zerreißprobe“ von Ubisoft wurde mit einem speziellen Gimmick vorgestellt. Probanden konnten sich ein Gerät um den Kopf schnallen – die Nosulus Rift als Persiflage des VR-Headsets Oculus Rift. Um voll in die virtuelle Welt des Spiels eintauchen zu können, erzeugte die Apparatur einen Duft, der den Spielenden direkt in die Nase stieg. Jedes Mal, wenn die Spielfigur einen Furz abließ, kam genau dieser Geruch aus der Nosulus Rift. Ein absurder Publicity-Stunt, um Werbung für ein ebenso absurdes Spiel zu machen. Diese unerhörte Begebenheit ist jetzt schon sechseinhalb Jahre her – zeigt aber eine noch immer klaffende Lücke auf. In all unseren digitalen und virtuellen Fortschritten fehlt der Geruch. Wir können Dinge sehen und hören. Selbst die Haptik, das Erspüren durch Vibrationen oder Widerstände, wird immer ausgefeilter. Nur unsere Nase wird bei all dem nicht in Anspruch genommen. Dabei ist der Geruchssinn auf ganz besondere Weise in unserem Gehirn verankert und könnte zu einem mächtigen Tool für viele Branchen werden. Das Metaverse, das uns alle in einer gigantischen virtuellen Welt verbinden soll, ist noch immer ein abstraktes Konstrukt, das bisher kaum jemand wirklich ausprobiert hat. Wir sitzen bisher nicht mit unseren Virtual-Reality-Headsets in unseren Wohnungen, um mit ihrer Hilfe in selbst zusammengestellten virtuellen Welten zu leben. Und ob wir jemals an einen solchen Punkt kommen (wollen), steht in den (virtuellen) Sternen. Aber auch abseits des Metaverses hat unsere immer digitalere und virtuellere Welt Folgen für unser Geruchserlebnis. Das zeigt die Werbung für eine milliardenschwere Branche: Parfum. In Zeiten von abnehmenden Absätzen bei Druckerzeugnissen wie Mode- oder Lifestylemagazinen, denen Duftproben beigelegt werden können, werden Parfums fast nur noch über teure Werbekampagnen angepriesen, die ganz auf das Gesicht einer prominenten Person setzen. Auf Websites und in Fernseh- oder Kinowerbung läuft eine Schauspielerin im Satinkleid durch einen von Kerzen erleuchteten Ballsaal. Oder ein Schauspieler mit nacktem Oberkörper liegt auf seiner Jacht und schaut hinaus auf das weite, schillernde Meer. Es soll ein Gefühl verkauft werden, ein Lifestyle. Die Botschaft: Wenn ihr dieses Parfum tragt, könnt ihr auch so leben. Oder zumindest das Gefühl haben, auch so leben zu können. Ein machtvoller Sinn Freilich ist dieser psychologische Kniff effektiv. Aber eigentlich wäre ein anderes Verkaufsargument noch naheliegender: der Geruch als solcher. Wie wäre es, wenn wir vor unseren Fernsehern sitzen würden und beim Schauen der Werbung den Duft des Parfums in der Nase hätten? „Gegen Geruch können wir uns kaum wehren“, sagt Professor Christian Lohr, Abteilungsleiter der Neurophysiologie der Universität Hamburg. Er erforscht, wie das Gehirn bei Säugetieren Geruchsempfinden verarbeitet und welche Prozesse dabei ablaufen. „Der Geruch ist ein ganz besonderer Sinn. Er ist direkt mit dem Großhirn verbunden. Alle anderen Sinne laufen erst über den Hirnstamm, es ist sozusagen noch eine Station dazwischen“, erklärt er. Unser Geruchssinn ist also direkt mit dem Zentrum des Gehirns verbunden. Dadurch können Düfte Menschen direkt in eine Situation zurückversetzen, die sie vor Jahren erlebt haben. „Von Gerüchen werden in der Großhirnrinde Muster hergestellt. Die sind verknüpft mit Erinnerungen oder Emotionen“, sagt Lohr. Wird das Muster wieder aufgerufen, kommen die Erinnerungen und Emotionen gleich mit. So kann der Geruch von Kartoffeln und Äpfeln einen direkt in den Keller der Großmutter zurückversetzen, wie man ihn in der Kindheit erlebt hat. Oder der Geruch von einem bestimmten Waschmittel an die Geborgenheit erinnern, die man in der familiären Waschküche empfunden hat. Der Geruchssinn hat Macht über unser Empfinden. Im Positiven wie im Negativen. Er lässt uns Geborgenheit fühlen oder Ekel spüren. Zieht uns zu Menschen hin oder stößt uns von ihnen ab. Nur wenig davon ist eine biologische Konstante. „Geruch wie faulendes Fleisch empfindet wohl jeder als widerlich, denn das kann tödlich sein“, sagt Wissenschaftler Lohr. Die meisten Empfindungen in Bezug auf Geruch sind jedoch konditioniert. „Es gibt Käsesorten, die riechen für viele ekelerregend. Käsekenner aber finden die besonders schmackhaft“, erklärt er. Weil das Riechen so stark mit Erinnerungen und Gefühlen verbunden ist, ist die eigene Wahrnehmung von Geruch wiederum stark von diesen Erfahrungen geprägt. Vieles läuft dabei unbewusst ab. Das heißt, dass wir uns nicht bewusst darauf konzentrieren müssen, Gerüche wahrzunehmen. Vielmehr nehmen wir sie automatisch auf und reagieren entsprechend. Beispielsweise kann der Duft von frischem Kaffee uns munter machen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. „Selbst beim Schlafen ist der Geruchssinn als einziger Sinn nicht ausgeschaltet. Darum werden wir etwa sehr schnell wach, wenn wir Rauch riechen“, sagt Lohr. [caption id="attachment_252148" align="alignnone" width="620"] Per Bluetooth können Nutzer:innen das Ion von OVR Technology mit VR-Headsets, Smartphones oder PCs verbinden – über eine App wird dann festgelegt, welche Gerüche das Tool generieren soll. (Abbildung: OVR Technology)[/caption] Geruch auf Knopfdruck Diese Aspekte unseres Geruchssinns zeigen, wie effektiv Gerüche in vielen Branchen genutzt werden könnten. Wie kann es also sein, dass dieser Sinn bisher im Virtuellen kaum ernsthaft angesprochen wird? Seit Jahren wird zwar an Technologien gearbeitet, aber ohne durchschlagenden Erfolg. Bisher zumindest. Da ist zum Beispiel das Ion, ein Wearable der Firma OVR Technology. Dabei handelt es sich um ein Gerät, das um den Kopf getragen wird und einen Output hat, aus dem Gerüche kommen. In verschiedenen Ausführungen kann das Ion Teil eines VR-Headsets sein, oder als Standalone getragen werden. Per Bluetooth können Nutzer das Wearable mit dem Smartphone, dem PC oder dem VR-Headset verbinden. Ebenso gibt es eine App, über die Gerüche gemischt und ausgegeben werden können. „Gegen Geruch können wir uns kaum wehren.“ Angepriesen wird die Technologie als Möglichkeit, die Emotionen von Menschen anzusprechen. Eine auswechselbare Kartusche mischt Primärgerüche und soll so in der Lage sein „Tausende einzigartiger, digital nativer Düfte“ zu kreieren. „Unser Leben ist zunehmend digital, was bedeutet, dass ein Großteil unserer sensorischen Eingaben von der Technologie gesteuert wird, anstatt natürlich und spontan zu erfolgen. Wir können diese Lücke schließen, indem wir unseren Geruchssinn einbeziehen und digitale Erlebnisse emotional ansprechender, immersiver, realistischer und effektiver gestalten“, heißt es. Besonders im Hinblick auf das Metaverse soll der Geruch also der Baustein sein, um Menschen mit allen Sinnen ansprechen zu können. Eine kommerziell verfügbare Version des Wearables soll in diesem Jahr erscheinen. An den Universitäten in Malmö und Stockholm wurde derweil an einer Geruchsanzeige gearbeitet, die an den Hand-Controller des VR-Headsets HTC Vive angedockt werden kann. Die Wissenschaftler:innen veröffentlichten kürzlich ein Paper mit dem genauen Aufbau dieses Geräts. Der Aufsatz besteht aus vier Reservoirs, die jeweils flüssige Geruchsstoffe beinhalten. Diese werden, je nach Situation im Spiel, in einem bestimmten Verhältnis gemischt. Drücken die Spieler:innen einen Trigger am Controller, wird ein Ventilator aktiviert, der die Geruchsmischung ausstößt. In einem VR-Game, das ebenso in dem Paper beschrieben wird, stiegen die Teilnehmenden in einen virtuellen Keller, um an einer Weinverkostung teilzunehmen. „Die Aufgabe besteht darin, nacheinander sechs Gläser aufzuheben, den Auslöser auf der Handsteuerung zu drücken, um die Gerüche freizusetzen, und den Inhalt zu erraten“, heißt es. In der Beschreibung des Versuchs werden interessante Verhaltensweisen beobachtet. Etwa, dass Teilnehmende versuchen, die Gläser zu schwenken, um den Geruch besser freizusetzen. Ganz so, als wäre der Wein real. „Wir interpretieren dieses Verhalten als Zeichen der Immersion und des aktiven Erkundens“, heißt es in dem Paper. Der Geruch wird kommen – oder? Die synthetische Herstellung von Geruch speziell für virtuelle und digitale Zwecke ist also bereits weit fortgeschritten. Auch mögliche Anwendungsgebiete gibt es viele. Für die Medizinbranche können Geruchsanwendungen einen großen Nutzen haben. Etwa in der Traumaaufarbeitung, in der Geruch eine wichtige Rolle spielt, um Flashbacks bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung zu behandeln. Oder Menschen, die durch eine Covid-19-Infektion ihren Geruchssinn verloren haben. Ein Equipment, das in Sekundenschnelle einen von Hunderten potenziellen Düften in hoher Potenz herstellen kann, ist bei einem Geruchstraining sehr nützlich. Naheliegend sind auch Videospiele, wie sie die Wissenschaftler:innen der Universitäten Malmö und Stockholm vor allem im Visier hatten. Die Möglichkeit, in die virtuelle Realität abzutauschen und die Welt nicht nur lebendig vor sich zu sehen – sondern sie auch zu riechen. „Ich fände es fantastisch, in einem tollen Film im Kino zu sitzen und den auch über den Geruch wahrnehmen zu können. Das würde so viel mehr geben“, sagt der Neurophysiologe Christian Lohr. Er ist sich sicher, dass entsprechende Geräte in nicht allzu weiter Zukunft massenhaft erhältlich sein werden. Größtenteils sieht er diese Entwicklung positiv. Der Wissenschaftler hat jedoch auch Bedenken. Vor allem mit Blick auf eine Branche: die Werbung. Weil der Geruchssinn so eine Macht über unsere Emotionen hat – bewusst und unbewusst –, hätte eine Werbeindustrie, die Gerüche im Wohnzimmer der potenziellen Konsument:innen freisetzt, ungeahnten Einfluss auf unsere Entscheidungsgewalt. Automarken arbeiten etwa daran, dem Innenleben ihrer Autos einen ganz speziellen Duft zu geben. Ein neu gekauftes Auto soll nicht nur nutzwertig sein – es soll zu einem Image passen, zu der Identität der Käufer:innen. So arbeiten Geruchsforscher:innen in Labors daran, Neuwagen einen Geruch zu geben, der mehr ist als eine arbiträre Mischung aus Metall, Leder oder Kunststoff. Es sollen Wohlfühlgerüche sein, die eine emotionale Reaktion hervorrufen. Noch muss man dafür zu einem Autohändler fahren und sich in einen Neuwagen setzen. Bald könnte dieser Geruch direkt in die Nasen der Menschen strömen, die sich eine Autowerbung im Fernsehen anschauen. Der Geruchssinn hat Macht über unser Empfinden. „Allerdings wird das nur funktionieren, wenn dieser Geruch dicht am Körper ausgestoßen wird“, sagt Forscher Lohr. Ein Kino, in dem Geruch über Raumventilatoren verbreitet wird oder Fernseher mit kleinen Geruchsöffnungen – das wäre nicht funktional. „Der Geruch muss binnen Sekunden in der Nase ankommen, um mit dem gerade Gesehenen in Verbindung gebracht zu werden“, so Lohr. Das gehe eben nur mit einem Aufsatz, der bestenfalls direkt an der Nase sitzt. Und damit sind wir wieder auf der Gamescom 2016 und dem Grund, wieso wir im Virtuellen immer noch so wenig riechen. Es ist der Grund, wieso VR-Headsets – anders als etwa Smartphones oder Smartwatches – trotz vieler Versprechungen und Prophezeiungen noch längst nicht im Mainstream angekommen sind: Sie sind umständlich und unbequem. Niemand will für Stunden eine klobige und verkabelte Brille vor den Augen haben. Und niemand wird für Stunden einen klobigen Aufsatz vor der Nase tragen wollen. Zumal die Geruchskartuschen, ähnlich wie beim Drucker, ständig nachgekauft werden müssten. Zumal das Beispiel von „South Park: Die rektakuläre Zerreißprobe“ auch das andere Extrem zeigt. Keine wohlriechenden Düfte, die uns zum Kauf eines Produkts animieren. Sondern abstoßender Gestank, der den Nutzenden binnen Sekunden zum Beenden des Spiels motivieren würde. Geruch kann sehr schnell penetrant werden. Besonders, weil unsere Geruchssinne höchst individuelle Muster haben. Und wer die Nase voll hat, wird sich das Gerät von der Nase reißen. So wird der Geruch wohl erst dann Einzug in unsere virtuellen Welten halten, wenn die Geräte, die ihn produzieren, auf ein Minimum geschrumpft sind. Und wenn die Gerüche, die sie produzieren, so subtil wie nur möglich sind. Bis dahin müssen wir wohl noch selbst in einen Neuwagen steigen, um uns diesen Autogeruch in die Nase zu ziehen. Oder wir steigen auf ein Fahrrad und riechen die Düfte der Natur. Ganz natürlich.

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